Wer oben steht, hat es verdient – und wer unten ist, ist selbst schuld? Waddell Street in Athens, Georgia. Joakim Eskildsen/Institute

Gegen die Meritokratie

Wie konnte aus einer Schreckensvision eine global akzeptierte Norm werden? Warum Leistung als moralische Grundlage der Gesellschaft nicht funktioniert.

Ein Essay von Daniel Binswanger, 06.02.2021

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«Wir waren moralisch nicht vorbereitet auf die Pandemie», schreibt Michael Sandel im Vorwort zu seinem jüngsten grossen Werk «The Tyranny of Merit» (auf Deutsch: «Vom Ende des Gemeinwohls»). Eine seltsame Feststellung: Soll die Pandemie­prävention jetzt auch noch eine Frage der Moral sein? Zur Bewältigung der Pandemie braucht es Impfstoffe, Intensiv­betten, Hygiene­konzepte. Aber Moral? Oder will da mal wieder jemand die Krise benutzen zum blossen «Moralisieren»?

Der Harvard-Professor Michael Sandel ist einer der bedeutendsten und einflussreichsten Moral­philosophen unserer Zeit – des hohlen Pathos gänzlich unverdächtig. Er will einen grundsätzlichen Punkt machen: Wir haben zwar die Neigung, es zu verdrängen, aber letztlich geht es bei entscheidenden gesellschaftlichen Fragen immer um Moral. Es geht immer auch darum, was wir für richtig und was wir für falsch halten. Wie wir den Unterschied machen zwischen schätzens- und verachtenswert. Es geht nicht nur darum, was wir tun, sondern darum, ob wir glauben, es mache uns zu guten Menschen.

Geschichte eines Wertewandels

Was Sandel mit seinem «Ende des Gemeinwohls» nachzeichnet, hat mit der Covid-Krise direkt wenig zu tun. Es ist eine Aufarbeitung nicht der realen Pandemie, sondern einer epochalen politischen Kontamination: der neu erblühenden Demokratie­verachtung, des Niedergangs der öffentlichen Debatte, der wieder erstarkten Macht von Desinformation und Propaganda, dessen eben, was man gemeinhin Rechts­populismus nennt und was in den USA so bedrohliche Gestalt angenommen hat während der Präsidentschaft von Donald Trump. Und mit ihrem Ende nicht vorbei ist.

Sandel analysiert eine Verschiebung in unserem Werte­system, eine allmähliche Veränderung in den moralischen Grundlagen der Gesellschaft, die sich über die letzten dreissig, vierzig Jahre vollzogen hat. Und er entwickelt ein eigenes Narrativ, das auf eine grundsätzliche Weise erfassen soll, was schon so oft beschrieben und denunziert worden ist unter Titeln wie «Neoliberalismus» und «Globalisierung». Seine Erzählung soll eine Erklärung liefern, weshalb die Ungleichheit in den meisten Ländern zugenommen hat, weshalb die politischen Kohäsions­kräfte geschwächt worden sind – und auch weshalb heute die gesellschaftliche Solidarität so weit zurück­gegangen ist, dass eine Pandemie Tausende und Abertausende Opfer fordert, die eigentlich hätten vermieden werden können. In den USA – und anderswo. Im Namen welcher Werte geschieht so etwas?

Der Kernbegriff für Sandels Gegenwarts­diagnose lautet Meritokratie – die Herrschaft derer, die dafür auch in besonderem Masse qualifiziert sind. Sie ist gemäss dem Philosophen die eigentliche Grundlage unseres heutigen Werte­systems, die Basis unserer tiefstverankerten Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit. Sie prägt die massiven Veränderungen, die im Zuge der Globalisierung unser Wirtschafts­system verändert haben.

Die neue Hierarchie

Meritokratie durchdringt inzwischen unser ganzes Leben: unsere Familien­verhältnisse, unsere Bildungs- und unsere Erwerbs­biografien. Sie hat die ideologischen Diskurse neu formatiert, den Unterschied von links und rechts transformiert und erstaunlich weitgehend unterlaufen. Wir alle sind durchdrungen vom Ethos der Meritokratie, selbst wenn wir zu Elitedünkel ein durchaus kritisches Verhältnis haben. Wir leben in seiner Epoche. Und wenn wir verstehen wollen, was heute als «Demokratie­krise» in aller Munde ist, dann muss die Analyse bei der Meritokratie ihren Ausgang nehmen.

Mit dieser Diagnose ist Michael Sandel bei weitem nicht allein, aber er hat vermutlich das bisher beste und tiefgründigste Werk zum Thema verfasst. Seit einiger Zeit ist es zu einer regelrechten Inflation von Publikationen über das Phänomen gekommen, insbesondere in der angelsächsischen Welt, von «The Meritocracy Trap» (die Falle der Meritokratie) des Yale-Juraprofessors Daniel Markovits über «The Crisis of the Meritocracy» (die Krise der Meritokratie) des Cambridge-Historikers Peter Mandler bis hin zu «Twilight of the Elites: America after Meritocracy» (Eliten-Dämmerung: Amerika nach der Meritokratie) des Starjournalisten Chris Hayes.

Was genau ist also Meritokratie? Es ist die Herrschaft derer, die es auch verdienen zu herrschen. Etwas technischer ausgedrückt: die Hierarchisierung der Gesellschaft gemäss dem objektiven Verdienst ihrer Mitglieder, gemäss ihren Fähigkeiten und Qualifikationen – oder eben ihren Meriten. Etymologisch leitet der Begriff sich ab vom lateinischen meritum, was Verdienst bedeutet. Praktisch bedeutet er etwas Simples: Die Hoch­qualifizierten und Kompetenten sollen oben in der Hierarchie stehen. Die Niedrig­qualifizierten und nicht durch geistige Brillanz Auffallenden sollen sich mit einem Platz am unteren Ende begnügen. Moralisch bedeutet dieses einsichtige Organisations­prinzip jedoch noch etwas anderes: Wer oben steht in einer solchen Hierarchie, der hat es auch verdient.

Eine frühe Prophetie

Etwas jedoch ist seltsam. Alle politischen Grundbegriffe wurden in der Antike geprägt oder entstammen der abendländisch-christlichen Tradition, nicht aber der Ausdruck Meritokratie. Dessen Erfindung lässt sich präzis datieren: auf das Jahr 1958. Damals publizierte der englische Sozialist Michael Young die dystopische Sci-Fi-Satire «The Rise of the Meritocracy» (auf Deutsch «Es lebe die Ungleichheit: Auf dem Wege zur Meritokratie») und setzte seine neue Wortschöpfung gleich in den Titel.

Young entwarf darin die Schreckens­vision einer Gesellschaft, die sich vollkommen rückhaltlos dem Leistungs­ideal verschreibt und in der die soziale Position der Bürgerinnen deshalb durch den Intelligenz­quotienten festgelegt wird. Arbeiter gibt es in der Meritokratie nicht mehr, man nennt sie nur noch «Techniker». Die Eliten­zugehörigkeit wird trotz objektiver Selektions­kriterien hereditär, ein illegaler Handel mit Babys, die einen hohen IQ haben, sorgt dafür, dass die Oberschicht ihre Position behaupten kann. Der Sozialismus paktiert mit den neuen Eliten und geht unter, er wird aber abgelöst von der Widerstands­bewegung des «Populismus». Die Tyrannei der Kompetenz-Eliten über die breite Masse führt schliesslich zu blutigen Aufständen und lässt den Untergang der Meritokratie absehbar werden. Für Young ist klar: Die Perfektionierung der Hierarchie gemäss reinen Leistungs­kriterien zerstört die Gesellschaft.

Diese verblüffend prophetische Fabel hat jedoch den Begriff Meritokratie nicht im Geringsten daran gehindert, von einer dystopischen Negativ­bezeichnung innert nur einer Generation zum kaum umstrittenen Ideal zu werden – ganz besonders zum Ideal einer bestimmten Linken und der progressiven Bewegungen.

Moralisch nackt

Allerdings beginnt die grosse Karriere der zeitgenössischen Meritokratie-Gläubigkeit mit US-Präsident Ronald Reagan und dessen optimistischem Glauben an die gerechte Belohnung des Tüchtigen. «It’s morning again in America» oder: Freie Fahrt dem Tüchtigen! Worin auch sonst soll die moralische Recht­fertigung des freien Marktes liegen, als darin, dass auf seinem Feld die Besten und Fähigsten sich durchsetzen?

Genau in diesem fundamentalen Punkt blieben auch die sozial­liberalen Reformer der 1990er-Jahre ihren «neoliberalen» Vorgängern treu. Sandel zitiert Tony Blair, der schon 1996, ein Jahr bevor er Premier­minister in Grossbritannien wurde, erklärte: «New Labour ist der Meritokratie verpflichtet.» Und 2001, als er für eine zweite Amtszeit kandidierte, versprach er ein «strikt meritokratisches Programm», das sich ganz dem Ziel verschreibe, «die Wirtschaft und die Gesellschaft für Verdienst und Talent zu öffnen».

Der damals 85-jährige Michael Young kam aus dem Staunen über diese Umdeutung seiner Begriffs­schöpfung nicht mehr heraus und giftete 2001 in einem «Guardian»-Artikel: «Ich habe vorausgesehen, dass die Armen und Benachteiligten herunter­gemacht würden, und genau das ist geschehen. (…) Es ist hart, wenn man in einer Gesellschaft, die grosse Verdienste so über alle Massen hoch bewertet, als jemand eingeschätzt wird, der keine hat. Noch nie ist die Unterschicht moralisch so nackt gewesen.»

Es ist grossartig, wenn Talent sich entfalten kann und wenn die Fähigen und Hochqualifizierten geschätzt, gefördert und mit allen Mitteln vor Diskriminierung geschützt werden. Aber eine Frage wird damit nicht beantwortet: Was geschieht mit den weniger hoch Qualifizierten und den weniger Fähigen? Mit denen, die die Mehrheit bilden? Sie sind in der Tat «moralisch nackt». Dass sie in der meritokratischen Hackordnung auf der Verlierer­seite stehen, haben sie sich selber zuzuschreiben. Die Gesellschaft teilt ihnen nicht nur ein bescheideneres Los zu, sie straft sie mit Verachtung. Worauf soll der Respekt auch gründen für Bürgerinnen, die aus eigener Schuld, in eigener Verantwortung und aller wohlmeinenden Förderung zum Trotz Heraus­ragendes nicht leisten können?

Natürlich lässt sich der Einwand machen, dass die moralische Nacktheit der Schwachen de facto von keinem Gesellschafts­system vermieden wird. Ist es nicht immer so gewesen, dass die Fähigeren einen Vorteil haben? Ist Meritokratie nicht eigentlich ein blosser Neologismus für ein Quasi-Naturgesetz? Dem ist, wie Sandel zeigt, ganz und gar nicht so.

Zwar trifft es auf alle Gesellschaften zu, dass die Durchsetzungs­stärksten sich die Macht­positionen sichern. Aber die Überzeugung, dass steile soziale Hierarchien durch Unterschiede in der Leistungs­fähigkeit restlos legitimiert werden sollen, ist relativ neu in der uns heute so selbstverständlich gewordenen Form. Und es ist ein alles entscheidender Unterschied, ob das soziale Gefälle zwischen den verschiedenen Schichten bloss als das faktische Ergebnis politischer Macht­kämpfe, als das wertfreie Resultat ökonomischer Verteilungs­mechanismen oder als moralisch gerechtfertigte Rangordnung betrachtet wird.

Letzteres bedeutet implizit: Die Gewinner sind auch die überlegenen Menschen. Und die Verlierer haben nichts anderes verdient.

Selektionsmaschinen

Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet ein Harvard-Professor sich so intensiv mit dem Phänomen der Meritokratie auseinander­setzt. Die Top-Universitäten sind der Ort, an dem die gesellschaftliche Valorisierung von Kompetenz und das Bemühen, legitime Eliten zu bilden, sich am prägnantesten manifestieren. Ihre Bedeutung als exklusive Zugangs­wege zu Wissen, Prestige und Macht hat in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen. Aber treffen sie dabei auch die richtige Auswahl? Und ist es überhaupt richtig, wenn Bildungs­institutionen eine Selektions­funktion übernehmen, die gesellschaftlich so grosses Gewicht bekommt?

Die Leistungsanforderungen für die Aufnahme an eine Elite­universität sind kontinuierlich höher geworden, nur schon deshalb, weil an den besten Adressen nur noch etwa 5 Prozent der Bewerbungen berücksichtigt werden. Es wird brutal gesiebt, in sehr viel höherem Masse als in der Vergangenheit. Stanford zum Beispiel akzeptierte in den 1970er-Jahren noch ein Drittel der Bewerber, während es heute weniger als 5 Prozent sind. Auch wer in Harvard, Princeton oder Yale einen Platz bekommen will, muss in der Regel den Nachweis einer ausser­ordentlichen Begabung mitbringen und sich gegen zwanzig Mitbewerberinnen durchsetzen.

Allerdings gibt es immer noch sogenannte Legacy-Zulassungen: Kinder, deren Eltern bereits dieselbe Universität besucht haben, werden erleichtert aufgenommen. Auch ist es nach wie vor möglich, über eine Grossspende die Gewährung eines Studien­platzes stark zu erleichtern, wenn nicht schlicht und einfach zu kaufen. In Harvard haben Nachkommen von Alumni eine mehr als sechsmal so grosse Chance, einen Platz zu ergattern, als Bewerber ohne familiäre Beziehungen zur Universität. Gerichts­dokumente belegen zudem, dass etwa 10 Prozent der Studien­plätze «im Zusammenhang» mit Sponsoring­beiträgen vergeben werden.

Dennoch wird auf eine authentisch meritokratische Auswahl immer grösserer Wert gelegt. Die meisten amerikanischen Top-Universitäten erteilen zum Beispiel «bedürfnisblinde» Zulassungen. Wenn zugelassene Studentinnen aus Verhältnissen stammen, die es ihnen nicht erlauben, die horrenden Studien­gebühren zu bezahlen, werden diese ihnen erlassen. Die Selektions­mechanismen könnten weiter verbessert, noch ausschliesslicher auf Leistungs­kriterien basiert werden, aber gemäss Sandel ist das gar nicht das Problem. Das Problem ist die Meritokratie an sich. Und dass die Elite­universitäten weitgehend daran scheitern, begabten Amerikanerinnen aus der Unterschicht einen Weg nach oben zu eröffnen.

Die Auserwählten am Reed College, Portland … Joachim Ladefoged/VII/Redux/laif
… und wer auserwählt ist, das bestimmen auch in Harvard, Boston, Herkunft und Geld. Joachim Ladefoged/VII/Redux/laif

Die Zahlen sind erdrückend: An den Ivy-League-Colleges und vergleichbaren Universitäten wie Stanford und Duke ist der Anteil der Zugelassenen, deren Familien dem obersten Prozent der Reichtumselite angehören, grösser als der Anteil aller Studenten, deren Eltern ein Einkommen in der unteren Hälfte der Einkommens­verteilung verdienen. Eine historische Studie über die Zulassungs­politik von Harvard, Yale und Princeton kommt zum Schluss, dass die Chancen für ein Arbeiter­kind, an einer dieser drei Universitäten aufgenommen zu werden, heute immer noch gleich hoch sind wie Mitte der 1950er-Jahre. Die Elite­universitäten sind nicht das Sprung­brett für sozialen Aufstieg, sondern der Ort, an dem soziale Privilegien von einer Generation zur nächsten transferiert werden. Und das eigentliche Problem dabei ist, dass dies nicht hauptsächlich auf «gekaufte» Studien­plätze zurück­geführt werden kann, sondern vielmehr darauf, dass die meritokratischen Selektions­kriterien tatsächlich respektiert werden.

Die amerikanische Oberschicht ist nämlich dazu übergegangen, enorme Summen in die Ausbildung ihres Nachwuchses zu investieren. Das beschränkt sich nicht nur auf den Zugang zu Privat­schulen, die ihren Abgängern einen Startvorteil verschaffen, sondern erstreckt sich auch auf das jahrelange Coaching für die College-Aufnahme­prüfungen, das mittlerweile noch teurer werden kann als das Studium selber.

Das Scheitern der Öffnung

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Anstrengungen gemacht wurden, den Zugang zu den Ivy-League-Universitäten nicht nur den Oberschicht-Kindern zu eröffnen, wurde nach Mitteln gesucht, objektive und möglichst von sozialen Privilegien unabhängige Testverfahren für Begabung zu entwickeln. Zu den wichtigsten bildungs­politischen Initiativen gehörte die Entwicklung des SAT (scholastic aptitude test), die James Conant, der damalige Präsident der Harvard University, vorantrieb mit dem expliziten Willen, die Elite­universität zugänglich zu machen für Talente aller Klassen. Im Gegensatz zu den Abgangs­zeugnissen der Highschool und zum bereits vor der Universität erreichten Bildungs­niveau, das stark vom Herkunfts­milieu beeinflusst ist, sollte der mehr wie ein Intelligenz­test aufgebaute SAT ein objektiveres und vor allem von sozialen Faktoren unabhängigeres Mass für Begabung liefern.

Bis heute ist der SAT das wichtigste Bewertungs­kriterium für Universitäts­zulassungen – aber an seinem egalitären Anspruch ist er grandios gescheitert.

Es hat sich gezeigt, dass der SAT noch stärker mit dem Herkunfts­milieu korreliert als das Leistungs­niveau des Highschool-Abschlusses, nicht zuletzt deshalb, weil entgegen der ursprünglichen Absicht für gute SAT-Resultate ein Coaching möglich bleibt. Die grosse Nachkriegs­vision einer dem Herkunfts­determinismus entzogenen Begabten­förderung erweist sich als Chimäre.

«Die Aristokratie der ererbten Privilegien ist abgelöst worden von einer meritokratischen Elite, die jetzt genauso privilegiert und gefestigt ist wie diejenige, die sie ersetzt hat», schreibt Sandel. (Alle Sandel-Zitate sind vom Autor aus dem Englischen übertragen.) Für eine Gesellschaft, deren Selbst­verständnis vom «amerikanischen Traum» und vom Glauben an soziale Mobilität geprägt wird, ist das eine fundamentale Unterminierung ihrer Wertebasis.

Das heutige System der Privilegien­tradierung bringt allerdings Veränderungen mit sich. Es funktioniert zwar relativ zuverlässig, ist aber ungeheuer kompetitiv und anstrengend geworden. Zur Oberschicht zu gehören, ist heute alles andere als ein Spass. Oder wie Sandel einen Harvard Admission Officer zitiert: Die Studentinnen stehen in ernster Gefahr, «die verstörten Überlebenden eines verwirrenden lebenslangen Bootcamps zu werden».

Wie intensiv dieses Bootcamp geworden ist, zeigt nicht nur die Tatsache, dass die Stunden, die amerikanische Eltern im Durchschnitt damit verbringen, ihrer Nachkommenschaft bei den Schul­aufgaben zu helfen, sich gemäss einer von Sandel zitierten Studie von 1976 bis 2012 verfünffacht haben. Auch das Risiko, psychische Probleme wie Depressionen oder eine Sucht­erkrankung zu entwickeln, ist inzwischen bei Teenagern aus privilegierten Milieus deutlich höher als bei Teenagern aus der Unterschicht. Der Druck, es unbedingt in ein Elite-College zu schaffen, hat seinen Preis.

Vor allem aber bringt die neue Art der Privilegien­tradierung eine widersprüchliche Veränderung des Selbst­verständnisses der Eliten mit sich. «Der meritokratische Erfolg hat eine paradoxe moralische Psychologie», schreibt Sandel. «Kollektiv und im Rückblick betrachtet, erscheint sein Resultat, wenn man sich die erdrückende Dominanz von Kindern aus reichen Haushalten an Elite­universitäten ansieht, fast vorher­bestimmt. Aber für diejenigen, die mitten im hyper­kompetitiven Kampf um die Zulassung zum Studium stehen, ist es unmöglich, Erfolg als etwas anderes zu betrachten als das Ergebnis ihres ganz individuellen Efforts und ihrer ganz persönlichen Leistung.»

Es ist gewissermassen das Leitmotiv von Sandels Buch: Die Meritokratie erzeugt tatsächlich leistungs­bereite und fähige Eliten, die aber selbstgerecht und überheblich werden. Sie ist eine permanente Aufforderung zur moralischen Hybris. Und das schafft politische Fakten.

Reagan weist den Weg

Reagan hatte die Wendung «du verdienst» zu einem neuen Kernelement seiner politischen Rhetorik gemacht. Er verwendete den Ausdruck in seinen öffentlichen Reden häufiger als alle seine fünf Vorgänger zusammen. Zum Beispiel so: «Der Traum, an den ich immer geglaubt habe, ist, dass du – ganz egal, wer du bist, ganz egal, woher du kommst –, wenn du nur hart arbeitest, dich zusammen­reisst und Erfolg hast, es verdammt noch mal verdienst, vom Leben belohnt zu werden.»

Aber das Pathos des «Du sollst bekommen, was du verdienst» blieb nicht dem amerikanischen Konservatismus vorbehalten, sondern wurde ein geläufiges Element der Rhetorik aller politischen Lager. Clinton benutzte «du verdienst» doppelt so häufig wie Reagan. Obama benutzte die Formel dreimal so viel.

Nicht nur beim gerechten Lohn der Erfolgreichen, auch was die Hilfe betrifft, welche die Gescheiterten erwarten können, setzte mit Reagan eine meritokratische Neuausrichtung ein. Auch sie wurde von seinen demokratischen Nachfolgern quasi fugenlos fortgesetzt. In einer State-of-the-Union-Rede zur Sozialpolitik hielt Reagan fest: «Wir werden niemals diejenigen aufgeben, die ohne eigenes Verschulden auf unsere Hilfe angewiesen sind.» Der wichtige Teil an dieser Aussage ist «ohne eigenes Verschulden»: Von den Nutzniessern gesellschaftlicher Solidarität schliesst er einen beträchtlichen Teil der Bürgerinnen aus. Und wiederum hat diese Formulierung eine noch viel prominentere Rolle bei den nachfolgenden Demokraten gespielt.

Nicht umsonst basierte Clintons erste Präsidentschafts-Wahlkampagne auf dem Versprechen, «Sozialhilfe, so wie wir sie kennen» zu beenden – immer mit dem Leitgedanken, dass den Empfängern von Sozialhilfe das «eigene Verschulden» ausgetrieben werden muss und dass sie mit allen Mitteln dazu gebracht werden müssen, auf eigenen Füssen zu stehen. Es ist uns inzwischen eine Selbst­verständlichkeit geworden, dass auch die Bedürftigen ihre Meriten haben müssen: Hilfe bekommt, wer sie verdient.

Obama wiederum hat zwar mit Obamacare eine in ihren Dimensionen sehr bedeutende Erweiterung der amerikanischen Sozialpolitik auf den Weg gebracht, aber es ist wohl kein Zufall, dass es sich um eine Kranken­versicherungs­reform handelt. Keine andere sozialpolitische Absicherung könnte besser kompatibel sein mit dem meritokratischen Ethos: Welche Form der Bedürftigkeit wäre geeigneter dazu, als «ohne eigenes Verschulden» betrachtet zu werden, als der Krankheitsfall.

Liberale Anti-Meritokraten

Ein bemerkenswerter moralischer Grund­konsens hat sich zwischen den politischen Lagern in den letzten Jahrzehnten etabliert. Besonders erstaunlich an dieser grossen meritokratischen Konvergenz zwischen Links­liberalismus und Wirtschafts­liberalismus (oder Neoliberalismus) ist die Tatsache, dass sowohl der klassische Wirtschafts­liberalismus als auch der klassische Links­liberalismus die Meritokratie ursprünglich ganz explizit zurückwiesen. Dies trifft jedenfalls zu, wenn man sich ansieht, wie die beiden grossen Vordenker des Wirtschafts­liberalismus – Friedrich A. von Hayek – und des Linksliberalismus – John Rawls – die Meritokratie beurteilen.

Sowohl von Hayek als auch Rawls kritisieren das Konzept explizit. Beide vertreten die Ansicht, dass die «Belohnung», die jemand auf dem freien Markt erzielen kann, mit Verdienst in irgendeinem höheren Sinn gar nichts zu tun hat. Beide, schreibt Sandel, «weisen Verdienst oder Leistung als Basis für Gerechtigkeit zurück».

Von Hayek geht zwar aus von der Überzeugung, dass der freie Markt am besten fähig ist, den Wert des Beitrags der einzelnen Markt­teilnehmer zu ermitteln. Doch er unterscheidet zwischen Wert und moralischem Verdienst. Marktpreise ermitteln den Wert, den ein Produkt oder eine Dienst­leistung für die Gesellschaft darstellt, aber sie sagen nichts darüber aus, ob eine tief bewertete Leistung nicht viel verdienst­voller ist als eine Tätigkeit, die einen höheren Preis erzielt. Sandel zitiert aus von Hayeks «Verfassung der Freiheit»: «Die angeborenen wie auch die erworbenen Fähigkeiten eines Menschen haben für seine Mitmenschen offenbar einen Wert, unabhängig davon, ob es sein Verdienst ist, diese zu besitzen. Der einzelne kann es nicht ändern, dass seine speziellen Gaben sehr häufig oder besonders selten vorkommen. (…) Der Wert, den jemandes Fähigkeiten oder Leistungen für uns haben, und für die er Entlohnung erhält, hat nicht viel Beziehung zu irgendeinem moralischen Verdienst.»

Für von Hayek ist die Trennung von moralischem Wert und Marktwert eine essenzielle Voraussetzung für eine freiheitliche Ordnung. Die meritokratische Moralisierung hingegen führt zwangsläufig zu Unfreiheit. Zudem bejaht von Hayek die vom Markt erzeugte Ungleichheit und will auf keinen Fall, dass sie korrigiert wird. Er zieht daraus aber nicht den Schluss, dass das Markt­ergebnis moralisch zu legitimieren sei. Im Gegenteil: Je moralfreier der Markt ist, je offener die Zufälligkeit seiner Verteilungs­leistung anerkannt wird, desto einfacher wird es, die Verteilung, so wie sie ist, zu akzeptieren.

Den gegenteiligen Impetus finden wir bei John Rawls, dem philosophischen Übervater des Links­liberalismus. Er bestreitet ebenfalls, dass Marktpreise eine moralische Rangordnung zum Ausdruck bringen, aber er zieht daraus den umgekehrten Schluss: Markt­einkommen müssen umverteilt werden. Aus Rawls’ Sicht wäre selbst dann, wenn absolute Chancen­gleichheit hergestellt werden könnte und das Markt­ergebnis perfekt dem Talent und der Anstrengung aller Teilnehmer entsprechen würde, dieses Ergebnis in keiner Weise moralisch gerechtfertigt. Es macht im Prinzip gar keinen Unterschied, ob soziale Hierarchien auf Klassen­unterschieden oder auf der natürlichen Verteilung von Fähigkeiten beruhen: «Von einem moralischen Standpunkt aus betrachtet ist beides gleich arbiträr.» Deshalb gibt es für Rawls auch kein Argument dagegen, dem Tüchtigen einen Teil seines Einkommens wieder abzunehmen und es an die weniger Tüchtigen zu verteilen.

Legitimiert wird die soziale Ordnung nur durch die Gerechtigkeit des gesamt­gesellschaftlichen Systems, die in einem politischen Prozess ermittelt werden muss. Gerecht kann eine Gesellschaft gemäss Rawls deshalb nur dann sein, wenn alle ihre Bürger, auch ohne dass sie wissen, welchen Platz sie in ihr einnehmen, das System der Einkommens­verteilung als fair empfinden. Da Markt­einkommen moralisch nicht aussage­kräftig sind und auch keine Tugenden belohnen, muss auf politischem Weg System­gerechtigkeit geschaffen werden.

Friedrich von Hayek, die grosse philosophische Referenz des Neoliberalismus, der Haus­philosoph der einstigen englischen Premier­ministerin Margaret Thatcher, war also ein unzweideutiger Kritiker der Meritokratie. John Rawls, der grosse Erneuerer der politischen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg, die obligatorische Referenz aller sozial­demokratischen Reform­projekte, war sich in diesem Punkt mit von Hayek einig.

Wie also ist es möglich, dass der heutige Links­liberalismus und der heutige Wirtschafts­liberalismus ihr gemeinsames Terrain ausgerechnet in einem diffusen Glauben an meritokratische Hierarchien finden?

Die Moralisierung von Erfolg

Die Antwort liegt nach Sandel darin, dass weder der klassische Links- noch der klassische Rechts­liberalismus die Voraussetzungen mitbringen, um dieser Entwicklung etwas entgegen­zusetzen. Von Hayek will zwar den Marktwert nicht moralisch deuten, glaubt aber, dass er das objektive Mass für gesellschaftliche Nützlichkeit bildet. Doch wenn wirtschaftlicher Erfolg das einzig relevante Gütekriterium sein soll, wie lässt sich dann verhindern, dass es nicht doch moralisch aufgeladen wird? Werden erfolgreiche Markt­teilnehmer nicht zwangsläufig zur Über­zeugung kommen, sie seien eben doch die verdienst­volleren Menschen?

Rawls wiederum will der Frage der sozialen Gerechtigkeit den Vorrang geben vor der Frage der individuellen Tugend. Es soll eine Privat­angelegenheit bleiben, wer das höhere moralische Verdienst hat, solange nur die politische System­gerechtigkeit garantiert bleibt. Diese Privatisierung moralischer Anerkennung ist einleuchtend: Schliesslich ist es die zentrale Errungenschaft des Liberalismus, religiöse Überzeugungen und moralische Werte­bindungen so weit als möglich dem freien Ermessen des Einzelnen zu überlassen. Das macht den Links­liberalismus gemäss Sandel jedoch blind für die enorme politische Kraft von Anerkennung und Verachtung.

Die moralische Bewertung von sozialen Rollen ist eben keine reine Privat­angelegenheit. Die Menschen wollen respektiert werden, unabhängig davon, ob sie in den Genuss von Umverteilung kommen oder nicht. Es reicht nicht, die unteren Einkommens­schichten in einen gesamt­gesellschaftlichen Ausgleich einzubinden. Sie wollen auch Wertschätzung und Anerkennung. Die Linke, die Gerechtigkeit über Tugend stellt, hat dafür jedoch häufig wenig Sinn. Und wird zudem durch nichts daran gehindert, die eigene elitäre Hybris zu pflegen, solange nur die Verteilungs­gerechtigkeit in ausreichendem Mass gewährleistet ist.

Aber spielt es überhaupt eine Rolle, wenn wir technokratische Eliten heute stärker glorifizieren? Wenn wir eine stärkere Neigung entwickeln, meritokratische Rang­ordnungen moralisch zu bejahen? Es spielt eine Rolle. In welchem Mass eine Gesellschaft materiellen Erfolg als moralische Auszeichnung bewertet, verändert alles.

Ausdehnung der Kampfzone

Um dies deutlich zu machen, unternimmt Sandel einen historischen Exkurs. Die Frage, ob materieller Erfolg als moralische beziehungs­weise theologische Auszeichnung verstanden werden muss, ist nämlich eine der folgen­reichsten der westlichen Zivilisations­geschichte: Sie stand im Zentrum des theologischen Disputs, der im 16. Jahrhundert zur Reformation und zur Kirchen­spaltung führte.

Die katholische Theologie glaubte an die sogenannte Werkgerechtigkeit, sie postulierte, dass der Gläubige, der fromme Taten vollführt, auch die göttliche Gnade findet. Dem setzte der Reformator Luther entgegen, dass die göttliche Gnade ein unverfügbares Mysterium bleibt, dass der Christen­mensch Erlösung nur in seinem Glauben finden kann und dass diese mit seinen äusseren Werken oder Erfolgen rein gar nichts zu tun hat. Nur aus dem Glauben, so Luther, ist der Mensch «gerechtfertigt».

Doch dann geschah etwas Seltsames: Luthers Lehre von der Unverfügbarkeit und dem Geheimnis der göttlichen Gnade verwandelte sich innert kurzer Zeit in ihr Gegenteil. Das erfolgreiche Vollbringen guter Taten konnte zwar gemäss dem Dogma des aus der Reformation hervor­gehenden Puritanismus nicht die göttliche Gnade bewirken – aber es war von dieser doch ein Anzeichen. Gute Werke konnten göttliche Gnade nicht herbei­führen, aber sie waren ein Indiz, dass sie einem zusteht. Deshalb wurde es für das eigene Seelen­heil doch wieder das Aller­wichtigste, gute Taten zu vollbringen. Und das sollte mehr und mehr bedeuten: wirtschaftlich erfolgreich zu sein.

Gemäss der berühmten These des Soziologen Max Weber liegt hier der Grund, weshalb der Puritanismus einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des Kapitalismus leistete. Er entwickelte eine Fixierung auf materiellen Erfolg, nicht weil er erworbenen Reichtum geniessen wollte, sondern weil er ihn als Anzeichen für die göttliche Gnade deutete. Er war auf materielle Akkumulation erpicht, blieb gleichzeitig aber asketisch und fromm. Luthers Zurück­weisung der Werk­gerechtigkeit kippte ins exakte Gegenteil.

Der Puritanismus förderte deshalb nicht nur die Entwicklung des Kapitalismus, er legte auch das Fundament zur Überzeugung, dass nur wirtschaftliche Sieger­typen eine Aussicht auf Erlösung besitzen – dass sie die besseren Menschen sind. Und er leistete noch ein Zweites: Während die traditionelle katholische Werkgerechtigkeit in idealer Form nur von Geistlichen erfüllt werden konnte und sich hinter Kloster­mauern verwirklichen musste, wurde sie plötzlich ausgedehnt auf alle Arten der Wirtschafts­tätigkeit und auf alle gesellschaftlichen Sphären. Der Protestantismus riss die Kloster­mauern ein und trug das Streben nach dem Gnaden­beweis in den hintersten Winkel der Welt: eine radikale Ausweitung der Kampfzone.

Sandel insistiert auf dieser konfessions­geschichtlichen Herleitung, weil sie die ideologischen Verschiebungen, die sich innerhalb des Rechts- und des Links­liberalismus vollzogen haben, gewisser­massen im welthistorischen Massstab illustriert. Die mystische lutheranische Innerlichkeit ist in puritanische Härte gekippt. Und die liberalen Versuche – neoliberale und linksliberale –, die Gesellschaft vom moralischen Zwangs­korsett zu befreien und auf der Basis der Marktkräfte oder des Sozial­staates den Bürgern ein wertungs­freies Dasein zu ermöglichen, führen in die Hyper­moralisierung gesellschaftlicher Hierarchien. Das Bemühen um liberale Offenheit kippt in die Meritokratie.

Die Gründe für die neue Tyrannei dürften vielfältig sein: die Transformationen der Wirtschafts­struktur, die eine grössere «Kompetenz­prämie» für Hoch­qualifizierte mit sich brachten. Die gestiegene Ungleichheit, die das Gefälle in der Gesellschaft verstärkt hat und damit automatisch zu hierarchischeren Verhältnissen führt. Und nicht zuletzt das menschliche Bedürfnis, die Welt, so wie sie ist, zur Welt zu erklären, so wie sie sein soll. Es geschieht wohl fast automatisch, dass Eliten die Hybris entwickeln, sich als überlegen zu betrachten, wenn nur der Abstand zum Rest der Gesellschaft gross genug geworden ist.

Die Diskriminierung der «Dummen»

So haben sich die meritokratischen Werte also durchgesetzt. «Unter den Gewinnern», schreibt Sandel, «erzeugt es Hybris; unter den Verlierern erzeugt es Demütigung und Ressentiment. Diese moralischen Affekte bilden den Kern des populistischen Aufstands gegen die Eliten. Mehr noch, als dass sie ein Protest gegen Einwanderer und Outsourcing wäre, richtet sich die populistische Anklage gegen die Meritokratie. Und diese Anklage ist berechtigt.»

Trump, Brexit, der fürchterliche Niedergang der amerikanischen Demokratie: Sandel interpretiert sie als antimeritokratischen Backlash. Als den populistischen Aufstand, den Michael Young schon 1958 vorausgesagt hat.

In gewissen konservativen Kreisen lösen diese Thesen regelrechte Triumph­gefühle aus. Michael Sandel, eine überragende philosophische Autorität der amerikanischen Linken, gesteht dem populistischen Protest eine Berechtigung zu? Und er tut es im Rahmen einer Gegenwarts­analyse, die in keiner Weise die Verantwortung der linken Regierungs­parteien schont? Macht Sandel da nicht die Arroganz der Linken für den Aufstieg von Donald Trump verantwortlich?

Die heutige Wirtschaftspolitik orientiert sich nicht an der Gleichstellung möglichst vieler, sondern an der Maximierung des Wachstums für eine Minderzahl: Chauncey, Ohio. Matt Eich

So einfach ist es nicht. Zum einen lässt Sandel keinen Zweifel daran, dass die grosse meritokratische Wende in den USA eingeleitet wird durch die neoliberale Revolution von Reagan. Was er dem nachfolgenden Links­liberalismus vorwirft, ist nicht, dass er aus elitärem Dünkel den Kontakt zur Bevölkerung verloren habe – sondern dass er dieser neoliberalen Wende nichts entgegen­zusetzen wusste.

Zum anderen gehört Sandel nicht zu der Kategorie der Populismus-Versteher, die Rassismus oder Antifeminismus zwar verdammungs­würdig finden, die es aber nachvollziehen können, wenn weisse blue collar worker unter ökonomischem Druck in diesen Affekten ihr Heil suchen. Sein Punkt ist ein anderer: nicht der, dass die blue collar worker ein Recht auf Diskriminierung hätten, sondern der, dass sie selber zum Opfer einer massiven Diskriminierung werden.

Zu dieser Diskriminierung der Niedrigqualifizierten – und damit ist die soziale Ächtung gemeint und nicht nur, dass die Löhne nicht mehr steigen – zitiert Sandel beeindruckende Zahlen. In einer Umfrage aus dem Jahr 2018 wurden die Vorurteile von amerikanischen Bürgerinnen mit Universitäts­abschluss erforscht. Unter verschiedenen sozialen Kategorien, die bestimmte Vorurteile auf sich ziehen – Schwarze, Übergewichtige, Arme und eben Niedrigqualifizierte –, waren es die Niedrigqualifizierten, die mit Abstand auf die grösste Ablehnung stiessen. Für ein Land, das so stark durch den Rassismus polarisiert wird wie die USA, ist das ein bemerkenswerter Befund.

Obwohl die Verachtung für dumb people ein generelles Phänomen ist und nicht gebunden an politische Präferenzen, wird die linke Position durch die meritokratische Werte­haltung auf grundsätzlichere Weise unterminiert als die der Rechten. Typischer­weise ist die Antwort der meritokratischen Linken auf Ungleichheit, dass man das Ausbildungs­niveau der Niedrigqualifizierten eben anheben müsse. Bildungs­initiativen sollen richten, was man der Umverteilung nicht mehr zumuten will. Das Problem ist, dass dadurch ein ambivalentes politisches Signal ausgesendet wird. Man kommuniziert den dumb people, für ihr Problem gebe es eigentlich nur eine Lösung: smart zu werden.

Der Backlash

Thomas Frank, der schon 2004 ein wichtiges Buch über den heraufziehenden Rechtspopulismus publiziert hat und den Sandel ausführlich zitiert, fällt ein harsches Urteil über die linksliberale Bekämpfung der Ungleichheit durch Bildungs­politik: «Das ist im Grunde gar keine Antwort auf das Problem. Es ist ein blosses moralisches Urteil, gefällt von erfolgreichen Menschen vom Stand­punkt ihres Erfolges aus. Die akademische Mittel­schicht definiert sich durch ihre Ausbildungs­erfolge, und jedes Mal, wenn sie dem Land wieder erklärt, dass es mehr Bildung braucht, sagt sie im Grunde nur: Die Ungleichheit ist nicht der Fehler des Systems. Sie ist dein Fehler.»

Und es gibt noch ein weiteres Problem: Ein grosser Teil der linksliberalen Bemühungen um eine Verbesserung von Bildungs­chancen ist der Bekämpfung von Diskriminierung gewidmet. Es geht darum, den Zugang zu Schulen, Studien­plätzen, Ausbildungs­stellen für alle Minderheiten zu gewährleisten. Das ist absolut richtig und legitim. Aber jede Verbesserung der Selektion affirmiert das Prinzip der Meritokratie. Es macht Bildung als soziales Selektions­kriterium noch effizienter, noch legitimer, noch unangreifbarer. Es macht die Meritokratie noch meritokratischer.

Es ist x-fach belegt, dass der Bildungs­grad der wichtigste Indikator für Trump-Sympathien darstellt und dass seine Wählerinnen typischerweise nicht die Stimmberechtigten sind, die sich am alleruntersten Ende der Einkommens­verteilung befinden. Das Trump-Phänomen hat mit kulturellem Ressentiment zu tun, viel direkter als mit materieller Benachteiligung. Aber dieses Ressentiment ist nicht gegen die Meritokratie als solche gerichtet. Im Gegenteil: Auch die bildungsfernen Amerikaner haben ihr Prinzip inzwischen verinnerlicht, nicht weniger als die akademische Mittelschicht.

Was die Trump-Gefolgschaft anstrebt, ist nicht eine Revolte gegen steile soziale Hierarchien. Sie will ein Ende der Demütigung, so wie es unter den Bedingungen der Meritokratie eben möglich ist. Sie will von der Verlierer- auf die Gewinner­seite wechseln, befreit werden vom Stigma, zu den Losern zu gehören. Trump bediente diesen Affekt systematisch, nicht nur mit seiner berüchtigten, in Variationen immer wieder wiederholten Ansage: «Ihr seid die Elite! Die sind nicht die Elite!», sondern auch mit dem ständigen, obsessiven Gerede von Verlierern und Gewinnern. Trump demonstriert nicht nur, welche Zerstörungs­kraft das von weit her kommende Meritokratie-Prinzip in sich birgt. Er ist sein lautester – und absurdester – Apostel.

Das Ethos der Beteiligung

Was tun? Sandel schlägt zwei Hauptachsen zur Problem­lösung vor. Zum einen soll das Bildungs­system reformiert werden, zum anderen muss Arbeit wieder viel enger mit Anerkennung verknüpft werden – und zwar für Arbeits­kräfte aller Qualifikations­stufen. Seine Vorschläge gehen einher mit einer relativ klassischen Neoliberalismus-Kritik: Ohne eine Korrektur der Ungleichheit werden die Demokratien der populistischen Zersetzung nichts entgegen­zusetzen haben. Aber seine Haupt­botschaft besteht darin, ökonomische nicht von kulturellen Aspekten zu trennen. Es geht nicht nur um Mindest­löhne und Umverteilung. Es geht um Respekt und Anerkennung.

Bildungspolitisch wäre es für Sandel vordringlich, an den amerikanischen Top-Universitäten andere Rekrutierungs­verfahren einzuführen. Er schlägt vor, die Studienplätze künftig zu verlosen.

Aus seiner Sicht ist es ein absolutes Ding der Unmöglichkeit, unter den Kandidaten zwischen den 50 Prozent Besten und den 5 Prozent Besten, welche die Plätze am Ende tatsächlich bekommen, auf begründete Weise einen Unterschied zu machen. Es sei letztlich völlig beliebig, wie innerhalb einer relativ grossen Gruppe der vielversprechendsten Bewerber die ganz wenigen ausgewählt würden, die letztlich aufgenommen werden. Dass mit extremem Aufwand ausgeschieden wird, habe nichts mit dem Bemühen um akademische Qualität zu tun. Die Selektivität werde nur deshalb auf die Spitze getrieben, weil sie das Prestige der Top-Universitäten sichere.

Aus Sandels Sicht würden exakt so gute Studentinnen rekrutiert, wenn man die 50 oder auch 30 Prozent besten Kandidaturen berücksichtigen und dann das Los entscheiden lassen würde. Zwar verminderte sich dann das Prestige von Harvard und vergleichbaren Institutionen als meritokratische Selektions­instanz. Genau das aber wäre das Ziel: Die Selektions­maschine muss sabotiert werden.

Noch wichtiger wäre jedoch eine Reform der Bildungs­politik, die viel bedeutendere Mittel aufwenden müsste für Berufs­bildung, Fortbildung, Umschulungen – für Fördergelder, die Bürgerinnen der mittleren und unteren Qualifikations­stufe unterstützen würden. Im selben Masse, in dem Sandel einem Diskurs, der höhere Bildung als Universal­heilmittel gegen Ungleichheit ausgibt, kritisch gegenübersteht, bejaht er eine Politik, die Arbeit­nehmern auf den unteren Qualifikations­stufen die Möglichkeit gibt, ihre Arbeits­bedingungen zu verbessern, ihr Potenzial zu entfalten und die eigene Tätigkeit als sinnvoll zu erfahren.

In den USA besteht da gewaltiger Nachhol­bedarf: Für das Universitäts­jahr 2014/2015 gaben die amerikanischen Bundes­behörden 162 Milliarden Dollar aus, um das Studium auf College-Stufe zu unterstützen. Die jährlichen Bundes­ausgaben für berufs­begleitende Ausbildung, die auf den unteren Qualifikations­stufen greift, belaufen sich hingegen auf etwa 1,1 Milliarden jährlich, obwohl sie einer deutlich grösseren Bevölkerungs­gruppe zugute­kommen. Eine krassere Ungleich­behandlung ist kaum vorstellbar.

Sandel vertritt deshalb eine ähnliche These wie Thomas Piketty, der in «Kapital und Ideologie» ausführlich darlegt, dass staatliche Ausgaben viel zu einseitig auf die akademische Bildung konzentriert sind. Piketty erblickt darin den Haupt­grund dafür, dass linke Parteien die niedrig qualifizierte Wählerschaft zu einem guten Teil an den Rechts­populismus verloren haben, auch wenn in den europäischen Ländern das Ungleichgewicht weniger ausgeprägt ist als in den USA.

Die fehlende Anerkennung für Arbeits­leistung auf allen Qualifikations­stufen – materiell und kulturell – ist das Grundübel der Meritokratie. Wichtig, so Sandel, ist weniger die Umverteilung als die Beteiligung, die Möglichkeit für alle Bürgerinnen, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, der auch als solcher honoriert wird. Wichtig ist die «Würde der Arbeit».

Die heutige Wirtschaftspolitik orientiert sich jedoch an der Maximierung des Wachstums und behandelt die Bürger primär als Konsumenten. Sandel plädiert dafür, sie primär als Produzentinnen zu betrachten. Es ist viel wichtiger, einen Job zu haben und einer sinnvollen und respektierten Beschäftigung nachzugehen, als noch etwas mehr konsumieren zu können. Um dies zu gewährleisten, muss jedoch eine Gesellschaft aufrecht­erhalten werden, die nicht in Verlierer und Gewinner zerfällt und die ein gewisses Mass an Gemeinsinn mobilisiert.

«Es wird oft davon ausgegangen, dass die einzige Alternative zur Chancen­gleichheit ein steriler und tyrannischer Egalitarismus ist», sagt Sandel. «Es gibt aber noch eine andere Alternative: eine breit gefasste Gleichheit der Lebens­bedingungen, die es denjenigen, die kein Vermögen anhäufen und keine prestige­trächtige Karriere haben, dennoch erlaubt, ein respektables und würdevolles Leben zu leben, berufliche Fähigkeiten zu entfalten, die ihnen Wertschätzung einbringen, von einer allgemeinen Lernkultur zu profitieren und mit ihren Mitbürgerinnen die öffentlichen Angelegenheiten zu verhandeln.»

Es ist die eigentlich selbstverständliche Vision eines demokratischen Gemein­wesens, die Sandel hier zum politischen Ideal erklärt. Doch dieses Gemein­wesen ist bedroht, weil ihm durch den meritokratischen Werte­wandel die Grund­lagen entzogen werden. Trump zeigte uns die groteske Fratze eines sinnentleerten Kampfes um Elitenstatus. Die Pandemie führt vor Augen, wie dramatisch sich unter Krisen­bedingungen der Gemeinsinn relativieren kann.

Die Vision der Demokratie erscheint heute alles andere als selbstverständlich. Haben wir das verdient?

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