«Der Nikab ist nicht das Zeichen der Unterwerfung, sondern eine Revolte»

Agnès De Féo forscht seit 15 Jahren über die Vollverschleierung. Die europaweit führende Expertin über Praxis, Bedeutung, Entwicklung des Nikab.

Ein Interview von Daniel Binswanger (Text) und Jonas Unger (Bilder), 16.02.2021

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«Das Verbot hat einen Anreizeffekt geschaffen. Dank Sarkozy entdeckten diese Frauen ihre religiöse Berufung»: Soziologin und Dokumentarfilmerin Agnès De Féo.

Sie hat sich mit unzähligen Frauen auseinander­gesetzt, die in Frankreich den Nikab tragen, hat sie zu ihrer konkreten Situation befragt, zu ihrem Glauben und zu ihren politischen Überzeugungen. Und das Profil dieser Frauen wissenschaftlich erfasst. Und sie hat auch gefilmt: Agnès De Féo, tätig an der prestige­trächtigen École des hautes études en science sociale, ist nicht nur Soziologin, sondern auch Dokumentarfilmerin.

Schon 2010, als in Frankreich das Vollverschleierungs­gesetz in Kraft trat, drehte sie den eindrücklichen Dokumentar­film «Unter der Burka». Im letzten Herbst erschien ihre grosse Studie «Derrière le niqab» zu zehn Jahren Verschleierungs­verbot. Was ist die Bilanz des französischen Wegs? Und was sagt Agnès De Féo zur Schweizer Initiative, über die am 7. März abgestimmt wird?

Agnès De Féo, wie war damals die Situation, als in Frankreich das Gesetz gegen die Vollverschleierung eingeführt wurde?
Ich begann 2008, die Vollverschleierung in Frankreich zu untersuchen. Davor hatte ich das Thema in Indonesien erforscht. Als ich nach meiner Rückkehr nach Paris hier damit anfing, war das eine sehr marginale, exotische Angelegenheit. Das Phänomen des Nikab war extrem selten in Frankreich, niemand interessierte sich dafür. Das änderte sich dann aber schlagartig, nicht erst mit dem Gesetz, sondern als von der Politik eine Debatte angeschoben wurde. Sie nahm so richtig Fahrt auf im Juni 2009, als die Sarkozy-Regierung eine parlamentarische Kommission einsetzte, die einen Bericht über die Vollverschleierung in Frankreich verfassen sollte.

Wurden Sie konsultiert?
Nein. Es wurden zwar sehr viele Sozial­wissenschaftler vorgeladen, von denen aber fast keiner in seinem Leben je einer einzigen vollverschleierten Frau begegnet war. Ich verfügte schon damals über ein relativ grosses Video­archiv von Gesprächen, die ich mit Nikab-Trägerinnen führte, das ich gerne zu präsentieren bereit gewesen wäre. Das war nicht erwünscht. Es gab keinen Willen, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen wurden zahlreiche politische Organisationen vorgeladen, auch vom äussersten rechten Rand. Am Ende wurde ein voluminöser Bericht vorgelegt, der sehr politisch war und sich mit dem Phänomen wissenschaftlich gar nicht auseinander­setzte. Es ging um etwas anderes: Man postulierte ein Problem und beschloss, einen Kreuzzug anzufangen. Das führte zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Es war wie ein Funke im Pulver­fass, der einen medialen Flächen­brand auslöste. Plötzlich schien es kein wichtigeres Problem mehr zu geben, plötzlich war es das dominierende Thema. Das Einzige, was fehlte, waren die real existierenden Nikabs.

Kann man beziffern, wie viele Nikab-Trägerinnen es damals gab?
Das ist bis heute nicht einfach. Ich selber mache qualitative Forschungen. Das heisst, ich führe lange Gespräche mit Nikab-Trägerinnen, insgesamt mit bisher etwa 200 Frauen, die ich teilweise schon seit Jahren begleite. Aber ich habe nie den Versuch einer umfassenden quantitativen Erfassung aller Trägerinnen gemacht. Sie wäre sehr schwierig, da viele Nikab-Trägerinnen nirgendwo richtig eingebunden und erfasst sind. Die Zahlen, die 2009 zirkulierten, kamen von den Renseignements généraux, also dem Inland-Geheimdienst, der lange von 200 Nikab-Trägerinnen auf französischem Territorium ausging und diese Zahl dann plötzlich auf 2000 erhöhte. Es ist jedoch unklar, wie die Sicherheits­dienste zu dieser Schätzung kamen – sie legen ihre Erhebungs­methoden nicht offen – und aufgrund welcher Entdeckungen die Zahl damals über Nacht verzehnfacht wurde. Es entstand nicht der Eindruck, dass diese Zahlen sehr ernst zu nehmen wären.

Seit der Einführung des Verbots müsste man zumindest wissen, wie viele Verstösse gegen das Gesetz es gibt.
Es gibt die Statistiken über die Bussen. Ich habe die Zahlen für 2013, 2014 und 2015. In diesem Zeitraum gab es jedes Jahr zwischen 300 und 400 Bussen für Vollverschleierung. Allerdings bestehen auch hier Unwägbarkeiten: Es gibt Nikab-Trägerinnen, die sich 10 Bussen eingefangen haben. Mir ist der Fall einer Frau bekannt, die 30-mal gebüsst wurde. Zudem bestanden starke regionale Unterschiede. In Nizza zum Beispiel war die Polizei extrem eifrig, andernorts weniger. Insgesamt bleiben die Zahlen wenig aussage­kräftig. Allerdings fällt auf, dass die Anzahl der Bussen insgesamt sehr überschaubar geblieben ist.

Wo finden Sie die Nikab-Trägerinnen, die Sie befragen?
In den salafistischen Moscheen oder in den Quartieren im Norden von Paris, in denen viele Salafistinnen leben. Da war es relativ einfach, Frauen im Nikab zu finden und anzusprechen. Es gibt im Umfeld von salafistischen Moscheen auch Läden, die Nikabs und andere Artikel für eine ultrareligiöse Klientel verkaufen, zum Beispiel salafistische Ratgeber­literatur. Auch in solchen Geschäften waren Nikab-Trägerinnen anzutreffen.

Konnten Sie persönlich im Jahr 2009, als die Debatte losging, eine Veränderung feststellen?
Es war mit Händen zu greifen. Es gab plötzlich deutlich mehr junge Frauen, die sich für Vollverschleierung und Salafismus zu interessieren begannen.

Die Verbotsdiskussionen führten zu einem Nikab-Boom?
Das war offensichtlich. Das haben mir auch die Devotionalien­händler der Rue Jean-Pierre Timbaud bestätigt, wo eine der wichtigsten Pariser Moscheen zu finden ist und wo sich ein ganzes Biotop von Devotionalien­läden entwickelt hat. Die sagten damals: Das ist super! Wir haben einen Absatzschub. Auch die Betroffenen selber bestätigen das.

Wie das?
In meinen Interviews höre ich häufig den Satz: Ich verdanke es Sarkozy, dass ich den Nikab trage. Es war ja unter Präsident Sarkozy, dass das Vollverschleierungs­verbot beschlossen wurde. Einige Nikab-Trägerinnen sagen bis heute: Merci, Sarkozy! Sie bekennen sich dazu, dass die Vollverschleierung für sie erst als Reaktion auf das Verbot ein Thema wurde. Das Verbot hat einen Anreiz­effekt geschaffen. Die Widerstands­geste führte dann auch zur definitiven Identifikation mit dem Salafismus. Dank Sarkozy entdeckten diese Frauen ihre religiöse Berufung.

Veränderte sich durch das Verbot auch das Profil der typischen Nikab-Trägerin?
Bevor die Debatte losging, waren die Nikab-Trägerinnen in der Regel recht isolierte, sehr religiöse Frauen, meist schon etwas älter, die schwierige Biografien hatten und sich durch religiösen Eifer eine Erlösungs­perspektive offenhalten wollen. Es war eine Art asketische Übung. Im Verlauf der Verbots­debatte wurden die Nikab-Trägerinnen im Schnitt deutlich jünger. Es handelte sich häufig um junge Rebellinnen, die offen sagten: Weil er verboten ist, muss ich ihn tragen. Weil dieses Symbol geächtet wird, muss ich mich dazu bekennen.

Der Nikab wird durch das Verbot zu einem Faszinationsobjekt?
Für gewisse Musliminnen wird er dadurch attraktiver. Insbesondere für Konvertitinnen: Etwa die Hälfte der Nikab-Trägerinnen in Frankreich sind Konvertitinnen. Das ist ein sehr hoher Anteil. Konvertiten machen etwa 1 Prozent der muslimischen Gesamt­population in Frankreich aus. Bei den Nikab-Trägerinnen jedoch sind es 50 Prozent.

Die Trägerinnen haben also nicht das soziologische Profil, das man erwarten würde?
Unter meinen Gesprächs­partnerinnen gibt es zum Beispiel die Tochter eines erfolg­reichen französischen Architekten-Ehepaars oder eine junge Frau aus geordneten kleinbürgerlichen Verhältnissen, die in einem Vorstadt-Einfamilien­haus aufgewachsen ist. Es gibt sehr viele solche jungen Frauen aus französischen Familien. Ähnliche soziologische Profile findet man übrigens auch bei den jungen Frauen, die nach Syrien gegangen sind und sich dem Islamischen Staat angeschlossen haben. Auch hier handelt es sich häufig um junge Frauen aus relativ privilegierten Verhältnissen, die weder aus Einwanderer­familien noch aus sehr armen oder schwierigen Verhältnissen kommen. Sie wurden zu Opfern einer Faszination, die andere Gründe hat.

Welche?
Der Medien­diskurs ist ein entscheidender Faktor. In Frankreich gibt es eine intensive Debatte darüber, wie der Radikalismus von den sozialen Netz­werken angeheizt wird, weil es ganze Internet­blasen gibt, in denen sich der Salafismus ausbreiten und die Leute indoktrinieren kann. Das geschieht zwar tatsächlich. Ich bin jedoch überzeugt, dass die herkömmlichen Massen­medien eine viel wichtigere Rolle spielen bei der Radikalisierung. Sie zementieren mit solcher Macht die immer selben Klischees über die Muslime – immer im Schutz der Behauptung, gegen den Islam als solchen habe man selbst­verständlich gar nichts –, dass zu guter Letzt die Musliminnen und die Konvertitinnen diesen Klischees auch wirklich ähnlich sehen wollen.

Es gibt aber auch junge Frauen aus muslimischen Einwanderer­familien, die den Nikab tragen.
Sie machen die andere Hälfte der Nikab-Trägerinnen aus. Allerdings haben sie mit den Konvertitinnen etwas gemeinsam: Sie kommen fast ausnahmslos aus nicht religiösen Familien und sind nicht religiös erzogen worden. Der Nikab ist nicht das Zeichen der Unterwerfung unter eine Familien­tradition, schon gar nicht einer erzwungenen Unterwerfung, sondern eine Revolte gegen die Eltern und das Herkunfts­milieu. Sie geben ihren Eltern zu verstehen: Ihr habt eure Identität verraten und euch angepasst. Ich kehre zurück zu meinen Wurzeln. Auch die Konvertitinnen kommen im Übrigen in der Regel aus nicht religiösen Familien, die zudem dem Islam gegenüber einen expliziten Vorbehalt haben. Jedenfalls hört man von Konvertitinnen sehr häufig: Ach, wissen Sie, meine Eltern sind islamophob. Häufig beginnt die Revolte damit, dass die jungen Frauen in der Adoleszenz Liebes­geschichten haben mit arabisch­stämmigen Jungs. Der pseudo­feministische Diskurs, der sagt, wir müssen arme, unterdrückte Mädchen vom familiären Zwang befreien, den Nikab zu tragen, hat nichts mit der Realität zu tun.

Sie sagen, der Nikab habe seine richtige Faszinations­kraft erst mit dem Verbot im Jahr 2010 bekommen. Wie ist die Entwicklung seither?
Der Nikab ist heute sehr viel weniger populär, aber das hat nichts mit dem gesetzlichen Verbot zu tun.

Sondern?
Entscheidend waren die Bilder aus Syrien: Es gab unter den französischen Nikab-Trägerinnen auch junge Frauen, die nach Syrien gingen – obschon es eine relativ kleine Minderheit war. Erst 2017, 2018, als der Niedergang des Islamischen Staates begann und die ersten Bilder von Frauen in IS-Gefangenen­lagern nach Europa kamen, trat eine Veränderung ein. Alle diese Gefangenen mussten den Nikab tragen, waren aber vernachlässigt und verdreckt. Es waren Elends­bilder, welche die Verführungs­kraft des Nikab schwer beschädigt haben. Er wurde zum Symbol des Scheiterns, zum Symbol eines Terrorismus, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Seither wurde der Nikab in Frankreich spürbar seltener.

Das heisst aber auch, dass es einen Bezug zwischen dem Tragen des Nikab und dem Terrorismus des IS gibt.
Den gibt es. Auch wenn, wie gesagt, eine Minderheit der Nikab-Trägerinnen sich so stark radikalisiert hat, dass sie nach Syrien ging. Aber das ist genau der Grund, weshalb das französische Vollverschleierungs­verbot so verantwortungslos ist. Eine beträchtliche Zahl von Frauen hat überhaupt nur aufgrund der durch das Verbot gesteigerten Faszinations­kraft des Nikab den Weg in den Salafismus und schliesslich in den Dschihad eingeschlagen. Selbst wenn diese Frauen nicht an fürchterlichen Verbrechen teilgenommen haben und heute wieder aus Syrien zurückgekehrt und etwas zur Vernunft gekommen sind: Ihr Leben ist zerstört. Natürlich gab es auch Dschihadistinnen aus anderen europäischen Ländern, aber Frankreich ist stark über­proportional vertreten. Die politische Mehrheit, die damals das Vollverschleierungs­verbot durchdrückte, hat tragischen Schaden angerichtet.

Viele Feministinnen, die das Nikab-Verbot unterstützen, sagen: Das soziologische Profil der Nikab-Trägerinnen steht gar nicht im Zentrum. Der Nikab ist das Symbol des Salafismus, und der Salafismus ist frauen­verachtend. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob der Nikab von drei oder von dreitausend Frauen getragen wird. Der Nikab muss verboten werden, nicht aus pragmatischen, sondern aus prinzipiellen Gründen.
Es stimmt: Es ist der Salafismus, der den Nikab in Europa in Mode brachte. Eine wichtige Rolle spielte zwar auch die Frömmigkeits­bewegung des Tabligh, die bereits in den Siebziger- und Achtziger­jahren in Europa sehr einflussreich war und die ebenfalls das Tragen des Nikab propagiert, aber zu der Zeit hat das niemanden gestört. Allerdings beschränkt sich die Kleider­ordnung für europäische Fundamentalisten nicht auf die Frauen: Die Männer müssen den Kamiz, das heisst ein knielanges Hemd, eine Dreiviertel­hose, welche die Knöchel freilässt, und einen Vollbart bei rasierter Oberlippe tragen.

Darüber wird jedoch nicht diskutiert.
Was ich am feministischen Feldzug gegen die Symbole des Fundamentalismus nicht verstehe: Warum geht man auf die Frauen los? Warum verbietet man nicht diese Bartrasur oder die entsprechenden Kleidungs­stücke für die Männer, wenn man findet, die Symbole des Salafismus seien so unerträglich, dass sie im öffentlichen Raum nicht auftauchen dürfen? Es ist immer dieselbe Geschichte: Den Frauen macht man drakonische Vorschriften, den Männern gegenüber ist man tolerant. Im Namen des Feminismus? Ich finde das grotesk.

Hat es vielleicht damit zu tun, dass der Nikab ein offensichtlicheres, massiveres Symbol ist als ein salafistischer Vollbart?
Das ist eine optische Täuschung, aber kein überzeugendes Argument. Männer, die den Dresscode der Salafisten respektieren, sind ganz eindeutig identifizierbar. Sie marginalisieren sich nicht weniger als die Frauen, die den Nikab tragen. Auf dem normalen französischen Arbeits­markt sind sie chancenlos geworden. Der Grund, weshalb man zwischen Männern und Frauen diesen seltsamen Unterschied machen will, kann nur darin liegen, dass die Salafisten­tracht des Mannes als selbstbestimmt, die Burka aber als Unterwerfungs­geste betrachtet wird.

Ist das falsch?
Hier liegt das Grund­missverständnis, das daher rührt, dass viele vielleicht wohlmeinende Feministinnen nicht die geringste Ahnung haben, wovon sie reden. Ich habe schon erwähnt, dass viele Nikab-Trägerinnen sich in einer post­pubertären Rebellion gegen ihr Elternhaus befinden. Es gibt noch eine zweite wichtige Kategorie: Viele vollverschleierte Frauen sind schon etwas älter, unverheiratet, haben eine gescheiterte Ehe oder wechselnde Beziehungen hinter sich, nicht wenige sind allein­erziehende Mütter. Es gibt gar keinen Mann in ihrem Umfeld, dem sie sich unterwerfen könnten. Und das ist auch der Grund, weshalb sie den Nikab tragen: Sie suchen einen Mann.

Und da hilft ihnen ausgerechnet die Vollverschleierung?
Der Nikab ist ein Faszinations­objekt für salafistische Männer. Seine Trägerinnen wiederum träumen vom perfekten, frommen Ehemann, der tugendhaft ist und sie nicht verlassen wird. Die Vollverschleierung dient ganz explizit dem Ziel, einen solchen zu finden. Nicht selten sind diese Nikab-Trägerinnen relativ randständige Frauen, ehemalige Drogen­süchtige oder Alkohol­abhängige, die glauben, auf diesem Weg zu ihrem Lebens­glück zu kommen. Um das zu schaffen, müssen sie sich besonders auszeichnen, und das soll der Nikab ermöglichen: Für Salafistinnen ist die Vollverschleierung kein Diktat, sondern eine besondere moralische Auszeichnung. Man stellt unter Beweis, dass man ganz besonders fromm ist, wenn man ihn trägt. Aus Sicht der Trägerinnen ist er ihre allerintimste, aller­eigen­verantwortlichste Entscheidung. Nichts könnte absurder sein als der Vorwurf, sie würden sich durch die Vollverschleierung unterwerfen.

«Der Grund, weshalb manche Frauen den Nikab tragen: Sie suchen einen Mann.»

Man könnte aber sagen, sie unterwerfen sich den Konventionen einer fundamentalistischen Religionsgemeinschaft.
Selbstverständlich, aber immer wenn Frauen – oder Männer – soziale Distinktion durch das Respektieren einer bestimmten Kleider­ordnung erreichen wollen, unterwerfen sie sich bestimmten Konventionen. Eine gute französische Bourgeoise, die einen Haarreif, eine doppelreihige Perlen­kette, einen knielangen Plissé­jupe, lackierte Halbschuhe ohne Absatz trägt und damit signalisiert, dass sie nicht nur distinguiert ist, sondern auch einen ehrbaren Lebens­wandel hat, unterwirft sich ebenfalls ganz präzis definierten Konventionen.

Und viele Nikab-Trägerinnen sind auf der Suche nach einem Partner?
Sie tragen den Nikab, weil sie einen Mann suchen, über den sie die Kontrolle wollen – und nicht weil sie kontrolliert werden. Der Nikab ist ein Mittel, um die Männer moralisch unter Druck zu setzen.

Aber diese Moral, mit der die Männer unter Druck gesetzt werden sollen, ist extrem patriarchalisch. Sie postuliert die Ungleichheit zwischen Mann und Frau und autorisiert zum Beispiel die Männer, ihre Frauen zu schlagen.
Dieses Argument hat eine gewisse Berechtigung, sofern wir vom Tabligh reden. Das sind wie gesagt, sehr fromme, orthodoxe Gemeinden, in denen ein hohes Mass an sozialer Kontrolle über die Mitglieder ausgeübt wird und in denen in der Tat ein grosser Gehorsam verlangt wird. Allerdings unterliegen die Männer diesem Zwang nicht weniger als die Frauen. Dass die Männer über den Frauen stehen sollen, befreit sie nicht von der Regeltreue. Auch das ist eine Seltsamkeit der Debatte: Es wird immer so argumentiert, als würde die Unterwerfung nur die Frauen betreffen. Aber einer fundamentalistischen Religions­gemeinschaft anzugehören, sperrt Männer wie Frauen in ein Zwangs­korsett ein. Die soziale Kontrolle innerhalb solcher Gemeinden ist erdrückend, ganz unabhängig vom Geschlecht. Allerdings gilt das genau für den Salafismus, um den es hier primär geht, überhaupt nicht.

Aber auch der Salafismus predigt eine ultraorthodoxe Frömmigkeit voller Verbote und Regeln.
Das ist richtig, aber die soziale Kontrolle ist quasi inexistent, weil es sich hauptsächlich um virtuelle Gemeinden handelt. Alles läuft über das Internet. Sowohl für Frauen als auch für Männer gibt es deshalb wenig faktische Zwänge. Sie sammeln im Netz die Elemente einer Do-it-yourself-Religiosität und stellen sich das Menü ihrer Lebens­regeln relativ autonom zusammen. Natürlich wählen sie sich bestimmte Rollen­modelle und versuchen diese zu imitieren. Aber es sitzt ihnen niemand im Nacken, der Druck ausüben würde und sie kontrollieren könnte.

Das klingt schon beinahe nach postmodernem Individualismus.
Den Leuten ist nicht bewusst, wie weit die Sitten realer Nikab-Trägerinnen von den Fremdbestimmungs­klischees entfernt sind. Es gibt zum Beispiel nicht wenig vollverschleierte Salafistinnen, die ein recht modernes, will sagen sehr bewegtes Liebes­leben haben. Sie können auf entsprechenden Websites ganz einfach fromme Heirats­kandidaten kennen­lernen und die religiöse Ehe kann ausgesprochen werden, ohne dass die Partner oder die Trauzeugen sich real begegnet sein müssten. Das geht verblüffend schnell. Es erinnert einen manchmal ein bisschen an Tinder. Wenn man dann ein paar Wochen zusammen verbracht hat und offensichtlich wird, dass auch dieser Bräutigam nicht der Traum­mann ist, kann ganz einfach die Scheidung vollzogen werden. Es reicht, dass der Mann dreimal auf Arabisch «Ich verstosse dich» sagt, und schon ist alles erledigt.

Aber das kann nur der Mann tun.
Richtig. Aber mir haben schon einige Salafistinnen sehr glaubwürdig dargelegt, dass sie dem Mann keine Wahl gelassen haben. Nach französischem Recht sind diese Ehen inexistent. Und der Ehemann hat auch keine Gemeinde im Rücken, welche die Frau unter Druck setzen könnte. Das soll im Übrigen nicht heissen, dass diese Frauen nicht ganz ehrlich und voller religiösen Eifers den frommen Traum­mann suchen – und dass ihre Ehen gerade deshalb häufig sehr kurzlebig sind. Aber auch das ist ja ein allgemeines Zeitphänomen, das mit dem Fundamentalismus per se nichts zu tun hat: der erdrückende Traum vom idealen Wunsch­partner, der es den Frauen letztlich verunmöglicht, stabile Partnerschaften einzugehen.

Wenn diese Lebens­entwürfe in vielen Aspekten so selbst­bestimmt und modern sind, weshalb müssen sie sich dann hinter dem Gesichts­schleier verstecken?
Auffallend häufig haben Nikab-Trägerinnen eine Ausbildung als Kosmetikerin hinter sich. Sehr viele der Frauen haben mir davon erzählt, wie besessen sie als junge Mädchen von den Hochglanz­magazinen waren, dass sie davon träumten, Mannequin zu werden, und wie dankbar sie sind, dass Allah sie vor diesem Irrweg bewahrt hat. Viele dieser Frauen haben auch ganz offensichtlich schlechte Voraussetzungen, um dem Schönheits­ideal der Hochglanz­magazine zu entsprechen, eine schlechte Haut, eine markante Nase oder sonstige Makel. Viele sind übergewichtig. Der Nikab ist offensichtlich ein Mittel, mit den eigenen Komplexen umzugehen. Diese Frauen wollen einem Weiblichkeits­ideal entfliehen, von dem sie sich vollkommen dominieren liessen und dem sie nicht gerecht werden konnten. Man kann diese Kategorie der Nikab-Trägerin bis zu einem gewissen Grad mit magersüchtigen Frauen vergleichen.

Inwiefern?
In beiden Fällen geht es darum, sich selber zum Verschwinden zu bringen, den eigenen Körper aus dem Blickfeld der anderen zu tilgen, weil die Zumutung, einem Weiblichkeits­ideal genügen zu müssen, zur psychischen Überforderung wird. Auch Magersüchtige sind ja häufig sehr stark beeinflusst vom Magerwahn der Modeindustrie und enden schliesslich dabei, ihren eigenen Körper wegzuhungern. Nikab-Trägerinnen machen etwas Ähnliches: Sie hungern den Körper nicht weg, sie verstecken ihn vollständig hinter Tuch. Hier müsste eine echte feministische Reflexion über den Nikab ansetzen.

Weshalb?
Die interessante Frage ist doch: Weshalb entwickeln diese Frauen, die in Frankreich sozialisiert worden und unter unseren scheinbar so aufgeklärten, gleich­berechtigten Bedingungen aufgewachsen sind, das Bedürfnis, ihren eigenen Körper zum Verschwinden zu bringen? Das hat nichts zu tun mit islamischen Traditionen, sondern mit dem Platz der Frau in der europäischen Gesellschaft. Frankreich zum Beispiel wird jetzt erfasst von einer neuen Enthüllungs­welle über Inzest und sexuelle Gewalt gegen Kinder, und schon seit einiger Zeit bringt die Me-too-Bewegung wieder zu Bewusstsein, welch grosse Toleranz gegenüber sexueller Gewalt hier immer noch vorhanden ist. Auch in den Lebens­geschichten der Nikab-Trägerinnen hat es häufig sexuellen Missbrauch gegeben. Etwas verkürzt könnte man sagen: Der Vergewaltigung gegenüber – die gewalttätig und erzwungen ist – ist man de facto immer noch extrem tolerant. Aber die Verhüllung – die frei gewählt ist – will man um jeden Preis unterbinden. Ich empfinde das als vollkommen pathologisch. Dass ein Teil des europäischen Feminismus da mitmacht, wirft ein paar sehr hässliche Fragen auf.

Es ist vielleicht der uneingestandene Grund, weshalb die Befürworterinnen des Verbots häufig gar nicht erst mit den Verhältnissen in Europa argumentieren wollen. Sie sagen: In Saudiarabien herrscht Verschleierungs­zwang, und der Nikab ist dort weit verbreitet. Saudiarabien missachtet aber auf krasse Weise die Rechte der Frauen. Ergo darf der Nikab bei uns nicht toleriert werden.
Natürlich gibt es eine massive Missachtung von grundlegenden Frauen­rechten in Saudiarabien. Aber es hat keinen Sinn, ein Land, in dem der Nikab zum Traditions­bestand gehört, mit Europa zu vergleichen. Das ist ein bisschen wie das chinesische Krawattenverbot.

Das chinesische Krawattenverbot?
Während der Kultur­revolution war in China die Krawatte verboten, weil sie als Symbol des kapitalistischen Westens betrachtet wurde. Auch im Iran war sie lange verboten, weil sie als Symbol des westlichen Imperialismus betrachtet wurde. Wird heute in Teheran ein Krawatten­träger festgenommen und angeklagt, er sei ein westlicher Spion, nur weil er eine Krawatte trägt, dann finden wir das absurd. Mit dem Nikab machen wir aber genau dasselbe. Er ist ein religiöses Symbol, das innerhalb des Islams in Europa eine bestimmte Rolle spielt und für eine fundamentalistische Haltung steht. Aber er ist kein Bekenntnis zum saudischen Königshaus.

Die Vollverschleierung wird vom politischen Islam allerdings zur Agitation benutzt. In der Schweiz ist zum Beispiel der Islamische Zentralrat der Schweiz aktiv, der auch mit Geldern aus der Golfregion finanziert wird und zu dessen Vorstand der ehemalige Ehemann der inzwischen verstorbenen Nora Illi gehört, einer sehr mediatisierten Nikab-Trägerin. Qaasim Illi wurde inzwischen wegen Verbreitung von Al-Qaida-Propaganda verurteilt.
Natürlich lässt der Nikab sich instrumentalisieren, und natürlich kann es Verbindungen geben zum politischen Islam oder auch zum islamistischen Terrorismus. Aber diese Instrumentalisierung wird erst dann richtig interessant, wenn der Nikab verboten ist. Auch in Frankreich gab es islamistische Agitatoren, die sich nach dem Verbot als Verteidiger der Nikab-Trägerinnen profilierten. Der algerische Geschäfts­mann Rachid Nekkaz, der in der Schweiz schon vor längerem angekündigt hat, die Bussen von Nikab-Trägerinnen begleichen zu wollen, tat dasselbe auch in Frankreich. Amüsant ist, dass er offenbar nicht Wort hält. Viele meiner Gesprächs­partnerinnen haben mir erzählt, sie hätten Belege für ihre Bussen an Nekkaz geschickt, der aber habe nie gezahlt. Trotzdem bekommt Nekkaz eine irrwitzige Medien­aufmerksamkeit für das Spektakel, das er veranstaltet.

Es gibt auch liberale Imame, die das Verhüllungs­verbot unterstützen.
Das ist nicht überraschend. Der Nikab gehört nicht zur normalen Glaubens­praxis in Europa, die Nikab-Trägerinnen sind alles andere als willkommen in den traditionellen Moscheen. Wenn da der eine oder andere Imam zum Schluss kommt, dass es besser ist, mitzuziehen beim Verbot und sich öffentlich vom Salafismus abzugrenzen, ist das nachvollziehbar. Aber wir sollten nicht naiv sein. Das französische Nikab-Verbot wurde von der überwältigenden Mehrheit der französischen Muslime als islamfeindlich empfunden, nicht unberechtigter­weise. Das war ganz deutlich, obwohl die allermeisten französischen Muslime den Nikab ablehnen und nicht direkt betroffen waren vom Verbot. Aber sie wurden wieder an den Pranger gestellt. Es wurde wieder von ihnen verlangt, sich zu rechtfertigen und von Glaubens­genossinnen zu distanzieren. Das Verbot hat einen weiteren Beitrag geleistet zur Spaltung der französischen Gesellschaft.

Hat sich diese Spaltung auch konkret manifestiert?
Das deutlichste Zeichen war, dass es nach dem Verbot sehr häufig zu Tätlichkeiten und verbalen Ausfällen gegen Nikab-Trägerinnen kam. Die Leute fühlten sich dazu autorisiert, Nikab-Trägerinnen öffentlich zu beschimpfen, zu bespucken oder ihnen den Schleier vom Gesicht zu reissen. Bemerkenswert ist, dass die Angreiferinnen sehr häufig Frauen waren. Und noch etwas ist auffällig: Immer wieder wurde mir erzählt, dass die Beschimpfungen am heftigsten waren, wenn die Nikab-Trägerin allein oder mit ihren Kindern unterwegs war. Was nie vorkam, ist, dass eine Nikab-Trägerin, die von einem Mann begleitet wurde, angegriffen wurde. Dann war offenbar alles in Ordnung, obwohl es nach dem Glauben der Nikab-Gegnerinnen doch die Männer sein sollen, welche die Frauen zur Vollverschleierung zwingen. Die Nikab-Gegnerinnen scheinen sich an die ewige, eherne Regel zu halten: Die Männer lässt man gewähren, auf die Frauen geht man los. Ausser sie stehen unter dem Schutz eines Mannes. Wenn die Initiative angenommen wird, werden Sie das wohl auch in der Schweiz beobachten können.

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