Welchen Weg schlägt er als Nächstes ein? Franklin D. Roosevelt blieb als US-Präsident unberechenbar und war immer für überraschende Wendungen gut. Fünf Porträts, ca. 1941. Keystone Features/Hulton Archive/Getty Images

Theorie und Praxis der politischen Furcht­losigkeit

Kein Wunder, interessiert sich Präsident Joe Biden für Präsident Franklin D. Roosevelt. Als dieser seine Präsidentschaft antrat, war Amerika ein abgebrannter Knallfrosch. Als er starb, hatte es einen Weltkrieg gewonnen – und eine technicolorbunte Zukunft. Wie macht man so was?

Von Constantin Seibt, 20.02.2021, Update: 22.02.2021

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Am Vorabend der Amts­einführung des neuen Präsidenten war nach einer Panik das Banken­system zusammengebrochen.

Im ganzen Land: Schlangen. Die, die noch etwas zu verlieren hatten, standen vor den verrammelten Banken. Und die, die das bereits hinter sich hatten, vor den Suppenküchen.

Am Morgen blies in Washington ein eisiger Wind. Der künftige Präsident versammelte sein künftiges Kabinett zu einem kurzen Gottes­dienst, was ein Minister mit dem Satz kommentierte: «Wenn je wer ein Gebet gebraucht hat, dann wir.»

Ein Mitglied fehlte. Der designierte Justiz­minister war auf der Reise nach Washington gestorben.

Die Fahrt zum Kapitol war keine ganz leichte Sache. Als sein Vorgänger zu ihm ins Auto stieg, versuchte der neue Präsident Konversation zu machen, aber sein Vorgänger sprach fast kein Wort. Er hielt den Neuen für einen Stümper.

Der neue Präsident schwenkte seinen Zylinder, weil es sonst nichts zu tun gab. Am Ende der Fahrt montierte er zwei kiloschwere Eisen­gestelle an seine Beine, damit er bei seiner Rede stehen konnte. Er war seit über zehn Jahren keinen einzigen Schritt aus eigener Kraft gegangen.

Er schaffte es, auf den Arm seines ältesten Sohns gestützt, ans Rednerpult. Er sagte: «Lassen Sie mich also zuerst meiner festen Überzeugung Ausdruck geben, dass wir nichts zu fürchten haben als die Furcht selbst.»

Und etwas später sagte er: «Dieses Land braucht – und wenn ich Amerika richtig verstehe, verlangt es auch – fortgesetztes, gewagtes Experimentieren.»

Kein Wunder, las Präsident Barack Obama vor seiner Amts­einführung einen Stapel Biografien über Franklin Delano Roosevelt. Kein Wunder, kopiert aktuell Präsident Joe Biden das Tempo von Roosevelts ersten hundert Tagen.

Denn Obama kam inmitten der Finanz­krise ins Weisse Haus. Biden muss mit einer Pandemie, einer Wirtschafts­krise und einer in fast jeder Frage gespaltenen Nation klarkommen.

Roosevelt wurde zum Vorbild, weil die Lage aussichtslos schien. Als er im März 1933 seine erste Antritts­rede hielt, war Amerika ruiniert. Nach dem Börsen­crash 1929 brachen fast 10’000 von 25’000 Banken zusammen. 15 Millionen Amerikaner waren arbeitslos – fast 25 Prozent der arbeitenden Bevölkerung.

«Falls Ihr Programm Erfolg hat», sagte ihm ein Besucher, «werden Sie der beste Präsident der amerikanischen Geschichte sein. Wenn es schiefläuft, der schlechteste.»

«Wenn es schiefläuft», antwortete Roosevelt, «bin ich der letzte.»

Der Poker und die Ferien

Im Grunde hätte seine Präsidentschaft bereits nach einer Woche scheitern können: Denn das verbliebene Banken­system war zusammengebrochen.

Sein Vorgänger, Herbert Hoover, riet dem Nachfolger, noch am ersten Tag offiziell auf die meisten Wahl­versprechen zu verzichten. Um durch eiserne Sparsamkeit das Vertrauen der Märkte wiederherzustellen.

Roosevelt entschied sich für ganz anderes. Für eine Poker­partie mit dem höchsten denkbaren Einsatz: den verbliebenen Bank­einlagen der USA.

Das Spiel begann sofort nach der Ankunft im Weissen Haus. Noch am Nachmittag schwor der Präsident sein Kabinett ein: unüblich schnell und ohne jede Zeremonie – mit einem Grinsen und einem Handschlag.

In der folgenden Sitzung beauftragte der Präsident seinen erst an diesem Morgen ernannten Justiz­minister, irgendeine Lösung zu finden, wie «die Bundes­regierung die Banken übernehmen» könnte.

Der Minister erwähnte ein obskures Gesetz aus dem Jahr 1917, in dem es um die Untersuchung von Währungs­spekulation ging.

Der Präsident war begeistert. Die Juristen arbeiteten die Nacht durch. Am nächsten Morgen verkündete Roosevelt die Schliessung aller Banken bis übernächsten Montag. Der Name für diesen beispiel­losen Eingriff der Zentral­regierung in die Privat­wirtschaft klang maximal harmlos: bank holiday, «Bankenferien».

Die Bank macht Ferien – und die Kundinnen müssen draussen bleiben. World History Archive/Keystone

Dabei war es das Gegenteil von Ferien. Man musste – zum ersten Mal seit dem Bürger­krieg – den Kongress zu einer Sonder­sitzung zusammen­trommeln, bis Donnerstag ein Gesetz erarbeiten – und dann bis Montag­morgen mehrere tausend Banken auf ihre Kredit­würdigkeit prüfen.

Fast niemand in der Regierung sah in dieser Woche ein Bett. Ein Strom von Experten, Politikern, Bankern zog durch das Weisse Haus, darunter auch die Erzfeinde der Partei: die Banker und republikanischen Minister. Das Gesetz wurde dreissig Minuten vor der Deadline fertig. Zum Vervielfältigen blieb keine Zeit. Es kam nur in einem einzigen Exemplar in den Kongress, wo ein Abgeordneter es schwenkte und die Parlamentarier schrien: «Abstimmen!»

Sogar der republikanische Fraktions­chef stimmte dafür: «Das Haus brennt, und der Präsident braucht das zum Löschen.» Neun Stunden nach seiner Fertig­stellung war das Gesetz durch. Nun wühlten sich Hunderte Prüfer durch Tausende Bankbilanzen.

Niemand zweifelte, dass grobe Fehler gemacht würden. Einige seriöse Institute würden geschlossen werden, einige faule Eier überleben. Aber darum ging es nicht.

Was zählte, war das Vertrauen. Falls die Amerikanerinnen am Montag­morgen erneut die Banken stürmen würden, wäre das Land erledigt.

Roosevelt entschied sich für maximale Entspanntheit. Er berief seine erste Presse­konferenz ein und sagte den Reportern, sie könnten fragen, was sie wollten. Das war verblüffend neu: Unter Präsident Hoover hatten Fragen schriftlich gestellt werden müssen. Nun herrschte ein nahezu freundschaftlicher Ton. Zum Thema, ob es überhaupt möglich sei, 15’000 Banken in einer Woche zu überprüfen, sagte Roosevelt: «Man hat mich gewarnt, dass ich Unmögliches versuche. Aber ich will es versuchen.» Und später sagte er noch mit einem Grinsen: «Ich lerne gerade ziemlich viel über Banking.»

Die Presse war entzückt.

Am Sonntagabend hielt Roosevelt als erster Präsident der USA eine Radio­ansprache. Es war vielleicht eine der wichtigsten Reden, die je ein Politiker hielt, denn es ging um alles. Und eine der ungewöhnlichsten: Sie kam in Form einer Plauderei am Kamin­feuer daher. «Meine Freunde», begann der Präsident seine Ausführungen, um später zu sagen: «Ich will Ihnen erklären, was wir in den letzten paar Tagen gemacht haben, warum wir das machten – und was als Nächstes folgt.» Danach erklärte er locker, ohne irgendwelche Fachworte, das Prinzip einer Bank – dass die Spargelder nicht gehortet, sondern für Kredite vergeben würden. Und dass auch gesunde Banken ein gleichzeitiges Abheben nicht überleben würden. Und dass sich deshalb die Regierung nun solide von kranken Banken trennen würde – und dass die vertrauens­würdigen ab Montag wieder öffnen würden. «Ich gebe Ihnen mein Wort, dass es ab jetzt sicherer ist, sein Geld auf einer Bank statt unter einer Matratze zu haben.»

Als am nächsten Morgen die ersten Banken wieder öffneten, hielt das halbe Land die Luft an. Dann kam die befürchtete Nachricht – vor den Schaltern warteten im ganzen Land lange Schlangen.

Und dann kam die unerwartete Nachricht: Die Leute standen Schlange, um einzuzahlen. Bis zum Abend lag eine Milliarde Dollar mehr als vorher auf den Konten.

Die Börse hüpfte zum ersten Mal seit Jahren: um 15 Prozent. Und der Präsident hatte die Chips gewonnen, die er brauchen würde, um die USA zu verändern wie kein Politiker vor ihm.

Der Sohn aus gutem Hause

Dass ausgerechnet der aristokratisch aufgewachsene Roosevelt eine neue Sorte von Reden erfand, die das Ziel hatten, dass «der Maurer auf dem Bau, das Mädchen hinter dem Schalter, der Farmer auf dem Feld» ihn verstehen sollte, war sehr typisch für ihn.

Ebenso, dass das Banken­gesetz den progressiven Flügel seiner Partei bitter enttäuschte: Sie hatten auf Enteignungen gehofft.

Nicht ohne Grund wurde er auch «die Sphinx» genannt. Roosevelt war und blieb verblüffend unberechenbar. Niemand wusste, was er als Nächstes tun würde.

Er selbst war stolz darauf. Und beschrieb sich als «Jongleur, dessen linke Hand die rechte nicht wissen lässt, was sie tut».

Kein Schritt mehr ohne Hilfe: Franklin D. Roosevelt besucht im September 1933 sein Elternhaus in Hyde Park, New York. Martin McEvilly/NY Daily News Archive/Getty Images

Roosevelt war in der Tat ein verblüffender Mensch: ein Patrizier, der zum Gegner der eigenen Klasse wurde, ein opportunistischer, kaltblütiger Idealist, ein Träumer mit Augenmass, ein entspannter Gelähmter, der sich bei jeder Rede unter heftigen Schmerzen mit Eisen­schienen aufrecht hielt, ein Poker­spieler, ein Ketten­raucher, ein Staatsmann und ein Kind: «Vielleicht ist er nie wirklich erwachsen geworden», sagte sein Leibarzt nach seinem Tod.

Er wuchs in einer Welt auf, die er später zu zerstören half: in der Welt der Super­reichen. Franklin war das einzige Kind einer New Yorker Patrizier­familie, die grosse Liebe seiner Mutter. Die gesamte Kindheit sah er fast nur sie, das Personal der enormen Villa und vor allem den riesigen Park am träg dahin­treibenden Hudson. Diese erste Liebe prägte ihn fürs Leben. Nichts schien je die Zuversicht seiner frühen Jahre zu erschüttern. Kein Wunder, fürchtete er nichts ausser der Furcht selbst.

Und noch etwas lernte er, wie viele geliebte Söhne: Heimlichkeit. Schon früh führte er sein Tagebuch in Geheim­schrift – ein sicheres Indiz, dass er annahm, seine Mutter würde es lesen. Bei aller Nähe würde ihm nie jemand ins Herz sehen.

Eine Kindheit lang war er so gut wie nie auf Kinder getroffen – er wurde zu Hause erzogen, und als er dann mit vierzehn in ein Internat kam, war es ein Schock. Er fing sich zwar. Aber er war ein mittel­mässiger Schüler, ein unauffälliger Student und ein uninspirierter Anwalt. Niemand kam bis zu seinem 28. Geburtstag auf die Idee, mehr in ihm zu sehen als einen hübschen Jungen. Man hielt ihn für Dekoration.

Das Einzige, was das Bild störte, war die Wahl der Gattin: Der nette Junge langweilte sich mit den fröhlichen Debütantinnen und verliebte sich in seine entfernte Cousine Eleanor Roosevelt. Sie war völlig anders als die anderen Mädchen. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern war sie in ein englisches Internat abgeschoben und dort zur Feministin erzogen worden. Sie interessierte sich nicht im Geringsten für Klatsch oder Kleider. Sondern für die soziale Frage.

Als Männer noch strickten: Eleanor und Franklin Roosevelt als junges Ehepaar im Jahr 1906. Corbis/Getty Images

Als Franklin in Harvard studierte, mietete seine Mutter ein Haus am Rand des Campus, um ihrem Sohn nahe zu sein. Er sah sie oft und schrieb ihr fast täglich. Aber nicht alles. Als er ihr seinen Entschluss zur Hochzeit ankündigte, fiel sie aus allen Wolken.

Der Einzige, der von der Ehe begeistert war, war der damalige amerikanische Präsident: Eleanors Onkel Teddy Roosevelt, ein Republikaner, der bei der Hochzeit auch den Braut­führer machte und gut gelaunt sagte: «Es gibt doch nichts Schöneres, als wenn der Name in der Familie bleibt.»

Franklins Mutter arrangierte sich mit den Tatsachen. Und schenkte dem jungen Paar eine vierstöckige Stadt­wohnung in New York. Wobei sie selbst die Nachbars­wohnung bezog – und in jedem der vier Stock­werke eine Verbindungs­tür einbauen liess.

Der Politiker mit dem Auto

Mit 28 bekam Franklin D. Roosevelt endlich das Angebot, für das er geboren war. Die Chefs der Demokratischen Partei boten ihm eine Kandidatur für den Senat des Staats New York an.

Es war keine ganz ernste Sache. Ganz offen­sichtlich war Roosevelt nur wegen des Namens ausgewählt worden. Und der Sitz war seit über 25 Jahren fest unter der Kontrolle der Republikaner.

Nachdem er zugesagt hatte, spazierte Roosevelt als Erstes zum Gärtner­häuschen des Familien­anwesens. «Mr. Roosevelt, Sir?», fragte der Gärtner. Worauf sein Arbeit­geber antwortete: «Nennen Sie mich Franklin.» Und fortfuhr: «Ich brauche Ihren Rat. Was soll ich tun, wenn ich in die Politik gehe?»

Der Gärtner war der Erste. Am Ende des Wahlkampfs hatte der Kandidat mit fast allen Leuten im Bezirk gesprochen. Roosevelt hatte sich als erster Politiker weit und breit dazu entschlossen, den Wahlkampf in einem Auto zu machen (und war auch einer der wenigen, die sich ein Auto überhaupt leisten konnten) – einem roten. Damals, 1910, galten Autos wegen der häufigen Pannen noch als unzuverlässig. «Kauf dir ein Pferd», riefen die Bauern, wenn sie wieder eines im Strassen­graben sahen.

Dafür garantierte das Auto bei jedem Stopp einen Volks­auflauf. Roosevelt hatte ein gewinnendes Lächeln, hörte vor allem zu und versprach mehreren tausend Leuten, 24 Stunden, 365 Tage für sie zu kämpfen. Er gewann mit einem Erdrutsch.

Der Rest der Karriere verlief fast traum­wandlerisch: Er folgte schlicht seinem entfernten Cousin Theodore Roosevelt, der 1901 bis 1909 für die Republikaner Präsident war. Wie Teddy liess sich Franklin ins Parlament von New York wählen, wie Teddy arbeitete Franklin (er während des Ersten Weltkriegs) als Staats­sekretär der Marine. Wie Teddy im Jahr 1900 kandidierte Franklin 1920 recht jung als Vizepräsident.

Er galt als Star der Demokratischen Partei, nicht zuletzt, weil er ein harter Kämpfer gegen die Korruption war: in der Partei selbst wie gegen reiche Gönner. «Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist zu gross, er muss geringer werden», erklärte er. «Und wer für sein Brot nicht sorgen muss, ist dabei freier. Wer von unten kommt, macht bittere Erfahrungen und liebt die Menschen weniger. Aufsteiger haben Ressentiments, ich nicht.»

Dann, mitten in den Sommer­ferien, knickten am Morgen des 10. August 1921 beim Rasieren Roosevelts Beine ein, am nächsten Tag war er von der Brust an gelähmt. Die Ärzte brauchten Monate, bis sie die Kinder­lähmung diagnostizierten – die schwerste seiner vielen, auffällig heftigen Infektions­krankheiten. Wie der Autor Alan Posener in seiner Biografie schreibt, vermuteten Ärzte später, dass Roosevelt als Kind derart behütet war, dass sein Immun­system mit den Krankheits­erregern nie in Kontakt gekommen war.

Roosevelt kämpfte sieben Jahre lang Tag für Tag darum, wieder normal laufen zu können. Dann gab er auf. Bei öffentlichen Auftritten simulierte er das Gehen nur noch, gestützt auf einen Vertrauten. Er tat nie wieder einen Schritt ohne Hilfe.

Obwohl seine Ärzte es ihm verboten, bewarb er sich 1928 als Gouverneur von New York. Wo nötig, liess er sich mit einem Kran in den Wahlkampf­saal hieven. Er gewann knapp. Und war zurück im Geschäft.

Die Höllenmaschine

Am 24. Oktober 1929 krachte in New York die Börse zusammen; Tage später waren 10 Milliarden Dollar vernichtet, die ersten Banker stürzten sich aus den Fenstern. Drei Jahre später wuchsen die Slums in den Städten.

Ihre Bewohnerinnen tauften sie «Hoovervilles» – nach dem amtierenden Präsidenten Herbert Hoover.

«Irgendeine ungeheure Gewalt ist in den Mechanismus gefahren», schauderte der republikanische Präsident Herbert Hoover und arbeitete achtzehn Stunden am Tag, während alles immer schlimmer wurde.

Was war passiert? Rückblickend lag es an einem intellektuellen Problem. Hoover reagierte mit den republikanischen Rezepten: Er sparte, um das Budget auszugleichen, im Übrigen vertraute er den Selbst­heilungs­kräften der Wirtschaft.

Dabei übersah er eine Höllen­maschine: Die Währung der USA war damals wie viele andere mit Gold gedeckt. Der Staat verpflichtete sich, jederzeit für Dollars Gold herauszugeben. Die Noten­bank musste also riesige Mengen davon horten. Und wenn die Leute zu viel Gold eintauschten, musste man dieses wieder hereinholen. Die Notenbank machte dies, indem sie die Zinsen erhöhte: Dann lohnte sich Bargeld, und die Leute tauschten zurück.

Letzte Zuflucht für Arbeitslose nach dem Börsencrash: Die Slums einer «Hooverville» in Seattle, Bundesstaat Washington (März 1933). The Granger Collection/Keystone

Nach dem Crash passierte nun Folgendes: Aus Angst tauschten Millionen ihre Dollars gegen Gold. Dadurch musste die Notenbank die Zinsen Runde um Runde erhöhen. Mitten in der Krise wurden Kredite dadurch teurer und teurer und die Schulden immer drückender – ein tödliches Gift für eine angeschlagene Wirtschaft.

Hoover sah es nicht, weil er an das Dogma der Stabilität glaubte: stabile Budgets, stabile Wechselkurse.

Er glaubte – wie viele konservative Regierungen nach ihm –, dass Prinzipien­treue der Regierung beim Budgetieren bei der Wirtschaft für Vertrauen sorgte. So, dass diese wieder investieren würde. Doch das klappte nie.

Gegen Ende brach Hoover sein Tabu und versuchte etwas Neues: Investitions­programme. (Das kühnste nannte man knapp zwanzig Jahre später nach diversen Namens­wechseln definitiv «Hoover-Damm».) Aber es war zu spät und zu wenig.

Roosevelt hatte die Krise erhofft. «Die Geschäfts­welt ist nicht an einer sauberen Regierung interessiert, solange die Börsen­kurse steigen», schrieb er 1929, wenige Monate vor dem Crash. «Solange man sie in Ruhe lässt, sind sie mit republikanischer Kontrolle zufrieden.» Nach dem Platzen der Blase aber hoffe er, dass die Demokratische Partei «eine gesunde Radikalität» besitze, die sie wieder an die Macht führe.

Im Wahlkampf 1932 versprach Roosevelt als konkreteste Massnahme einen kräftigen Drink. Durch die Aufhebung des nationalen Alkohol­verbots. Der Rest interessierte niemand. Sein Vize, John Nance Garner, sagte: «Im Grunde müssen Sie nur am Leben bleiben, um diese Wahl zu gewinnen.»

Nur: Was danach?

Die Buchstabensuppe

Wie sich zeigte, hatte Roosevelt ebenfalls keinen Plan. Aber eine Methode: sich dadurch nicht aufhalten zu lassen.

Einige der bestechendsten Merkmale des Politikers Roosevelt zeigten sich schon in der Bankenaffäre:

  1. In der Krise etwas tun.

  2. Je radikaler die Krise, desto radikaler die Antwort.

  3. Je radikaler die Antwort, desto harmloser der Name ihrer Verpackung.

  4. Je radikaler, desto nötiger der Kompromiss – nie alles auf einmal.

  5. Politik ist auch Spiel – tu, was du tun musst, mit skrupellos guter Laune.

  6. Im schlimmsten Fall: Geh in die Grauzone der Legalität.

  7. Für ein neues Problem erfinde etwas Neues: etwa für den Wahlkampf das rote Auto oder für die Banken­rettung das Kaminfeuer­gespräch.

  8. Sprich direkt mit den Leuten, dann verstehen sie es.

Eigentlich hatten Roosevelt und sein Kabinett den Plan, den Kongress nach der Banken­abstimmung wieder nach Hause zu schicken. Aber dann entschlossen sie sich, den Schwung auszunützen.

Nie zuvor oder danach wurden derart viele Gesetze in so kurzer Zeit durch das Parlament gepeitscht wie in den ersten hundert Tagen dieser Präsidentschaft.

Roosevelts Kabinett bestand aus einer chaotischen Ansammlung von politischen Gegnern: Sozial­arbeiter, Professorinnen, Unternehmer, Planerinnen, Generäle, Finanziers – die Arbeits­ministerin Frances Perkins war die erste weibliche Ministerin der USA. Die politischen Ideen der Regierung waren sozialistisch, anarchistisch, konservativ, faschistisch, kapitalistisch, mal zentralistisch, mal föderal – die einzige Gemeinsamkeit von Roosevelts Ministern war: Sie waren Leute der Tat.

Und das war auch, was der Präsident forderte: «Ich verlange von meinen Mitarbeitern, dass sie Fehler machen», sagte er. «Es ist pure Vernunft, es mit einer Methode zu versuchen – wenn diese scheitert, geben Sie es offen zu und versuchen Sie eine andere. Aber vor allem: Probieren Sie etwas aus.»

Das Resultat war ein eindrückliches Chaos von am Ende fast zwei Dutzend neuen Regierungs­projekten: der «New Deal». Die neuen Dienst­stellen waren fast alle meist mit drei Buchstaben abgekürzt – WPA, PWA, CWA, NRA, RFC etc. – ihr inoffizieller Name: die Buchstabensuppe.

In der Suppe schwammen sehr verschiedene Brocken.

Darunter:

  • Das CCC (Civilian Conservation Corps) etwa ging das Problem der Umwelt wie der Jugend­arbeitslosigkeit an – es war ein von der Armee geführter Arbeits­dienst zum Aufbau von National­parks, Aussichts­türmen, Waldwegen etc. Eine halbe Million junge Amerikanerinnen fanden dort für einen Dollar pro Tag ihren ersten Job, sahen, wenn sie in der Stadt aufgewachsen waren, zum ersten Mal die Natur, und viele von ihnen lernten teils erst dort lesen und schreiben.

  • Die CWA (Civil Works Administration), später WPA, verschaffte mit dem Aufbau von Tausenden kleinen Infrastruktur­projekten über 4 Millionen Menschen Arbeit …

  • … und ihre erbitterte Konkurrentin, die PWA (Public Works Administration), tat dasselbe – nur fokussiert auf Gross­projekte wie Staudämme.

  • Die TVA (Tennessee Valley Authority) baute ein Labyrinth aus Staudämmen, Wäldern und Nitrat­fabriken um den Tennessee River – mit dem Ziel, Wasser und Elektrizität für die Farmen im bitterarmen, von Malaria verseuchten Umland zu garantieren.

  • Die NRA (National Recovery Administration) war ein staatliches Regelwerk für private Unternehmen: mit Mindest­löhnen, Mindest­preisen, Gewerkschaften, 40-Stunden-Woche – Geschäfte, die mitmachten, konnten sich mit einem blauen Adler schmücken. (Die adlerlosen liefen Gefahr, boykottiert zu werden.) Die Absicht dahinter war, durch steigende Preise und Löhne die Deflation in den Griff zu kriegen.

  • Dasselbe versuchte auch der AAA (Agricultural Adjustment Act). Er ging das Problem an, dass die Preise für Landwirtschafts­produkte katastrophal zusammen­gebrochen waren. Um die Preise zu stabilisieren, bezahlte die US-Regierung den Farmern Geld für die Vernichtung von unzähligen Tonnen Getreide und ganzen Generationen von Schweinen.

Das nur einige der versuchten Methoden. Das Ergebnis?

Nur das CCC war ein unbestrittener Erfolg. Den beiden anderen Arbeits­beschaffungs­agenturen wurde vorgeworfen, «Löcher zu graben und sie wieder zuzuschütten». Was Roosevelt konterte: «Wir könnten eine Menge Geld sparen, wenn wir allen Sozialhilfe­empfängern jeden Samstag etwas Bargeld oder einen Warenkorb in die Hand drückten – und damit ihre Moral zerstörten. Das kommt nicht infrage.»

Und nur Löcher waren es nicht. Es wurden unter anderem 2500 Spitäler, 13’000 Parks, 7800 Brücken, 1000 Flugplätze, 1,1 Millionen Kilometer Strasse gebaut. Plus 50’000 Lehrerinnen für die Schulen auf dem Land eingestellt.

Bei der TVA beklagten sich Privat­unternehmen, dass die Regierung ihnen das Geschäft wegnehme. Die NRA wurde vom Obersten Gerichtshof für verfassungs­widrig erklärt. Ebenso wie der AAA, dem es zwar gelang, die Preise zu heben, der aber (Vernichtung von Lebens­mitteln in einem hungernden Land!) in seiner ersten Version klar eine Schnaps­idee war.

Die politische Philosophie dahinter wechselte. Das CCC wäre auch in einem faschistischen Land denkbar gewesen, die TVA erinnerte an die Sowjetunion. Danach gefragt, sagte Roosevelt: «Sie ist weder Fisch noch Fleisch, aber was immer sie ist, den Leuten von Tennessee wird sie schmecken.»

Kurz, die erste Welle des New Deal war ein Bastard aus Bürokratie und Pioniergeist.

Nationales Aufbauprogramm: Im Rahmen des New Deal werden im Angel Forest in Bodwell, Ohio, vom Civilian Conservation Corps Bäume gepflanzt (August 1933). Bettmann/Getty Images

Für die Industrie am förderlichsten war ein Trick: die faktische Aushebelung des Gold­standards. Die Ausfuhr von Gold wurde verboten, grössere Mengen mussten der Zentralbank zu einem hohen, festgesetzten Preis verkauft werden. Das Resultat waren wesentlich mehr Dollar­noten im Umlauf, faktisch eine Währungs­abwertung um rund 40 Prozent.

Am längsten hielt sich das Gesetzes­paket zu den Banken. Roosevelt engagierte einen Alkohol­schmuggler, um eine Börsen­aufsicht zu gründen: Joseph Kennedy (den Vater des späteren Präsidenten John F.). Entscheidend war dessen Erfahrung als halber Gangster: Kennedy kannte alle Tricks in der halb legalen Grauzone. Aber hatte sich dabei in den Kapitalismus verliebt, wollte ihn retten – und leistete ganze Arbeit: Die von ihm begründete Börsen­aufsicht SEC existiert bis heute.

Dazu kamen die erzwungene Trennung in Geschäfts- und Investment­banken sowie die Einlage­versicherung: eine Garantie für jeden Sparer, selbst bei einem Crash 2500 Dollar ohne Wenn und Aber zurück­zubekommen. Der Betrag wurde im Laufe der folgenden Jahre kontinuierlich erhöht.

Letztere beschloss das Parlament gegen den entschiedenen Widerstand von Roosevelt, der sie für nicht finanzierbar hielt. Der Präsident irrte sich. Die Versicherung trug sich selbst – weil die Sicherheit der Einlage dazu führte, dass die Panik, die ihre Auszahlung erfordert hätte, nie stattfand. Nichts, urteilten die Ökonomen später, machte die Banken sicherer gegen Panik als die Einlageversicherung.

Kurz: Roosevelt hatte Glück, selbst bei seinen Niederlagen. In den nächsten fünfzig Jahren hörte man nichts mehr von Bankenpleiten.

Der Hass der eigenen Klasse

Zwei Jahre später, als die Krise abgeflaut war, war die Einigkeit Geschichte. Die Republikaner machten wieder Opposition. Ebenso die konservativen, rassistischen Südstaaten­demokraten. Sie reichten Fotos von Eleanor Roosevelt mit schwarzen Bürger­rechtlern herum, als wäre es Pornografie.

In den Kreisen der Vermögenden galt der Präsident zunehmend als Verräter. Man vermied gar, seinen Namen zu nennen – und sprach nur vom «Mann im Weissen Haus». Den «New Deal» taufte man um auf «Jew Deal». Ein paar Industrielle planten sogar einen Putsch.

Das, während überall Streiks ausbrachen und links-religiöse und sozialistische Politiker massenweise Publikum begeisterten.

Roosevelt beschloss, die Initiative zu behalten. Und mit mehr Tempo weiterzumachen: Mit dem Social Security Act von 1935 wurde (in einer zahmen Variante) der amerikanische Sozialstaat eingeführt – die erste Arbeitslosen-, die erste Behinderten-, die erste Renten­versicherung. Im gleichen Jahr wurde den Arbeit­nehmerinnen das Recht auf Gewerkschaften anerkannt. Dazu wurde 1938 zum ersten Mal ein Mindest­lohn fixiert: 40 Cents die Stunde.

Um die Karten «im Pokerspiel des Lebens» neu zu mischen, erhöhte Roosevelt die Spitzensteuersätze auf bis zu 75 Prozent. Weitere Steuern zerschlugen die grossen Konzerne und Vermögen. Die 2-Dutzend-Zimmer-Villen am Hudson, in denen Roosevelt seine Kindheit verbracht hatte, hörten während seiner Präsidentschaft auf zu existieren. Sie waren nicht mehr finanzierbar.

Im Wahlkampf sagte Roosevelt über die Leute der eigenen Klasse: «Sie sind sich einig in ihrem Hass gegen mich – und ich heisse ihren Hass willkommen!»

Die Katastrophe als Rettung

Die Wahl von 1936 war ein Massaker. Roosevelt vernichtete den Republikaner Alf Landon mit 523 zu 8 Wahlmännerstimmen.

Darauf beging Roosevelt in der Gewissheit des Sieges zwei Fehler. Der erste war, den Supreme Court anzugreifen. Das Oberste Gericht, mehrheitlich konservativ, hatte begonnen, systematisch ein New-Deal-Projekt nach dem anderen für verfassungs­widrig zu erklären. Die hastige Bauweise der Gesetze gab genug Möglichkeiten zum Angriff.

Roosevelt war wütend. Er beschloss, das reaktionäre Gericht mit liberalen Richtern zu fluten. Und biss auf Granit – nicht nur bei den Republikanern, sondern auch bei den Demokratinnen aus den Südstaaten. Sie alle warnten vor Roosevelts «Diktatur».

Der Präsident musste klein beigeben – ironischer­weise änderte der Supreme Court wenig später von selbst seine konservative Haltung. Sodass Court-Mitglied William Rehnquist später im Rückblick sagen konnte, Roosevelt habe «zwar eine Schlacht verloren, aber den Krieg gewonnen». (Wenngleich zu einem hohen Preis: Sein Prestige war weg.)

Noch tödlicher war der zweite Fehler: Jetzt, da sich die Wirtschaft leicht erholt hatte, beschloss Roosevelt, Verantwortung zu zeigen und das Budget auszugleichen: Er strich es konsequent zusammen.

Fast über Nacht krachte die Wirtschaft zurück in den Keller. Erneut steckte Amerika in einer Depression – doch diesmal war es nicht die von Herbert Hoover, sondern die von Franklin D. Roosevelt.

Im Weissen Haus waren Präsident und Kabinett nach vier wilden Jahren müde. Ihre Energie, ihre Ideen waren verfeuert worden. Wäre Roosevelts Präsidentschaft bei zwei Amtszeiten geblieben, wäre Franklin Roosevelt heute ein Mittelfeld-Präsident. Interessant, aber nicht sehr.

Dann aber rettete ihn und die amerikanische Wirtschaft eine weitere Katastrophe: der Zweite Weltkrieg. Doch dazu später.

«Was denkt der Präsident?»

Disziplinierte Menschen fanden den Regierungs­stil im Weissen Haus höchst irritierend: ebenso charmant wie unordentlich. Das Gebäude glich einer Jugend­herberge für Erwachsene.

Der Präsident war meistens strahlender Laune: Er rauchte Kette, arbeitete wie der Teufel und liebte Anekdoten, Scherze, Drinks, Poker. Um ihn herum campierte ein Clan von Mitarbeitern, organisiert von der ebenfalls trinkenden, rauchenden, Poker spielenden, hellwachen Sekretärin Missy LeHand, die gleichzeitig fast seine Frau war. Dazu übernachteten meist Roosevelts Mutter, ein paar Minister, Mitstreiterinnen von Eleanor Roosevelt, Professoren für alles Mögliche und eine Menge Durchreisende im Haus.

Da der gelähmte Präsident nicht in die Welt konnte, musste die Welt zu ihm kommen – in einem unübersichtlichen Strom. Ebenso unübersichtlich wie das eigene Kabinett. Der Präsident liebte Leute – energische, möglichst verschiedene Leute. Und den Krach zwischen ihnen. So hatte er die Hoffnung, jede wichtige Sache aus allen möglichen Winkeln mitzubekommen.

«Was denkt der Präsident?», fragte ein Reporter Roosevelts Frau Eleanor. Worauf sie antwortete: «Mein Junge! Der Präsident denkt nicht. Er entscheidet.»

Das hatte etwas. Niemand, wahrscheinlich nicht einmal der Präsident selbst, wusste, was er zu einem Thema dachte, bevor er es eines Tages entschied.

Zu Beginn ihrer Ehe hasste Eleanor Roosevelt die Politik – sie war ein schüchterner Mensch. Doch das hatte sich inzwischen geändert. Wenn es im Weissen Haus jemanden gab, der ein noch leidenschaftlicherer, radikalerer, entschiedenerer Politiker war als der Präsident, dann war es die First Lady.

Sie reiste andauernd von Termin zu Termin im Zickzack durch das Land. Und war dadurch, wie Roosevelt sagte, seine Beine, Augen und Ohren. Sie sprach mit Passantinnen, Beamten, Arbeiterinnen, eigentlich mit allen: Durch seine Frau erhielt er ungeschminkte Berichte. Eleanor Roosevelt schrieb eine tägliche Kolumne, die in Hunderten Zeitungen erschien, gab zweimal wöchentlich Presse­konferenzen, ausschliesslich für weibliche Reporterinnen (wodurch konservative Blätter zum ersten Mal Frauen anheuern mussten), und sie hielt überall Reden.

Sie war eine Frau mit unerschöpflicher Arbeits­kraft – ohne jeden Rückwärts­gang: Sie hatte ein grosses Herz, allerdings ohne viel Humor, ohne Spass an der Albernheit, ohne Liebe zum Alkohol. Ihr Mann schätzte Ablenkung, sie nicht. Sie arbeitete lieber durch: Neben Roosevelts Bett war ein Korb für Eleanors tägliche Nachrichten montiert. Wobei sich das Ehepaar darauf geeinigt hatte: Nicht mehr als drei Denkschriften pro Tag.

Die Ehe der Roosevelts hatte knapp nach dem Ersten Weltkrieg und dem sechsten Kind geendet, als Eleanor in seinem Koffer die Liebes­briefe mit ihrer damaligen Sekretärin fand «und in einem einzigen Augenblick erwachsen wurde». Ihre Bedingung für die Weiter­führung der Ehe: kein Sex mehr. Sie endeten damit als Paar – und wurden zu Komplizen.

Unermüdlich: Eleanor Roosevelt im Alter von 71 Jahren am Rednerinnenpult am Parteitag der Demokraten 1956 in Chicago. Bettmann/Getty Images

Die First Lady war in ihrer Politik weit gradliniger. Sie hielt ihn auf Kurs – etwa während des Zweiten Weltkriegs, als sie verhinderte, dass sich der Präsident nur auf das Gewinnen des Kriegs verlegte und die Innen­politik vergass. Sie bestand darauf, die Demokratie weiter auszubauen: damit der Sieg der USA überhaupt Sinn ergab. (Als sie den englischen Premier Winston Churchill und ihren Mann vor der Weltkarte debattieren sah, schrieb sie in ihr Tagebuch: «Wie zwei kleine Jungs, die Soldat spielen.»)

Der Präsident war tatsächlich ungleich kindlicher. Und hatte deshalb einen weit realistischeren Blick für die Möglichkeiten der Politik – nicht zuletzt für das Timing: «Ich bin wie eine Katze», sagte er einmal. «Ich mache einen schnellen Sprung und entspanne mich dann.» Während seine Frau jederzeit direkt dachte, sprach, handelte, spielte er seine Ideen über die Bande. «Ich bin vollkommen mit Ihnen einverstanden», sagte er etwa zu einem Partei­kollegen. «Also gehen Sie raus und machen Sie gehörig Druck auf mich.»

Kurz: Mr. und Mrs. Roosevelt waren ein vorbildlich funktionierendes Paar.

Das Arsenal der Demokratie

Ende der Dreissigerjahre stank es in Europa nach Faschismus. Das war für Roosevelts Regierung ein heikles Problem: Grosse Teile der USA wollten davon nichts wissen.

Der Erste Weltkrieg war eine blutige Enttäuschung gewesen, die USA hatten ihn zwar gewonnen, aber ohne dass sich die Welt – oder sonst etwas – verbessert hatte. Das sichtbarste Ergebnis, der Völkerbund, war ein Flop. Also wurde die Armee fast vollständig abgebaut.

Die Isolationisten waren in beiden Parteien in der Mehrheit. Und der Präsident musste ihnen folgen: Roosevelts Wahl­versprechen 1940 war, sich keinesfalls in einen weiteren Krieg verwickeln zu lassen.

Dazu hatten die USA auch nicht die Mittel: Die amerikanische Armee war zu diesem Zeitpunkt nur die vierzehnt­grösste Armee der Welt, etwa so furcht­erregend wie die belgische.

Im September 1939 marschierte Hitler in Polen ein; wenige Monate später hatte er halb Europa erobert und bombardierte England. Dem britischen Premier­minister Winston Churchill war klar, dass Grossbritannien den Krieg gegen Deutschland nur durch ein Ereignis gewinnen konnte: den Eintritt der USA.

Er bat und bat und bat die USA um Kriegsschiffe. Roosevelt zögerte – bis er auf die Idee kam, im Gegenzug die Kontrolle einiger Marine­basen zu verlangen. So war die Waffen­lieferung plötzlich zu verkaufen: nicht als Partei­nahme – sondern als grossartiger Deal, wie die erfreute Presse schrieb: «Der beste, seit wir den Indianern Manhattan für eine halbe Flasche Whiskey abgekauft haben.»

Der Streich klappte. Doch nur kurz. Denn Grossbritannien ging das Geld aus. Churchill schrieb erneut verzweifelte Briefe. Roosevelt tat länger nichts, ging mit ein paar Mitarbeitern zur Erholung auf ein Schiff – und erschien plötzlich mit einer fertigen Idee an Deck.

Es war die vielleicht unverschämteste, sicher folgenreichste, wahrscheinlich auch albernste Idee seiner gesamten Präsidentschaft: Man würde den Briten, wenn sie schon nicht zahlen könnten, die Waffen einfach leihen. Sobald der Krieg beendet wäre, könnten sie sie zurückgeben.

Der Öffentlichkeit gegenüber verkaufte Roosevelt seine Idee erneut atem­beraubend harmlos. «Was ich will, ist die Eliminierung des Dollar­zeichens, des dummen, idiotischen alten Dollar­zeichens», erklärte er mit unschuldigem Lächeln an einer Presse­konferenz kurz vor Weihnachten 1940. Und fuhr fort: «Nehmen wir an, das Haus des Nachbarn fängt Feuer, und ich habe einen Garten­schlauch. Also – was tue ich? Ich sage nicht: ‹Herr Nachbar, mein Garten­schlauch hat mich 15 Dollar gekostet. Sie müssen mir jetzt 15 Dollar dafür zahlen.› Nein, ich will keine 15 Dollar, ich will nur meinen Schlauch zurück.»

So klang die Begründung, um legal Waffen an die Briten zu liefern, ohne Hoffnung, dass diese eines Tages bezahlt würden – es handelte sich nicht um ein Geschäft. Sondern eben nur um ein «Gentleman’s Agreement».

Das zweite, für alle Isolationisten fast unablehnbare Argument für den Deal war, dass sich durch das Ausleihen von Waffen die direkte Teilnahme am Krieg vermeiden liesse.

Am Ende beliefen sich die Kosten des Garten­schlauchs auf 50 Milliarden Dollar – das teuerste Rüstungs­programm aller Zeiten. Fast über Nacht baute die Regierung die halb leer laufende Industrie in eine gigantische Rüstungs­produktion um. Die USA wurden, wie es Roosevelts Plan von Anfang an war, zur «Waffen­schmiede der Demokratie».

Zwischen 1940 und 1945 produzierten die USA gemäss der Autorin Doris Kearns Goodwin mehr, als alle Experten erträumt hatten: fast 300’000 Flugzeuge, über 2 Millionen Transporter, dazu exakt 107’351 Panzer, 87’620 Kriegs­schiffe, 5475 Fracht­schiffe, dazu mehr als 20 Millionen Sturm- und Maschinen­gewehre plus 44 Milliarden Partronen­gurte. Der Historiker Bruce Catton schrieb: «Es war, als hätte die Nation jeden Monat zwei Panama­kanäle gebaut – und selbst das ist noch eine Untertreibung.»

Die USA belieferten nicht nur England und natürlich die eigene Armee. Sondern auch die Sowjetunion: Ein ununterbrochener Strom von Flugzeugen, Panzern, Maschinen­gewehren, über die halbe Erde verschifft, ermöglichte der Roten Armee den Sieg in Stalingrad.

Dass die Japaner die amerikanische Flotte in Pearl Harbor überfielen und die USA danach offiziell in den Krieg eintraten, war für dessen Ausgang fast zweitrangig. Es war die geballte amerikanische Produktions­kraft, gegen die Nazideutschland keine Chance hatte.

Als die USA offiziell in den Zweiten Weltkrieg eintraten: Angriff der japanischen Armee auf den Marinestützpunkt Pearl Harbor (7. Dezember 1941).Library of Congress Prints and Photographs Division Washington
Kriegswirtschaft: Arbeiterinnen polieren die transparenten «Panoramanasen» von Douglas-A-20-Bombern. FPG/Hulton Archive/Getty Images

Verblüffenderweise vollendete der 50-Milliarden-Gartenschlauch-Trick auch den New Deal. Dieser hatte zwar einiges erreicht: Er hatte der Nation wieder Stolz und eine Zukunft zurück­gegeben. Aber die Krise hatte er nicht beerdigt: Produktion wie Preise hatten sich zwar wieder erholt, aber die Arbeits­losigkeit sank nur bis 15 Prozent, und da blieb sie.

Der Grund war, dass Roosevelts Regierung zwar Job­programme beförderte – aber versuchte, diese so budget­neutral wie möglich zu machen. Und nach der ersten, zarten Erholung das Budget radikal kürzte.

Das gigantische Rüstungs­programm hingegen fegte den Arbeits­markt innert Monaten leer – die Weltwirtschafts­krise war endlich Geschichte. Und nicht zuletzt führte der Boom zu einem anti­konservativen Schub.

Zum Ersten durchmischte sich die Gesellschaft, indem die Amerikanerinnen der Arbeit folgten: Hundert­tausende zogen, wie einst die Pioniere, nach Westen – zu den Werften und Munitions­fabriken Kaliforniens. Es war wie ein zweiter, diesmal realistischer Goldrausch: Am Ende des Krieges hatten 15 Millionen Amerikaner den Bundesstaat gewechselt.

Zum Zweiten kamen die Frauen durch den Hunger nach Arbeits­kräften erstmals im grossen Stil in Männer­berufe: als Arbeiterinnen, Ingenieurinnen, Managerinnen.

Und zum Dritten entkamen die schwarzen Land­arbeiter endlich den Sklaven­haltern des Südens: Vor dem Krieg arbeiteten nach Angaben von Doris Kearns Goodwin 1,466 Millionen Schwarze auf den Farmen im Süden, 1970 waren es noch 117’000.

Kurz: Die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, die Roosevelt bei Amtsantritt versprochen hatte, wurde am Ende seiner Präsidentschaft plötzlich Wirklichkeit. Wenn auch ganz anders als geplant.

Es braucht oft auch eine Menge Glück, damit man seine Versprechen halten kann. Der Politiker Roosevelt hatte es.

Die Erfindung der Mittelklasse

Roosevelt starb am 12. April 1945. Ende Monat starb Hitler. Bald darauf war der Weltkrieg Geschichte.

Obwohl die anderen drei führenden Politiker des Kriegs – Hitler, Churchill, Stalin – weit greller im Gedächtnis der Nachwelt leben, war es Roosevelt – der bei weitem Leicht­herzigste von ihnen –, der den Frieden gewann.

In den USA war seine grösste Wirkung, dass er die Erwartungen der amerikanischen Wählerinnen veränderte. Zuvor war die Präsidentschaft eine ferne Institution. Unter Roosevelt wurde sie zur Instanz, die bei Problemen die Pflicht hatte zu handeln. Selbst die konservativste Regierung überlebt es nicht mehr, auf eine Krise mit Nichtstun zu antworten.

Dazu entstand eine neue Wirtschafts­ordnung, so vital und unordentlich wie Roosevelts Politik: Arbeit war für diesen Präsidenten nicht der Gegner, sondern der Partner des Kapitals, Regulierung sah er als Bedingung, nicht als Tod des Geschäfts – und Freiheit war in seinem Denken nicht mehr der Todfeind, sondern die Folge der Sicherheit.

Sein grösstes Vermächtnis war die Erfindung einer in der Geschichte völlig neuen Herrschafts­kaste: der westlichen Mittelklasse. Roosevelt zerschlug in wenigen Jahren durch mörderische Spitzen­steuern die grossen Konglomerate, Gehälter und Vermögen – und als die Steuern zurückgingen, war aus einer Kühnheit eine Selbst­verständlichkeit geworden: Einige verdienten mehr, andere weniger, aber alle gehörten in den gleichen Topf.

Es war ein betont undramatisches Modell – grausam für Intellektuelle, aber eben das System, das den grössten Wirtschafts­boom der Geschichte hervorbrachte. Die Welt, die aus den Trümmern des Hasses und des Kriegs aufstieg, glänzte in Technicolor, trank Coca-Cola, sah Gangster- und Kriegsfilme und verbreitete sich mit ihrer angenehmen Banalität über den kompletten Planeten.

Die Welt hielt bis heute – wo die Nachkriegs­ordnung langsam zerbröckelt.

Roosevelt war kein Politiker, der sich für Prinzipien interessierte. Ihn faszinierten Gelegenheiten. Wie jeder gute Spieler gab er dem Glück eine Chance. Das Glück revanchierte sich, im Leben, aber auch danach: Exakt zehn Jahre nach seinem Tod, am 12. April 1955, verkündeten die Forscher der von Roosevelt gegründeten Stiftung, dass etwas als unmöglich Geglaubtes gefunden war: der Impfstoff gegen Polio.

Als die Nachricht bekannt wurde, läuteten in den amerikanischen Kirchen die Glocken. Ein Albtraum war verschwunden, der Jahr für Jahr Tausende Kinder getötet oder verkrüppelt hatte.

1952 infizierte das Polio-Virus in den USA 57’000 Kinder. 1960 waren es noch 2525. 1965 waren es 61. 1979 registrierte man den letzten Fall.

Kurz: Roosevelt hatte recht gehabt, als er in seiner ersten Presse­konferenz als Präsident sagte: «Man hat mich gewarnt, dass ich Unmögliches versuche. Aber ich will es versuchen.»

Weiss der Teufel, ob so etwas hilft.

Aber als vor zweieinhalb Jahren unser Sohn Oskar geboren wurde, war es keine schwere Entscheidung, ihn zusätzlich noch auf den Namen «Franklin» zu taufen. Damit er sich beim Blick in den eigenen Pass an drei sehr wichtige Dinge erinnert: nichts zu fürchten ausser der Furcht. Im Zweifel experimentieren. Und an die wichtigste Pflicht von allen: die Pflicht, glücklich zu sein.

Die Arbeiterinnen auf dem Bild in der Halle polieren keine Spinner von Flugzeugpropellern, wie wir in einer ersten Version fälschlicherweise geschrieben haben, sondern die transparenten «Nasen» von Douglas-A-20-Bombern. Wir entschuldigen uns für die Fehler. In einer früheren Version stellten wir auch die Eroberungsfeldzüge durch Hitler ab dem Jahr 1939 falsch dar, wir entschuldigen uns für die Ungenauigkeit.

Zu Büchern rund um Franklin D. Roosevelt

Folgende Literatur diente unter anderem zur Recherche für diesen Beitrag:

Doris Kearns Goodwin: «No Ordinary Time: Franklin & Eleanor Roosevelt: The Home Front in World War II». Simon & Schuster, New York 2013. 768 Seiten, ca. 43 Franken.

Roy Jenkins: «Franklin Delano Roosevelt». Macmillan, New York 2003. 208 Seiten, ca. 46 Franken.

Alan Posener: «Franklin Delano Roosevelt». Rowohlt, Hamburg 2019. 160 Seiten, ca. 4 Franken (nur als E-Book erhältlich).

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