Binswanger

Es geschah am helllichten Tag

In den USA läuft der Amtsenthebungs­prozess gegen Donald Trump. Er zeigt, wie wenig es braucht, um eine Demokratie zu zerstören.

Von Daniel Binswanger, 13.02.2021

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Es war ein erschütterndes Erlebnis diese Woche, die Übertragung des Impeachment-Prozesses im amerikanischen Senat zu verfolgen. Selten hatte ich so intensiv das Gefühl, Geschichte zu erleben, während sie geschrieben wird. Das hat nicht eigentlich damit zu tun, dass der Prozess eine so grosse Bedeutung hätte. Sicherlich wird zum ersten Mal ein US-Präsident gleich zweimal impeached. Sicherlich wird der Ausgang des Prozesses auf Jahre hinaus tiefgreifende Folgen haben für die amerikanische Politik. Aber es gibt viel bedeutendere historische Wendepunkte, etwa Trumps initialen Wahlsieg 2016 oder den 11. September 2001. Dem vermutlich ohnehin scheiternden Impeachment kann man eine epochale Bedeutung im Grunde absprechen.

Hinzu kommt, dass der Sturm auf das Kapitol zwar von nicht überbietbarem symbolischem Gewicht ist, dass er glücklicherweise aber wenig Todesopfer gefordert hat. Wenn die Anzahl der Opfer ein Massstab für die Relevanz einer historischen Katastrophe sein soll, kann man den Kapitol-Sturm bestimmt nicht zu den grossen Tragödien zählen.

Trotzdem gab einem der Prozess das Gefühl, einer schwer zu ertragenden Realität ins Gesicht zu blicken. Einer Realität, die wir ständig verdrängen und die nur an den grossen, geschichtlichen Bruchstellen ins Bewusstsein tritt.

Der Lack der Zivilisation ist nicht mehr als eine hauchdünne Glasur. Zivilisierte, im grossen Ganzen relativ gewaltfreie politische Sitten sind eine Errungenschaft, die uns selbst­verständlich erscheint, jedenfalls für die westlichen Demokratien. Sie stellen aber eine extrem anspruchsvolle Leistung dar und sind niemals garantiert. Es braucht nur wenig, und unsere demokratischen Werte, unsere rechts­staatlichen Traditionen, unsere repräsentativen Institutionen werden weggefegt von reiner Mordlust und nackten Lügen. Von der ungefilterten, primären Barbarei.

Wir alle kennen diese Verstörung von der Auseinandersetzung mit historischen Phänomenen wie dem Nazismus oder dem Stalinismus. Die hilflose und bohrende Frage: Wie ist so etwas möglich? Der Sturm aufs Kapitol erscheint im Vergleich zwar nur wie eine Fussnote. Aber auch hier stellte sich das Gefühl der Unerklärbarkeit ein: Wie kann es dazu kommen?

Es kann dazu kommen, jederzeit. Das ist die Lektion dieses Prozesses. Wir müssen deshalb sehr genau hinschauen. Und genau zu verstehen versuchen, was da vorgefallen ist. Auch wenn es grosse Unterschiede gibt zwischen der Politik in den USA und der Politik in europäischen Ländern, auch wenn wir den Vereinigten Staaten aus den verschiedensten Gründen sehr kritisch gegenüber­stehen können: Diese politische Kultur ist auch die unsere. Was in Washington geschieht, kann auch in Berlin geschehen. Oder in Bern.

Im Wesentlichen sehe ich vorderhand drei Lektionen.

Erstens: Das Schicksal politischer Systeme hängt immer ganz entscheidend an der Vernunft ihrer konservativen Kräfte. Es ist letztlich die entsetzliche moralische Verkommenheit der Republikanischen Partei, die das Trump-Phänomen ermöglicht hat. Wenn das Partei­establishment den faustischen Pakt mit dem pathologischen Populisten niemals eingegangen wäre, hätte es so weit nicht kommen können.

Der Pakt lautete: Du bringst uns die Stimmen, die wir brauchen für unsere Steuer­senkungen und unsere Richter­ernennungen. Wir lassen dich im Gegenzug gewähren. Wir tragen alle deine Tabu­brüche, deine rassistischen Ausfälle, alle deine Verstösse gegen Sitten und Gesetze passiv mit. Dieser Zynismus hat die US-Demokratie an den Rand des Untergangs gebracht.

Allerdings sind heute auch in Europa alle rechten Parteien mit diesem Dilemma konfrontiert. Der Populismus zieht. Die Macht­strategie bietet sich an. Bis anhin ist bei uns der Ausverkauf der konservativen Werte im selben Mass nicht beobachtbar. Die Frage lautet: Wie lang?

Wie schon einmal erwähnt, hat der Harvard-Politologe Daniel Ziblatt eine heute wieder hochaktuelle, sehr voluminöse Studie darüber verfasst, weshalb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewisse Länder in den Faschismus abglitten und andere ihre demokratischen Institutionen zu bewahren wussten. Der entscheidende Faktor sind die konservativen Traditions­parteien. Wenn diese politischen Kräfte versagen und einen Pakt mit radikalen Kräften suchen, ist das Überleben der Demokratie immer akut infrage gestellt.

Zweitens: Demokratische Politik muss ein wenig mehr sein als ein Machtkalkül. Die ganze Aufmerksamkeit liegt jetzt auf den Führungs­figuren innerhalb des republikanischen Partei­establishments. Es gibt im Wesentlichen zwei Fraktionen: die Rassistinnen, Spinner und Trumpianerinnen, die QAnon-Abgeordneten und Waffennarren auf der einen Seite, die Big-Business-Vertreterinnen auf der anderen Seite. Die eine Seite hat bessere Chancen auf Wähler­stimmen, die andere Seite hat bessere Chancen auf Sponsoren­gelder. Theoretisch gibt es zwar auch noch eine dritte Fraktion: Vertreter eines altmodischen, prinzipien­festeren Republikanismus wie Mitt Romney. Sie scheinen momentan aber keine Rolle mehr zu spielen.

Nun ist ein quälender Eiertanz losgegangen, mit dem die wichtigen Republikaner sowohl die Trump-Basis als auch die Wirtschafts­elite auf ihrer Seite zu halten versuchen. Trump kontrolliert weiterhin eine Mehrheit der Parteibasis, weshalb er vermutlich nicht impeached werden wird.

Es könnte aber auch sein, dass im Geheimen ein Weg gesucht wird, Trump verurteilen zu lassen, ohne dass man dafür die Verantwortung übernehmen müsste. Dann wäre er aus dem Weg geräumt, und die Kronprätendenten könnten versuchen, die Maga-Basis («Make America Great Again») zu übernehmen. Verantwortungsvolle Politikerinnen würden jetzt alles daransetzen, die Maga-Basis aufzulösen und die republikanische Partei neu aufzustellen. Doch was wir live beobachten können, ist nur ein zynisches Taktieren. Die Parteiführer übernehmen keine Verantwortung, sie optimieren ein komplexes Machtkalkül.

Das führt zum dritten Punkt: Zweiparteiensysteme haben in normalen Zeiten den Vorteil, dass sie für Stabilität sorgen. Im heutigen Amerika erweisen sie sich jedoch als Höllen­maschinen der Polarisierung. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Amerikanerinnen sich für ein Impeachment von Trump aussprechen würde. Unter den republikanischen Wählern ist jedoch immer noch eine Mehrheit von Trumps Unschuld und vom Wahlbetrug überzeugt.

Das gibt dem Ex-Präsidenten weiterhin die potenzielle Kontrolle über die republikanische Partei – und damit mehr oder weniger über die Hälfte des Landes und der Macht. In einem Mehrparteien­system würde nun vielleicht eine Maga-Partei entstehen, die 20 oder 25 Prozent der Stimmen kontrolliert. Dank dem Zweiparteien­system hat Trump aber weiterhin die Aussicht, das ganze rechte Spektrum zu dominieren.

Das Eindrücklichste am Kapitol-Prozess ist wohl die Tatsache, dass die potenziellen Opfer des Angriffs die heutigen Richterinnen sind. Viele Senatoren sind ihrer kalt­blütigen Ermordung wohl nur ganz knapp und mit viel Glück entgangen. Und jetzt sitzen sie da, kochen ihr kleines Süppchen, versuchen weiterhin, nur ja den Ex-Präsidenten nicht zu provozieren, und verbreiten absurde Ausflüchte auf Fox News. Sie wollen eben um jeden Preis ihre Macht erhalten. Selten hat der blanke Zynismus eine jämmerlichere Fratze präsentiert. Auch das ist eine Lektion dieses Prozesses.

Vielleicht die wichtigste.

Illustration: Alex Solman

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