Ein wundersames Gefühl von Aufbruch

In Romanen über das Erwachsenwerden wurden lange vor allem Jungs erwachsen. Nun erzählen Autorinnen mit einer neuen Radikalität vom Leben als junge Frau. Drei nachdrückliche Empfehlungen.

Von Christine Lötscher, 25.02.2021

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Coming of Age: Alle Bilder zu diesem Beitrag stammen aus dem Langzeit­projekt «Zoe» der Fotografin Anne Gabriel-Jürgens.

Sie kommen gerade aus allen Himmels­richtungen: Romane, in denen weibliche Erfahrungen neu erschlossen werden. Dabei schlagen sie ganz unterschiedliche Tonalitäten an.

Wütend, zwischen Selbstmitleid und Selbst­ironie schwankend, gepfeffert mit scharfzüngigem Witz, lässt Candice Carty-Williams ihre junge schwarze Ich-Erzählerin in «Queenie» schildern, was sie sich an einem ganz gewöhnlichen Tag in London alles gefallen lassen muss – und was sich dagegen tun lässt.

Die israelische Autorin Liat Elkayam nimmt in ihrem ebenfalls 2020 erschienenen Roman «Aber die Nacht ist noch jung» den weiblichen Körper und das weibliche Begehren unter die Lupe, rauschhaft, torkelnd, in drei Akten: Hochzeits­nacht, Geburt, Seitensprung.

Und eines der literarischen Ereignisse dieses Winters ist die Kopenhagen-Trilogie der dänischen Autorin Tove Ditlevsen, die bereits zwischen 1967 und 1971 entstand, nun aber zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurde. Mit einer ungeheuren Präzision legt sie frei, wie viel Verantwortung für Männer und Kinder sie auf sich laden musste, um sich das Schreiben heraus­nehmen zu dürfen.

Gerade weil jeder Roman seine ganz eigene Ausdrucks­form hat – mal anklagend, mal hedonistisch –, sticht der gemeinsame Nenner umso mehr ins Auge: Die Autorinnen untersuchen schonungslos das Private, sezieren entschlossen das Intime – und finden darin immer schon das Politische vor. Letztlich geht es in diesen Büchern darum, die Kampf­zonen auszuloten, in denen Frauen sich nach wie vor zu bewähren haben, und darum, was das für ihr Leben bedeutet.

Die Pointe: Diese Kampfzonen befinden sich keineswegs nur in der Welt da draussen. Sondern sie reichen hinein in den eigenen Körper.

Zu den Büchern

Candice Carty-Williams: «Queenie». Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shane. Blumenbar, Berlin 2020. 544 Seiten, ca. 32 Franken.

Tove Ditlevsen: Kopenhagen-Trilogie, Band 1 bis 3: «Kindheit» / «Jugend» / «Abhängigkeit». Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau, Berlin 2021. 118 / 154 / 176 Seiten, pro Band ca. 27 Franken.

Liat Elkayam: «Aber die Nacht ist noch jung». Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Kunstmann, München 2020. 352 Seiten, ca. 37 Franken.

Wiederentdeckt: Tove Ditlevsen

Wie so oft in der Literatur entsteht durch aktuelle Entwicklungen eine neue Perspektive auf ältere Texte, und es leuchten darin Qualitäten auf, die man bisher kaum gesehen hat. Gerade darum begeistert seit kurzem eine literarische Wieder­entdeckung deutschsprachige Leserinnen und Leser.

Genauer gesagt, sind es gleich drei zusammen­gehörige, autobiografische Romane mit der bezeichnenden Titelfolge «Kindheit», «Jugend» und «Abhängigkeit».

Sie stammen von der dänischen Autorin Tove Ditlevsen (1917–1976), die zu Lebzeiten ein treues Publikum hatte, im deutsch­sprachigen Raum aber, trotz vereinzelter Übersetzungen, ganz in Vergessenheit geraten war.

Der erste Band, im Original von 1967, beginnt mit einer Urszene aus der Kindheit der Autorin. Wie Ditlevsen das fragile Einvernehmen von Mutter und Tochter beschreibt, das jeden Augenblick in Entfremdung und Feindseligkeit kippen kann, verschlägt einem den Atem – und ebenso atemlos verfolgt man über insgesamt 450 Seiten hinweg, wie sie sich langsam daraus löst, ohne aber je ganz frei zu werden von der bedrückenden Atmosphäre ihrer Kindheit:

Die Seemannsbraut an der Wand hielt weiter sehnsuchtsvoll nach ihrem Mann Ausschau, aber meine Mutter und ich brauchten keine Männer oder Jungen in unserer Welt. Unser unergründliches und ungeheuer zerbrechliches Glück gedieh nur, wenn wir miteinander allein waren, und seit ich aufgehört hatte, ein kleines Kind zu sein, kehrte es nie richtig zurück, abgesehen von seltenen, zufällig aufblitzenden Momenten, die mir jedoch sehr wertvoll geworden sind, jetzt, da meine Mutter tot ist und es niemanden mehr gibt, der ihre Geschichte erzählen könnte, wie sie wirklich war.

Dass Tove Ditlevsen gerade jetzt wiederentdeckt wird, ist kein Zufall. Denn die Trilogie, in der die Autorin ihren Weg vom Arbeiter­kind zur erfolgreichen, aber in unglückliche Liebes­beziehungen verwickelten Autorin schildert, ist ein eindrückliches Stück Autofiktion – also Literatur, die ganz direkt aus dem eigenen Leben schöpft. Damit trifft Ditlevsen, bald fünfzig Jahre nach ihrem Tod, einen Ton, der bei der heutigen Leserschaft erst so richtig auf Resonanz stösst. Ihre Romane fallen in ein literarisches Umfeld, in dem die Sensibilität für weibliche Lebens­geschichten ausserhalb der privilegierten Schichten viel ausgeprägter ist als noch vor ein paar Jahren.

Ditlevsens schonungslose Beschreibung des Arbeiter­milieus, in dem sie aufgewachsen ist, ihr genauer Blick für den Alltag von Frauen und Mädchen, für ihre Körperlichkeit und ihre Gedankenwelt, für all die Demütigungen, die man ihnen mit grösster Selbst­verständlichkeit zumutet, erinnert an andere wichtige Stimmen autofiktionalen Schreibens. Tatsächlich wird Ditlevsen mit der ebenso genauen wie unsentimentalen Annie Ernaux verglichen und als wohltuender Gegenpol zur exzessiven Selbst­bespiegelung eines Karl Ove Knausgård gelesen.

Ähnlich wie bei Ernaux gibt es auch bei Ditlevsen etwas, was die Leserin ganz unmittelbar berührt; dieses Gefühl, wie zum ersten Mal so präzise und so treffend zu lesen, was es bedeutet, als Mädchen mehr zu wollen als das, was für einen vorgesehen ist. Eine Zukunft als Ehefrau eines «zuverlässigen Handwerkers, der den Wochenlohn direkt nach Hause bringt und nicht trinkt», hängt wie eine Todes­drohung über Tove, die schon als kleines Kind nichts anderes wollte als schreiben – in einem Zimmer für sich allein. Die Anspielung an Virginia Woolfs berühmten Essay «A Room of One’s Own» (1929) zeigt, dass Lebens­geschichten von Frauen, die sich den Freiraum zum Schreiben schaffen, zwar nicht neu sind. Es braucht aber wohl noch sehr viele davon, bis sich ein Gewebe daraus bilden kann, das vielstimmig und dicht genug ist, um neben der Gattung des männlichen Entwicklungs­romans bestehen zu können.

Zu den Bildern in diesem Beitrag

Vor zwölf Jahren änderte sich das Leben der Fotografin Anne Gabriel-Jürgens schlagartig. Sie zog mit dem Vater der damals neunjährigen Zoe zusammen, war plötzlich Stiefmutter: «Ich lernte ungewollt, wer oder was gerade ‹fame› oder ‹hobbylos› ist, und bekam mit, was Justin Bieber gerade durchmacht. Ich durfte die Veränderung vom Kind zu einer pubertierenden Jugendlichen bis hin zu einer jungen Erwachsenen miterleben», schreibt Anne Gabriel-Jürgens. Sie begann die Entwicklung ihrer Stieftochter zu dokumentieren, woraus ein Langzeit­projekt zum Thema «Coming of Age» wurde. Daraus stammen sämtliche Bilder in diesem Beitrag, demnächst soll das Projekt auch als Buch erscheinen. In einem Essay, der im Buch publiziert wird, schreibt die Journalistin Nicole Althaus: «Seite um Seite, Bild um Bild entwickelt sich vor den Augen des Betrachters ein Kind zu einer Persönlichkeit. Und weil wir alle auch einmal Teenager waren, schaut man bei dieser Verpuppung und Verwandlung auch sich selber zu.» Anne Gabriel-Jürgens arbeitet als Fotografin auch für zahlreiche Medien, darunter die Republik, für die sie unter anderem die Serie von Sascha Rijkeboer fotografisch begleitet hat.

Denn der Entwicklungs­roman, ebenso wie die Coming-of-Age-Erzählung in der Tradition von Salingers «The Catcher in the Rye» (1951), unterstellte zwar immer universelle Erfahrungen; diese waren aber im Grunde spezifisch für männliche Protagonisten mit ihren Träumen von einem erotischen und künstlerischen Selbst.

Sicher, auch Coming-of-Age-Erzählungen von Frauen sind seit Simone de Beauvoirs «Memoiren einer Tochter aus gutem Hause» (1958) zahlreich, und tatsächlich haben sich schon viele Autorinnen ästhetisch am Entwicklungs­roman abgearbeitet. Weibliche Coming-of-Age-Literatur aber spielte sich lange in bürgerlichen, weissen Milieus ab, während für Mädchen aus Arbeiter­familien oder mit Rassismus­erfahrung der Imperativ «hübsch aussehen und Klappe halten» weitaus gnadenloser galt als für Privilegierte.

Was Ditlevsens Trilogie, obwohl vor Jahrzehnten geschrieben, so aktuell macht, ist ihr Blick auf die spezifischen Heraus­forderungen und Hindernisse, denen nicht privilegierte Mädchen begegnen. Andere Dimensionen weiblicher Lebens­erfahrung werden plötzlich sichtbar.

In Dänemark wurde das Stimm- und Wahlrecht für Frauen 1915 eingeführt. Für die Frauen in Ditlevsens Trilogie sind solche gesellschaftlichen Fortschritte aber kaum spürbar, denn die dichtende Tove, so begabt sie auch sein mochte, wurde von ihrem Umfeld in erster Linie als ein Kind der Arbeiter­klasse gesehen. Dass ein Mädchen, das ein ganzes Poesie­album voller selbst geschriebener Gedichte versteckt hält, gefördert werden müsste, kommt Eltern und Lehrern überhaupt nicht in den Sinn. Obwohl der Vater ein grosser Leser ist, fällt ihm dazu nur ein Satz ein, der sich wie ein böses Mantra in Tove festsetzt: Mädchen können nicht Dichter werden.

Ditlevsen erzählt konsequent, ohne zu werten oder zu kommentieren, ja ohne auch nur ein einziges Mal psychologische Zusammen­hänge heraus­zuarbeiten. Der rote Faden ist einzig ihr Wunsch, in Ruhe schreiben zu können. Bereits als junge Erwachsene feiert sie grosse Erfolge mit ihren Romanen und kann schon bald vom Schreiben leben. Geschafft hat sie es ganz aus eigener Kraft, gerade indem sie, was das Literarische anging, auf niemanden hörte. So verzichtete sie auch darauf, sich systematisch Bildung anzueignen, wie ihr von ihrem ersten Ehemann dringend nahegelegt wurde.

Ihre Tragik liegt darin, dass sie glaubte, ein möglichst normales Frauenleben, mit Mann, Kind und Haushalt, könne ihrer Kunst so etwas wie einen magischen Schutz­schild bieten. Doch mit jeder ihrer Ehen verstrickt sie sich tiefer in Abhängigkeiten; in der dritten Ehe mit dem Arzt Carl T. Ryberg sogar in eine schwere Medikamentensucht.

So wirft Ditlevsens Trilogie ein grelles Licht auf die gegenwärtigen Debatten rund um Arbeits­verteilung in hetero­sexuellen Partnerschaften und in Familien. Obwohl die freie Liebe schon zur Zeit der Entstehung der Trilogie ein grosses Thema war und Scheidungen ebenso wie Patchwork-Familien bereits an der Tages­ordnung waren, wurde die Rolle der Frau als Dienst­leisterin im Alltag nicht ernsthaft hinterfragt.

Damit passt Ditlevsens Schreiben zu der Radikalität, mit der heute schreibende Autorinnen das dominante Spannungs­feld weiblicher Biografien ausschreiten: zwischen Begabung, Ehrgeiz und beruflichem Erfolg einerseits. Und der andererseits immer noch allgegenwärtigen, wenn auch oft unausgesprochenen Anforderung, als Frau möge man sich doch in besonderer Weise für die Care-Aufgaben in der Familie zuständig fühlen: Die eigene Arbeit ist schön und gut – wenn Mann und Kinder erst mal versorgt sind.

Ähnliche Fragen kommen etwa in Brit Bennetts «Die verschwindende Hälfte» oder Bernardine Evaristos «Mädchen, Frau etc.» zur Sprache. Doch am deutlichsten stellen derzeit die Bücher von Carty-Williams und Elkayam diesen Aspekt ins Zentrum.

Empowerment auf allen Ebenen: Candice Carty-Williams

Queenie, der Ich-Erzählerin im gleichnamigen Roman­erstling der Britin Candice Carty-Williams, geht es ein wenig ähnlich wie Tove Ditlevsen – mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie erst kreativ werden kann, als sie ihre eigene Stimme findet und ihr Privat­leben so gestalten kann, dass es sie in ihrer Entwicklung unterstützt. Das heisst konkret: Finger weg von Männern, fürs Erste.

Begeisterte Kritiken legten Queenie das Label der «schwarzen Bridget Jones» um, was aber nur insofern passt, als Queenie sich zunächst ebenfalls die falschen Männer aussucht, ein Flair für Fettnäpfchen hat und das Ganze, zumindest vordergründig, mit Selbstironie betrachtet.

Doch gerade die leicht schuldbewusste Form der Selbstironie wird von Carty-Williams als weibliche Anpassungs­leistung dekonstruiert. Was ihre Heldin Queenie braucht und auch findet, ist eine direkte, freche, popkulturell verspielte Alltags­sprache, um zu beschreiben, was es heisst, als junge schwarze Frau auf ihren Körper reduziert zu werden.

Carty-Williams lässt ihren Roman­erstling denn auch an einem Ort beginnen, der ausgesprochen symbol­trächtig für die Schnittstelle von weiblichem Körper und sozialer Kontrolle steht, literarisch jedoch bislang wenig bespielt ist: Queenie, 25 Jahre alt und in einer akuten Krise, seit ihr Freund sie verlassen hat, ist im Begriff, sich auf einem gynäkologischen Untersuchungs­stuhl zu platzieren.

«Könnten Sie mit Ihrem Po auf der Liege bitte gaaanz nach vorn rutschen?», bat mich die Ärztin. Ich schob mich zentimeter­weise näher an ihr Gesicht. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie die das schaffen.

«Tief einatmen, bitte!»

Sie sagte das ein bisschen zu fröhlich und schob dabei ohne Vorwarnung etwas in mich rein, das sich anfühlte wie der am wenigsten ergonomische Dildo der Welt. Dann bewegte sie ihn wie einen Joystick in mir herum. Dazu legte sie noch eine kalte Hand auf meinen Bauch, drückte sie alle paar Sekunden nach unten und verzog, jedesmal wenn ich quiekte, den Mund. Um mich von diesem Rumgestocher in meinen Innereien abzulenken, checkte ich mein Handy.

Queenie erfährt, dass sie trotz Spirale eine Fehlgeburt hatte. Doch die Bauch­schmerzen, die sie überhaupt in die Klinik geführt haben, werden trotz Behandlung schlimmer. Queenie, wie die kurze Szene ahnen lässt, ist Expertin darin, schmerzliche Situationen ins abgründig Humoristische zu drehen. Und so überantwortet sie sich einer selbst­zerstörerischen Kur, von der sie wiederum haarsträubend unterhaltsam und zugleich entlarvend zu erzählen weiss. Queenie stürzt sich ins Online-Dating und sucht sich dabei ganz besonders gewalt­bereite, frauen­feindliche und rassistische Männer aus.

Ihr Sexleben macht sie zur Dauer­patientin in der Gynäkologie, Abteilung Geschlechts­krankheiten. Dort wird ihr nahegelegt, sich besser um ihren Körper zu kümmern, während man ebendiesen Körper gerade fachmännisch verwaltet und vermisst. Doch mit Unterstützung ihrer Freundinnen, deren Whatsapp-Nachrichten den Roman mit einer zusätzlichen Tonspur unterlegen, findet sie am Ende eine Sprache, um sich gegen Übergriffe zu wehren und über ihre Erfahrungen mit Alltags­rassismus zu reden.

In ihrem Konflikt mit dem vermeintlich braven, sehr britischen Tweed-Träger Ted wird deutlich, wie sehr sexuelle Übergriffe gegen schwarze Frauen Teil eines strukturellen Rassismus sind. Ted stalkt Queenie am Arbeitsplatz, bedrängt und belästigt sie – und fordert trotzdem mit der grössten Selbst­verständlichkeit Queenies Verständnis und Fürsorge ein.

Und dann, als Ted sich wieder einmal erklären will, wird nicht nur deutlich, sondern auch sagbar, was Queenie zu Beginn noch nicht sehen konnte:

«Lass uns doch reden. Ich muss dir das erklären, bitte. Ich muss das tun.»

«Genau! Du musst das für dich tun. Hier geht’s nicht um mich», sagte ich, und Panik stieg wieder in mir auf. «Es geht immer um dich. Ich war immer nur ein Bedürfnis, das du befriedigen wolltest, das ist mir jetzt klar. Bitte lass mich in Ruhe. Und wenn du mich nicht loslässt, schreie ich.»

«Sorry.» Er liess meinen Arm los. «Siehst du nicht, wozu du mich bringst?»

«Nein, ich bringe dich zu gar nichts. Das bist du selber. Du fixierst dich auf irgendwelche Sachen und gierst nach immer neuer Erregung, bis du hast, was du willst, Ted.»

Verloren im Augenblick: Liat Elkayam

Auch Liat Elkayams Roman «Aber die Nacht ist noch jung» ist ein Debüt, das sich um den weiblichen Körper und seine Erfahrungen dreht. «Dreht» ist hier ganz wörtlich gemeint, denn im ersten Teil, der mit dem Beginn der Flitter­wochen in der Hochzeits­nacht einsetzt, hat die Braut eine unübersichtliche Anzahl von Whiskeys im Blut. Im zweiten, dem stärksten Teil des Romans wankt dieselbe Frau ein paar Jahre später verloren zwischen ihrem Spitalbett, der Milchabpump-Kabine und dem Inkubator hin und her, in dem ihre viel zu früh geborene Tochter liegt.

Die Protagonistin ist an einem erfolgreichen Start-up beteiligt und hat eine wilde Party­jugend hinter sich. Doch davon erfahren wir so richtig erst im dritten Teil des Romans, in dem sie, ein paar Jahre später, in einer wilden Clubnacht aus dem Alltag ausbrechen will. Mittlerweile führt sie nämlich das perfekte Leben als Chefin, Mutter und Ehefrau – allerdings auch das, ohne so recht zu wissen, wer sie ist. In der Clubnacht spricht sie deshalb mit sich selbst, als sei sie zwei Personen. Dabei kommt es immer wieder zu Momenten rauschhafter Selbst­erkenntnis, wenn das Ich sich an sein Du wendet:

Wie viele Frauen in deinem Alter und deiner Lebenslage hast auch du deine Selbstsicherheit, was Sexualität angeht, völlig verloren. Du hast keine Ahnung, ob du überhaupt noch begehrenswert bist. Deine Sorge ist typisch und banal; ich hingegen bin besorgt, weil ich mich lange Zeit immer wieder selbst daran erinnern musste, dass ich ein sexuelles Wesen bin, ohne dass du mich in irgendeiner Weise darin unterstützt hättest.

In der Gebärabteilung allerdings verschwimmen die Konturen ihrer Persönlichkeit ganz und gar. Im ersten Teil war sie eine namenlose Braut; jetzt hat sie gar keinen eigenen Namen mehr; sie figuriert unter dem Namen ihres Ehemanns nur noch als «Schneider, die Mutter von». Und Schneider, ganz auf ihre Funktion als Milch­spenderin reduziert, verzweifelt an den Heraus­forderungen der Abteilung für Frühgeburten:

Schneider verzichtet beim nächsten Mal aufs Stillen, sie pumpt nur ab und reicht ihrer Tochter frustriert die Flasche. Sie schäumt vor Wut, während das Frühchen enthusiastisch nach der Plastikbrust schnappt, widerstandslos und willig die Milch schluckt. Offenbar hat sich die Weltordnung umgekehrt. Angeblich soll Stillen doch das Einfachste und Leichteste sein, eben das Natürliche, das alles Mechanische überflüssig macht: Man legt das Baby an die Brust und fertig. Und doch siegt am Ende das Plastik. Die Zukunft liegt im Plastik, in Pumpen, Schläuchen, einem Brustimitat, das nicht mal auf Natur­materialien basiert. Damit viel dummes Zeug auf unserem Planeten übrig bleibt, wenn die Säugetiere einst verschwunden sind.

Fast wie einen Horrortrip evoziert Liat Elkayam dieses Wochenbett-Gefühl, auf eine Funktion reduziert zu sein, auf die man nicht vorbereitet ist. Weil nichts von dem eintritt, was man als Mutter nach einer Geburt fühlen zu müssen glaubt.

Das Gefühl des Scheiterns an einer elementaren Weiblichkeit, die inmitten von Maschinen und Plastik­schläuchen plötzlich als «ganz natürlich» behauptet wird, überlagert alles.

Die Pointe des Romans liegt darin, dass es Schneider nicht gelingt, die unterschiedlichen weiblichen Lebens­bereiche in einen sinnvollen Zusammen­hang zu bringen – weil es ihn nicht gibt. Der Effekt von Elkayams Assemblage aus Hochzeits­nacht, Wochen­bett und Club ist umso stärker, weil die Protagonistin feministische Theorie sehr wohl zu kennen scheint und ihre eigenen Erfahrungen auch durchaus in einem gesellschaftlichen Zusammen­hang analysieren kann. Doch sie ist, wenn man sie einer feministischen Fraktion zuordnen wollte, eher eine Vertreterin der Girl-Power-Bewegung, bei der es darum geht, sich die weiblichen Zuschreibungen anzueignen und die Rolle als «Frau» mit allen einschlägigen Accessoires lustvoll zu spielen. Wobei Elkayam eindrücklich schildert, wie schnell dieses Spiel wieder in Abhängigkeit kippen kann, solange es sich innerhalb gängiger Rollen­klischees bewegt.

Die Konflikte und Hindernisse, an denen Tove Ditlevsens autobiografisches Künstlerinnen-Ich sich aufreiben musste, sind auch Jahrzehnte später noch da – wenn auch verwandelt und weniger sichtbar an der Oberfläche. Dafür entstehen neue und aufregende literarische Formen – die einem beim Lesen ein wundersames Gefühl von Aufbruch geben.

Zur Autorin

Christine Lötscher hat sich als Literatur­kritikerin in Printmedien und im Fernsehen einen Namen gemacht. Heute ist sie Professorin für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Sozial­anthropologie und Empirische Kultur­wissenschaft der Universität Zürich. Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Mensch und Natur in der Literatur sowie mit Coming-of-Age-Erzählungen. 2020 erschien ihr Buch «Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populär­kultur» im Metzler-Verlag. Für die Republik schrieb sie unter anderem über Peter Handke und war Gast im «Buchclub».

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