Auch Verträge mit Prostituierten gelten
Auf diesen Entscheid des Bundesgerichts warten Sexarbeiterinnen in der Schweiz seit Jahrzehnten.
Von Brigitte Hürlimann, 04.02.2021
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«Die Narrenfreiheit der Freier», so betitelte die Republik vergangenen Sommer einen Gerichtsbericht aus dem Kanton St. Gallen. Es ging um einen haarsträubenden Fall: Ein Student hatte via Inserat nach bezahltem Sex gesucht. Er fand eine Interessentin, die beiden Erwachsenen verbrachten eine gemeinsame Nacht in einem Hotel und hatten, wie vereinbart, Sex. Danach schlich sich der Mann jedoch aus dem Zimmer, ohne die zuvor versprochenen zweitausend Franken zu bezahlen. Er stahl der schlafenden Gelegenheitsprostituierten ausserdem Geld aus ihrem Portemonnaie.
Der unredliche Freier wurde angezeigt, erwischt und unter anderem wegen Betrugs zu einer bedingten Geldstrafe und zu einer Busse verurteilt. Dagegen wehrte er sich bis vor Bundesgericht – mit dem Argument, der mündliche Vertrag, den er mit seiner Bettgefährtin getroffen habe, sei null und nichtig: weil es sich um eine sittenwidrige Abrede handle. Das entspreche der konstanten Rechtsprechung des höchsten Gerichts. Und überhaupt bestehe kein Konsens über die Zulässigkeit von Prostitutionsverträgen, weder ein juristischer noch ein gesellschaftlicher. Es sei auch nicht auszuschliessen, dass in der Schweiz in absehbarer Zeit das sogenannte Schweden-Modell eingeführt werde – also die Kriminalisierung der Freier.
Der Student anerkennt zwar den Diebstahl aus dem Portemonnaie, weigert sich aber, für die sexuellen Dienstleistungen zu zahlen.
Dazu muss man Folgendes wissen: Nach der allgemeinen Vertragslehre gilt, dass eine Abrede gar nicht zustande gekommen ist, sollte sie sich als sittenwidrig entpuppen (Artikel 20 Obligationenrecht). Eine sittenwidrige Abrede entfaltet weder einklagbare Rechte noch Pflichten; auch dann nicht, wenn eine Partei (in diesem Fall die Sexarbeiterin) den Vertrag bereits erfüllt hat.
Und was bitte bedeutet Sittenwidrigkeit?
Das Bundesgericht definiert diesen reichlich vagen Begriff folgendermassen: Verträge sind dann sittenwidrig, «wenn sie gegen die herrschende Moral, das heisst, gegen das allgemeine Anstandsgefühl oder die der Gesamtrechtsordnung immanenten ethischen Prinzipien und Wertmassstäbe verstossen». Es muss sich, so das Bundesgericht, um «Rechtsgeschäfte mit eindeutig schwerwiegenden Verstössen gegen die öffentliche Ordnung» oder gegen beständige Moralvorstellungen handeln. Und, ganz wichtig: Das Konstrukt mit der Sittenwidrigkeit ist ein Notventil.
Auf dieses Notventil beruft sich der Student und Freier, wenn er sich bis vors höchste Gericht dagegen wehrt, der Sexarbeiterin den vereinbarten Lohn zu bezahlen. Er hat ihre Dienstleistungen zwar in Anspruch genommen, sagt dann aber (sinngemäss): Das, was wir zusammen getan haben, verletzt das allgemeine Anstandsgefühl, richtet sich gegen die ethischen Prinzipien und Wertmassstäbe in unserer Rechtsordnung. Du darfst das Geld, das ich dir versprochen habe, nicht einklagen. Du hast kein Recht darauf. Als Prostituierte verdienst du keinen gerichtlichen Schutz.
Eine dreiste, aber vor allem widersprüchliche Haltung des Freiers. Doch sie ging nicht auf. Das Bundesgericht macht Schluss mit der Sittenwidrigkeit bei Prostituiertenverträgen. Darauf wartet das Schweizer Sexgewerbe schon seit Jahrzehnten. Der Entscheid stützt die Rechtssicherheit und die Rechtsgleichheit der Prostituierten. Endlich, muss man sagen. Es ist nicht zuletzt auch ein Schritt in die Richtung einer (möglichst) widerspruchsfreien Rechtsordnung.
Immerhin ist die Prostitution in der Schweiz seit 1942 ein legales Gewerbe und steht seit 1973 unter dem Schutz der verfassungsmässigen Wirtschaftsfreiheit. Sexarbeiterinnen werden seit Jahrzehnten auf ihr Einkommen besteuert, sie zahlen Sozialversicherungsabgaben und die Mehrwertsteuer. Einzelne kantonale oder kommunale Prostitutionserlasse gehen seit längerem von rechtmässig zustande gekommenen Verträgen aus. Auch der Bundesrat will nichts mehr von generell sittenwidrigen Verträgen mit Prostituierten wissen – mit Hinweis auf den Wertewandel in der Gesellschaft. Das Bezirksgericht Horgen hatte 2013 als wohl erstes Gericht der Schweiz die generelle Sittenwidrigkeit der Prostituiertenverträge verneint. Die St. Galler Gerichte folgten dieser Auffassung.
Doch man muss es dem hartnäckigen Studenten und Freier fast verdanken, dass er dennoch den Schritt ans Bundesgericht wagte. So bekam das höchste Gericht die Gelegenheit, sich vertieft mit den Verträgen im Sexmilieu auseinanderzusetzen. Es hatte seine veraltete Rechtsprechung in einem Urteil von 2011 nämlich irrtümlicherweise bestätigt, in einem obiter dictum – einer (in diesem Fall unüberlegten) Nebenbemerkung –, ohne der Sache wirklich nachzugehen. Im neusten Entscheid aus Lausanne heisst es zu diesem Patzer, man habe damals ja nicht näher dargelegt, «aus welchen Gründen die entgeltliche sexuelle Dienstleistung gegen die gesamtethischen Vorstellungen der Gesellschaft verstossen soll».
Diese Darlegung ist nun erfolgt. Das Bundesgericht befindet, dass der Vertrag zwischen einer Prostituierten und ihrem Kunden nicht per se als sittenwidrig eingestuft werden kann. Das Urteil betrifft zwar einen Straffall – es geht um Betrug – und damit um einen strafrechtlichen Schutz der geprellten Sexarbeiterin. Doch das höchste Gericht vergisst nicht zu erwähnen, dass seine Überlegungen auch fürs Zivilrecht gelten.
Die Beschwerde des Studenten wird abgewiesen, mit der «Narrenfreiheit der Freier» ist damit Schluss. Es brauchte dazu nicht einmal eine Gesetzesänderung, sondern nur die zeitgemässe höchstrichterliche Auslegung einer Norm im Vertragsrecht. Nicht mehr und nicht weniger.
Urteil 6B_572/2020, ab dem 4. Februar, 13 Uhr, in der Entscheidsammlung des Bundesgerichts publiziert.