Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond
Gehen wir spazieren! – Können Sie diese Aufforderung fast nicht mehr hören? Dann wird es Sie umso mehr erstaunen, dass es Menschen gibt, für die der Spaziergang zum Beruf gehört. Zum Beispiel Martin Schmitz.
Schmitz ist Professor an der Kunsthochschule Kassel, und sein Fachgebiet ist – die Spaziergangswissenschaft. (Ja, Sie haben richtig gelesen – gleich gibts mehr dazu!) Reporterin Sylke Gruhnwald hat mit ihm telefoniert, während sie an einem kalten Wintertag vom Zürcher Paradeplatz über die Bahnhofstrasse zum Hauptbahnhof flanierte. Der Wissenschaftler blickt derweil aus dem Fenster auf den Alfred-Döblin-Platz in Berlin.
Herr Schmitz, das Spazierengehen ist längst Ihr Lebensthema. Was macht ein professioneller Promenadologe eigentlich?
Er geht natürlich spazieren, aber er schaut auch anderen Menschen beim Spazierengehen zu. Wenn wir uns einen Raum, eine Stadt oder eine Landschaft erschliessen wollen, dann müssen wir uns darin bewegen. Wir sind am langsamsten, wenn wir spazieren gehen. Das Spazieren erlaubt uns die genaue Beobachtung. Anders ist es beim Autofahren: Wenn Sie heute innerhalb eines Nachmittags das Burgund durchqueren, nehmen Sie grössere Sequenzen wahr – keine Details.
Sie sagen: Bestenfalls schafft Spazierengehen Schönheit. Und: Je intensiver die Welt betrachtet wird, desto besser kann man sie gestalten.
Sie kommen nach dem Spaziergang nach Hause und berichten von einzelnen Stationen, die sich wie Perlen auf einer Kette gereiht zu einer Kontinuität zusammenfügen: die kleine Brücke, die Seepromenade, das leer stehende Haus. Das kontrastiert mit dem Autofahrerblick. Die Menschen sind alle mit dem Auto gross geworden. Ein Leben ohne Auto ist kaum mehr vorstellbar. Autofahrer haben eine andere Perspektive auf unsere Welt. Und die macht sich in der Stadtplanung bemerkbar.
Ein Gegenbeispiel? Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo will aus den Champs-Élysées einen Park machen. In ihrem Kabinett sitzt «Monsieur vélo», der den Bau von 320 Kilometern Velowegen koordinierte; seit 2020 hat er einen neuen Spitznamen: «Monsieur végétalisation», jetzt soll er 170’000 Bäume in der Stadt pflanzen.
Die Mega-Fussgängerzone, die zu Mega-Problemen an den Stadträndern führt. Die Pendler aus den Banlieues werden ihre Diesel und Benziner auf Parkplätzen dort abstellen. Was das für eine Stadt bedeutet, das kann man bei den Begründern der Spaziergangswissenschaft bereits in den 1950er-Jahren nachlesen.
Wer hats erfunden?
Die Schweizer Annemarie und Lucius Burckhardt. Sie war Künstlerin, er arbeitete als Soziologe in der Architektur und der Stadt- und Landschaftsplanung. Die Burckhardts haben eine Zeit begleitet, in der ein individuelles Automobilsystem in die Städte hineingebaut werden sollte. Keiner wusste wie, alle dilettierten. Zum Beispiel in Basel, wo Lucius Burckhardt studierte. Dort wurden Häuser abgerissen oder aufgestockt, Strassen verbreitert, Grundstücke zusammengelegt für eine «autogerechte» Stadt. Damit beginnt die Bodenspekulation, an der das Basler Bürgertum mitverdient. Aber jetzt interessiert der analoge Zugang der Burckhardts zur Spaziergangswissenschaft auch endlich die Städteplanerinnen.
Wir halten Spaziergänge auf Fotos fest, posten sie auf Instagram. Mit entsprechenden Tools zeichnen wir Dauer und Distanz auf. Die Gesundheits-App am Handy zählt unsere Schritte mit. Woher kommt unsere Lust, unsere Spaziergänge zu vermessen?
Armbanduhren schneiden Daten mit und senden sie an meine Krankenkasse, die wiederum legt anhand der Informationen meinen Krankenkassenbeitrag fest. Auch die Wissenschaft möchte alles messen. Das stösst bei der Wahrnehmung der Umwelt schnell an eine Grenze: Lässt sich die Schönheit einer Landschaft messen? Die Ökonomen in der Tourismusbranche meinen: Ja! Die Spaziergangswissenschaft verfolgt eher einen ganzheitlichen Ansatz. Auch wenn ich vor meinen Augen das Stück Wiese, auf dem ich stehe, mit den Kenntnissen aus der Biologie oder der Geologie naturwissenschaftlich vermessen kann, entsteht in meinen Augen eine Landschaft, wenn ich den Kopf hebe. Wo sie anfängt, kann nicht gemessen werden.
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Im Aargau wird der Präsenzunterricht für Berufsfachschulen und Gymnasien wieder aufgenommen. Er beginnt am 1. März. Ende Januar waren die Schülerinnen dieser Stufe im Kanton in den Fernunterricht geschickt worden. Auf den Schularealen gilt die generelle Pflicht zum Maskentragen. Eine Ausnahme bleibt die Berufsfachschule Gesundheit und Soziales. Aufgrund des Kontakts der Lernenden mit vulnerablen Bevölkerungsgruppen gilt hier bis zum 9. April reduzierter Präsenzunterricht.
In Wengen müssen alle Angestellten sämtlicher Hotels zum Test. Die Massnahme betreffe 300 Personen, teilte die Gesundheitsdirektion des Kantons Bern mit. Angeordnet hatte die Massentestung der kantonsärztliche Dienst. Der Grund dafür ist die Ansteckung mehrerer Angestellter mit der südafrikanischen oder der brasilianischen Variante – derzeit müssen die Proben noch sequenziert werden. Der Wintertourismusort Wengen hat bereits mehrere Covid-19-Ausbrüche erlebt.
Appenzell Innerrhoden führt regelmässige Massen-Speicheltests in Gesundheitseinrichtungen durch. So sollen asymptomatische Mitarbeitende entdeckt werden. Ebenso wird das Personal der Spitex und des Spitals Appenzell Innerrhoden getestet. Auch am Gymnasium wird eine Pilotphase gestartet. Die Tests würden voraussichtlich so lange durchgeführt, bis eine Mehrheit der Bewohner vollständig geimpft sei, so der Kanton.
Der Impfstoff von Pfizer/Biontech ist wohl bereits nach der ersten Dosis zu rund 85 Prozent wirksam. Dies hat eine Studie des Sheba Medical Center in Israel herausgefunden. Im Vergleich dazu beträgt die Wirksamkeit bei zwei Dosen rund 95 Prozent, wenn die Verabreichungen 21 Tage auseinanderliegen.
Und zum Schluss: Der Lagebericht zur Woche
Vor einer Woche haben wir an dieser Stelle geschrieben: Die Zahlen der laborbestätigten Neuansteckungen und auch der Todesfälle sinken langsam, aber stetig. Wir dürfen uns auch diese Woche freuen: Dieser Trend geht weiter.
Es sieht gerade tatsächlich recht gut aus: Die Explosion nach den Feiertagen Anfang bis Mitte Januar fand nicht statt. Und die neuen, ansteckenderen Virusvarianten nehmen anteilmässig zwar an der Gesamtzahl der Ansteckungen zu. Die gesamten Neuansteckungen sowie auch die Todesfälle nehmen jedoch ab. Das ist gut.
Im Hinterkopf bleibt: Die jetzigen Zahlen sind stets mit Vorsicht zu geniessen. Denn: Sie zeigen das Infektionsgeschehen von vor rund zwei Wochen. Wie es jetzt tatsächlich aussieht, wissen wir nicht. Auch gibt es Meldelücken und Verzug – teilweise müssen Zahlen im Nachhinein korrigiert werden. Und der R-Wert (der angibt, wie viele weitere Personen ein infizierter Mensch ansteckt) sinkt – sehr, sehr langsam. Mit Werten zwischen rund 0,8 und 0,9 (mit grossen Schwankungen zwischen den Kantonen) liegt er nicht im Idealbereich. Und schaut man sich im europäischen Ausland um, so haben sich viele Abwärtstrends verlangsamt und verharren auf doch noch recht hohem Niveau – optimal ist anders.
Aber dennoch sollten wir uns freuen, wenn es Anlass dazu gibt: Die Positivitätsrate (also der Anteil positiver Resultate bei allen gemachten Tests) liegt derzeit unter dem kritischen Wert von 5 Prozent. Wohl auch deshalb hat sich der Bundesrat diese Woche entschieden, Vorschläge in Richtung einer Lockerung zu machen. (Die Details dazu haben wir hier für Sie aufgeschrieben.)
Es schaut so schlecht also nicht aus. Es bleibt aber fragil. Der Frühling kommt. Wie er daherkommt, wissen wir nicht. Mit einer guten Portion Vorsicht können wir sagen: Die Kurven gehen nach unten. Es geht also ein bisschen aufwärts.
Es ist wärmer. Und es ist Freitag. Vorschlag: Schnappen Sie sich ein Getränk Ihrer Wahl und läuten Sie mit uns das Wochenende ein.
Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.
Sylke Gruhnwald und Marguerite Meyer
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Wenn Sie unserem oben stehenden Vorschlag Folge geleistet haben, halten Sie das Feierabendgetränk Ihrer Wahl bereits in der Hand. Fehlt nur noch die passende Bar, eigentlich? Tut uns leid, wir hätten das auch gerne, das ist aber im Moment nicht drin. Derzeit müssen wir wohl oder übel mit der heimischen Couch vorliebnehmen. Damit das Barfeeling dennoch entsteht, hier der Tipp von Republik-Nerd Patrick Venetz: Bei «I Miss My Bar» gibt es eine wöchentliche Playlist – die sich individuell mit Geräuschen klirrender Gläser, einer Sommernacht draussen oder angeregter Gespräche ergänzen lässt. Funktioniert. Cheers!