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Europe first

29.01.2021

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Liebe Leserinnen und Leser

Es ist ein politisches Kräftemessen, wie man es selten so direkt und ungefiltert miterlebt: Die EU-Kommission, stellvertretend für 450 Millionen Bürgerinnen, und das britisch-schwedische Pharmaunternehmen Astra Zeneca streiten sich. Nicht irgendwo in einem Brüsseler Konferenzzimmer oder im Gerichtssaal – sondern in aller Öffentlichkeit.

Und wie dieser Streit ausgeht, wird den Status Europas in der Welt wesentlich mitprägen. «Wir meinen es ernst», twitterte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor wenigen Tagen. «Unternehmen haben ihre Verpflichtungen einzuhalten.»

Worum geht es? Vordergründig um Impfungen. Tatsächlich aber um die hochpolitische Frage, wie die EU für das Geld, das sie in private Unternehmen pumpt, auch Gegenleistungen verhandelt – etwas, was ihr in der Vergangenheit allzu oft nicht gelungen ist. Auch aus einer möglicherweise allzu grossen ideologischen Zurückhaltung gegenüber Eingriffen in den Freihandel heraus – die USA oder China haben da weniger Hemmungen.

Was also ist passiert?

Private Pharmaunternehmen haben das grösste Know-how, um Impfungen zu entwickeln und zu produzieren. Gleichzeitig haben sie kein besonderes Interesse daran: Die Forschung frisst ohne Erfolgsgarantie viel Zeit und Geld. Falls es dann, selten genug, ein Impfstoff durch die Zulassung schafft, bedeutet selbst das keine hohen Einnahmen. Wenig überraschend investieren Pharmafirmen lieber in Abnehmpillen oder Antidepressiva.

«Der Markt» regelt hier also offensichtlich gar nichts. Darum haben Staaten vor einigen Jahren damit begonnen, mit garantierten Abnahmeverträgen dafür zu sorgen, dass Pharmaunternehmen trotzdem Impfstoffe produzieren. In ärmeren Ländern springen oft zusätzlich Non-Profit-Organisationen ein, insbesondere die Stiftung von Bill und Melinda Gates (weshalb Gates immer wieder Zielscheibe von Verschwörungstheorien ist). Dieses Finanzierungs­modell ist ein Erfolg: Es ist nicht zuletzt einer der Gründe für die überwältigende weltweite Abnahme der Kindersterblichkeit in den letzten fast 30 Jahren.

Doch zurück zu Covid-19, Astra Zeneca und der EU.

Weil bei der Covid-Impfung die Zeit besonders eilte, drängten Ökonominnen bereits im Mai darauf, dass Staaten diesmal noch viel weiter gehen sollten als sonst: nämlich Abnahmeverträge abschliessen sollten, obwohl die Forschung noch völlig unsicher war – damit Unternehmen ihre Produktionskapazitäten hochfahren und im Falle eines Erfolgs sofort produzieren könnten. Das ist extrem teuer. Aber immer noch billiger als die Pandemie.

Nun, um es kurz zu machen: Die EU tat genau das. Sie sprach sowohl für Astra Zeneca als auch für andere Pharmaunternehmen Hunderte Millionen Euro – gegen das Versprechen, im Falle eines Erfolgs beliefert zu werden. Und war verständlicherweise erbost, als Astra Zeneca vor einigen Tagen meldete, man könne wegen Produktionsproblemen die EU nun leider doch nicht im gewünschten Ausmass beliefern.

(Der CEO von Astra Zeneca, Pascal Soriot, wagte es übrigens auch noch, die Verhandlungsführerinnen von der Leyen und Co. in der italienischen «Repubblica» indirekt als «emotional» zu bezeichnen.)

Und jetzt?

Soriot stellt sich auf den Standpunkt first come, first served. Denn neben der EU hatten auch noch andere ihre Staatskassen weit geöffnet: Die USA überwiesen 1 Milliarde Dollar, das Vereinigte Königreich 66 Millionen Pfund, und die Impfallianz CEPI, an der sich zahlreiche Staaten beteiligen (auch die Schweiz), 383 Millionen Dollar. Insbesondere Boris Johnson, Premier des Vereinigten Königreichs, habe früher bestellt, sagt Soriot, weshalb man dort halt die Produktion früher habe vorbereiten können.

Als Reaktion darauf tat von der Leyen gestern Abend etwas, was noch nie ein EU-Kommissionspräsident getan hat: Sie drohte Astra Zeneca und Pfizer mit Exportverboten, sollten sie nicht zuerst ihre Verpflichtungen gegenüber 450 Millionen EU-Bürgerinnen einhalten. Freihandel, Wettbewerb et cetera hin oder her.

«Das ist noch nicht ganz Europe first», kommentiert dazu das Magazin «Politico», «aber die Europäische Kommission hat klargemacht, dass sie Europe second nicht akzeptieren wird.»

Vielleicht meint die EU es tatsächlich einmal wirklich ernst.

Wir halten Sie auf dem Laufenden. Und nun:

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) muss seine Zahlen zu den gelieferten Impfdosen korrigieren. Ohne das öffentlich zu kommunizieren, hat das BAG diese Woche die Zahl der Dosen um etwa 60’000 nach unten angepasst. Entdeckt haben die Diskrepanz Journalistinnen von RTS. Es geht dabei um Dosen, welche zwar bei der Armeeapotheke lagern, aber nicht im vollen Ausmass an die Kantone und Liechtenstein weiterverteilt wurden.

Lieferverzögerungen bringen die Kantone gegeneinander auf. Nach Pfizer hat diese Woche auch Moderna gewarnt, dass die Schweiz im Februar weniger Dosen als geplant erhalten könnte. Bei Astra Zeneca, der dritten Firma, die bald eine Zulassung erhalten könnte, droht bereits dasselbe. Nun haben mehrere Kantone einen Austausch untereinander vorgeschlagen, damit Menschen, die bereits die erste Dosis erhalten haben, nicht länger als empfohlen auf die zweite warten müssen. SRF berichtete gestern Abend, dass einige Kantone vehement gegen diesen Vorschlag sind.

Zwei weitere wirksame Impfungen scheinen gefunden. Was Sie dazu wissen sollten:

  • Die US-Firma Novavax hat heute mitgeteilt, dass ihr Kandidat bei Studien in Grossbritannien eine Wirksamkeit von 89,3 Prozent gezeigt habe. Allerdings sei er weniger potent gegen die südafrikanische Variante. (Da es sich um eine Medienmitteilung handelt und nicht um einsehbare Studiendaten, ist hier noch Skepsis angebracht.) Falls sich die Resultate bestätigen, wäre das eine ausgezeichnete Nachricht, auch wenn sich in der Schweiz auf absehbare Zeit dadurch nichts ändert. Denn das Novavax-Mittel funktioniert anders als die bisherigen Impfungen, welche die Zellen dazu bringen, das Spike-Protein selber herzustellen. Hier wird das Spike-Protein direkt verimpft – das Mittel funktioniert ähnlich wie moderne Grippe-, HPV- und Hepatitis-B-Impfungen.

  • Und der US-Pharmakonzern Johnson & Johnson hat heute erste Ergebnisse vermeldet, ebenfalls noch ohne einsehbare Daten. Demnach sei seine Impfung in der Studie in den USA zu 72 Prozent wirksam, in jener in Südafrika nur zu 57 Prozent. Dieser Impfstoff hat zwei grosse Vorteile. Er muss nicht besonders gekühlt werden und ist lange haltbar – daher eignet er sich gut für Hausarztpraxen oder Apotheken. Und es ist nur eine Dosis nötig, was die Massenimpfung logistisch viel einfacher macht. Swissmedic prüft den Impfstoff derzeit, aber die Schweiz hat – soweit öffentlich bekannt – noch keinen Liefervertrag abgeschlossen.

Und zum Schluss: Der Lagebericht zur Woche

Beginnen wir mit einer guten Nachricht: Die Ansteckungszahlen sind im Vergleich mit der Vorwoche weiter gesunken. Und es sind nun «nur» noch ungefähr so viele Menschen im Spital wie auf dem Höhepunkt der ersten Welle im März 2020. Sollte das bis Ende Februar so weitergehen oder noch schneller noch besser werden, dann haben wir eine realistische Chance, ohne eine massive dritte Welle in die wärmere Jahreszeit zu kommen.

Neue Spitaleinweisungen; gleitender Mittelwert über 7 Tage. Die Daten nach dem 22. Januar sind vermutlich noch unvollständig, deshalb haben wir sie nicht berücksichtigt. Stand: 29.01.2021. Quelle: Bundesamt für Gesundheit.

Gleichzeitig werden weiterhin (zu) viele mutierte Virusvarianten in der Schweiz entdeckt. Besonders dann, wenn sie in Schulen auftauchen (zum Beispiel in Schaffhausen), ist das ein Grund zur Sorge. Je schneller sich diese Mutationen in der Schweiz durchsetzen, desto komplizierter wird es mit der Impfkampagne und den Schutzmassnahmen. Denn es verdichten sich die Hinweise, dass gewisse Mutationen tatsächlich besser gegen den Impfschutz ankommen – bei den neuen Impfstoffen von Novavax und Johnson & Johnson deuten die Studienergebnisse darauf hin.

Neue nationale Einschränkungen kamen diese Woche keine dazu. Dafür gelten ab dem 8. Februar strengere Regeln an der Grenze. Wer aus einem Risikostaat einreisen will, muss nicht nur zwingend in Quarantäne, sondern muss auch einen negativen PCR-Test vorweisen können. Ausserdem sollen nun die Kontaktangaben von allen Einreisenden erfasst werden, nicht nur von jenen aus Risikogebieten – wenn sie die Grenze im Flugzeug, Schiff, Bus oder Zug überqueren.

So viel für heute. Bis Montag, wenn Sie mögen.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Olivia Kühni

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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