Aus der Redaktion

Haben wir Sie mit Brauchbarem zur Pandemie versorgt?

Ein Jahr Corona in der Republik. Wo irrten wir, wo lagen wir richtig? Unsere Bilanz (II/IV): der Sommer des Durchhängens.

Von Ihrem Expeditionsteam, 29.01.2021

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Woran wir uns messen in dieser Bilanz, erfahren Sie in Teil I: Der Beginn. In aller Kürze zusammen­gefasst: Haben wir Sie mit Brauchbarem zur Pandemie versorgt? Stellten wir die richtigen Fragen, um die Politik verantwortlich zu halten? Wie spielte die Wechsel­wirkung zwischen Ihnen und der Redaktion?

Hier gelangen Sie zu den einzelnen Kapiteln:


Mai 2020: Okay, Lockerungen. Ist es dafür nicht zu früh? Und warum nicht schrittweise und damit kontrolliert?

Die akute Gefahr ist gebannt. Kakofonie setzt ein. Jetzt sollen die Corona-Massnahmen schnell weg, die Forderungen medial verstärkt und politisch durchgesetzt werden. Geradezu euphorisch, ohne Etappierung, stürzt sich die Schweiz in die Wieder­eröffnung von Läden, Restaurants, Bars, Schulen.

Wir sind skeptisch. Den Ton setzt in dieser Phase ein Wochenkommentar:

«Nicht die epidemiologische Beurteilung hat sich geändert, sondern die politische Dynamik.»
«Fliegen auf Sicht? Das war einmal», 02.05.2020

Wir äussern die Kritik, die Lockerungen seien kopflos, die zweite Welle so nur eine Frage der Zeit. Und halten mit Blick auf die Toten in den Heimen noch­mals fest: «Wir stehen vor einer Prüfung, an der wir nicht scheitern dürfen.»

Die wichtigste (Selbst-)Kritik in dieser Phase zielt darauf, wissenschaftliche Evidenz zu verteidigen, ohne dabei der Gefahr einer Überhöhung zu erliegen:

«Es braucht einen differenzierten Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, um Wissenschaft nicht selbst zu einer Glaubens­frage zu degradieren.»
«Was wissen schafft», 07.05.2020

Besonders wichtig ist uns als Redaktion die Leitlinie, besonders vorsichtig zu sein, was Berechnungen und Grafiken angeht: immer auch die Nuancen und Unsicherheitsbereiche aufzeigen, keine falsche Eindeutigkeit suggerieren.

Zum Fall Schweden: Sverige Situation

An Schweden lässt sich ganz gut ablesen, wie unterkomplex und schablonen­haft die Debatte um Pandemie­massnahmen oft geführt wird. Weil das Land in der ersten Welle Restaurants, Geschäfte und manche Schulen offen liess, entbrannte bald Streit über den schwedischen Sonderweg. «Seht, es geht ohne Lockdown», sagten die einen. «Schweden nimmt Tausende Tote einfach hin», sagten die anderen. Schweden musste sowohl als libertäres Schreck­gespenst herhalten als auch als Paradies des gesunden Menschen­verstandes. Manchmal auch beides im verwirrend kurzen Wechsel nacheinander. Ende Juni publizierte zum Beispiel der «Blick» einen Artikel mit dem Titel «Warum Schwedens Covid-19-Sonderweg gescheitert ist». Im August hiess es dann: «Corona-Zahlen in Schweden im Sinkflug», das Land stehe «plötzlich besser da als die meisten».

Der Covid-Newsletter widmete sich dem Land erstmals im April und hielt fest: «Ob die schwedische Strategie aufgeht, werden wir erst in der Nach­betrachtung beurteilen können.» Wir waren allerdings skeptisch. Das Land verzeichnete deutlich höhere Todes­zahlen als die Nachbar­länder Norwegen und Finnland. Im Mai wies ein Wochenkommentar darauf hin, dass Schweden jedenfalls nicht als Vorbild für eine umsichtige Wirtschafts­politik würde herhalten können: «Die Rezession im neuen skandinavischen Muster­staat wird genauso stark sein wie in der Schweiz – wenn nicht noch einiges desaströser.» Und so kam es dann auch, wie später diese Auswertung im Datenbriefing «Auf lange Sicht» zeigt.

Je länger die Pandemie andauerte, desto weniger wollte Schweden in einfache Erklärungs­muster passen. Im Sommer galten im hohen Norden deutlich strengere Regeln als in der Schweiz (O-Ton dazu im Wochen­kommentar: «Wir werden nicht die Schweden, wir werden die Überschweden».) In der zweiten Welle reagierte das Land mit ähnlich strengen Massnahmen wie der Rest Europas. Am 24. November wurden Versammlungen von mehr als 8 Personen verboten, der Premier­minister schwor die Bürgerinnen auf einen dunklen Winter ein – und wir hielten im Newsletter fest: «Nun, der schwedische ‹Sonderweg› (der so absolut anders dann auch nicht war) ist seit spätestens heute vorbei.»

Stand Ende Januar 2021 hat Schweden bei etwa 10 Millionen Einwohnerinnen rund 11’400 Todesfälle zu verzeichnen. Und die Schweiz bei 8,6 Millionen rund 8500. Die Interpretation davon sei Ihnen überlassen. Wir raten zur Vorsicht.

Als Redaktion entscheiden wir uns für eine Balance von Verantwortungs- und Pflichtethik: Nein, es ist keine Grippe, wir zweifeln die Notwendigkeit von Gegen­massnahmen nicht an und anerkennen, dass die Strategien gegen Sars-CoV-2 grobschlächtig sind, weil die Wissenschaft noch zu wenig weiss.

Andererseits überprüfen wir: War der Shutdown unnötig? Und: Wer managt diese Krise überhaupt? Wir kritisieren den Umgang mit dem Pflege­personal in der Schweiz, das zwar beklatscht, aber schlecht ausgerüstet und bezahlt wird. Analysieren: Hält die digitale Epidemie­bekämpfung, was sie verspricht? Und beleuchten, welche Wirtschaftszweige die Pandemie am härtesten trifft und warum manche Länder stärker als andere von Sars-CoV-2 betroffen sind.

(Den Journalistinnen im Team verdanken wir, frühzeitig im Blick zu haben, dass Frauen härter getroffen werden als Männer – und viel weniger gehört.)

Ay, Corona! War der Shutdown unnötig? Martin Fengel
«Die Corona-Krise wurde direkt auf uns abgewälzt.» Twitter

Unser Ziel: Sie und uns gut durch Verwirrung und Lärm zu navigieren.

«Das neue Normal» ist der wichtigste Beitrag der Republik in dieser Phase. Darin skizzieren wir die wissenschaftliche Sicht darauf, was nach dem Shutdown nötig sein wird, um das Virus in Schach zu halten: 1. Social Distancing. 2. Testing. 3. Contact-Tracing und 4. Schutzmaterial. «Das Zusammen­spiel erhöht die Chance, dass im Verlauf des Jahres wieder so etwas Ähnliches wie Normalität einkehrt», schreiben wir. Und lassen keinerlei Illusionen aufkommen, wie lange sich das noch hinziehen wird:

«Je länger die Epidemie dauert – Expertinnen rechnen mit ein, zwei oder drei Jahren, bis sie ausläuft –, desto mehr Gestaltungs­kraft und Kreativität wird gefragt sein. Nicht nur von Politikerinnen, Wissenschaftlern und Unternehmerinnen, sondern von uns allen.»
«Das neue Normal», 17.04.2020

Erreichen wollen wir damit zwei Dinge: Ihnen eine langfristige Perspektive geben und Übersicht: Was ist notwendig, womit müssen Sie rechnen? Und unseren Blick für die accountability der Politik und auch von uns selbst als Redaktion (und als Unter­nehmen) schärfen: Worauf achten wir jetzt genau?

Auf das Gleiche wie Sie. Vermutlich.

Vielleicht. Also, wahrscheinlich.

Hoffentlich?

1. Social Distancing. Die ganze Crew arbeitet zu diesem Zeitpunkt seit einem Monat im Homeoffice. Weil eine gute Redaktion so divers wie möglich ist, waren auch die Reaktionen der Crew auf die Pandemie sehr unterschiedlich. Während die einen noch am Tag, an dem der Shutdown verkündet wird, in der Redaktion auftauchen und alles etwas übertrieben finden, haben sich andere da schon seit Wochen zu Hause verschanzt. Journalismus ist auch Kaffee­maschine, Raucherinnen­balkon, Treppenhaus, Begegnungen: Je länger der Shutdown dauert, desto schwieriger wird es, sich nicht als Team zu verlieren. Wir leben in Kommunikations­tools und mit Videotelefonaten.

2. Testing. 3. Contact-Tracing. 4. Schutzmaterial; dazu stellen wir Recherchen an: Sind das Selbstlob und das Schulterklopfen der Behörden eigentlich gerechtfertigt?

5. Gestaltungskraft und Kreativität. «Was jetzt anders werden könnte – wenn wir wollen»: Wir schreiben sechs Ideen auf für die Zeit nach dem Shutdown. Für die Serie «Betriebstemperatur» besuchen wir Gewinner und Verlierer der Krise, zeigen Chancen, Herausforderungen und Scheitern in der Wirtschaft.

Wir reflektieren. Ziehen eine erste Bilanz, auch für unseren weiteren Kurs: Was wird in der kollektiven Krisenbewältigung über-, was unterbelichtet?

«Wer Seite an Seite mit Rechts­extremen, Antisemiten und Verschwörungs­ideologinnen demonstriert und sich trotz öffentlicher Debatte nicht unmiss­verständlich abgrenzt, sollte sich nicht wundern.»
«Das Virus, die Wirrnis und wir», 28.05.2020

Wir beschäftigen uns mit «Corona-Rebellen», «Hygiene-Demonstrationen» und Versuchen von Rechtsextremen, die Proteste zu instrumentalisieren. Was erwartungs­gemäss einiges an Kritik und Abo-Kündigungen einbringt.

Das spiegelt sich auch im Dialog. «Die Medien, und da muss ich Sie leider auch mit dazuzählen, nehmen ihre Aufgabe der unabhängigen Kontrolle nur sehr, sehr unzureichend wahr», ist eine typische Kritik. Oder «Mainstream»:

«Springt die Republik auch einfach unkritisch auf den Corona-Mainstream-Medienzug auf?»
Aus dem Dialog.
«Ich hätte von der Republik mehr Objektivität erwartet, da kann ich ja bei Mainstream-Medien bleiben.»
Aus dem Dialog.

Fazit: Im Rückblick würden wir im Covid-Newsletter die Fallzahlen nicht mehr so vermelden, wie wir das in der ersten Staffel taten: täglich und ohne weitere Einordnung. Die Nachfrage nach Zahlen war allgemein gross, was sich im weiteren Verlauf der Pandemie in eine falsche Eindeutigkeit über den Verlauf verfestigte. In der zweiten Staffel liefern wir dann stattdessen immer freitags einen Lagebericht. Und statt der Fallzahlen konzentrieren wir uns jetzt auf eine andere Kenngrösse: die Spitaleinweisungen. Erstens ist die Entwicklung von Woche zu Woche viel aussage­kräftiger. Und zweitens haben Fallzahlen eine zu grosse Dunkelziffer.

Korrigendum: Wir konzentirieren uns auf die Spitaleinweisungen, nicht wie fälschlicherweise geschrieben die belegten Betten.

Juni 2020: Die Lockerungen sind da. Aber sind wir auch wirklich gut darauf vorbereitet, was jetzt kommt?

Die Infektions- und Todes­zahlen sind tief. Und dies, obwohl der Bundesrat die ursprüngliche Strategie nun komplett über den Haufen wirft und die Einschränkungen schneller lockert als vorgesehen. Viele Medien berichten konfus. «Es wird keine flächen­deckende zweite Welle geben», steht im «Tages-Anzeiger» genauso wie «Zweite Welle könnte 5000 Opfer fordern».

Die Clubkultur ist am Ende, die elektronische Musik wird bleiben. Jörg Brüggemann/OSTKREUZ
«Schön, eine App. Und dann?» Emmauel Wong/Getty Images

Als Redaktion oszillieren wir zwischen Beunruhigung – kann das wirklich gut kommen? – und Erleichterung: Endlich haben wir Freiheiten zurück! Wir sind, wie es im Newsletter heisst: «Freudig panisch und glücklich entsetzt».

Entsprechend unentschieden ist auch unser Ton: «Was ist das Fundament der Eindämmungs­strategie?», fragen wir in einem Wochenkommentar. Und warnen: «Das Virus kann jederzeit wieder aufflackern.» Andererseits halten wir in einem anderen Kommentar auch fest: «Der Sommer kann beginnen».

Wir stellen den Covid-19-Uhr-Newsletter vorerst ein. Mit einem Versprechen:

«Sollte die Lage wieder deutlich ernster werden, kommt er selbstverständlich zurück.»
Vorletzter Covid-19-Uhr-Newsletter der ersten Staffel, 18.06.2020, «Was bisher geschah».

Unser Ziel: ja nicht den Moment zu verpassen.

Der wichtigste Beitrag der Republik in dieser Phase: «Schön, wir haben bald eine App. Und dann?» Darin äussern wir mit Blick auf erfahrene Länder im Umgang mit Epidemien die Kritik, dass erfolgreiches Contact-Tracing Strategien braucht, die in der Schweiz noch nicht einmal diskutiert werden.

«Erfolgreiches Contact-Tracing ist mehr als eine App. Es ist ein Prozess, bei dem es in erster Linie auf menschliches Wissen und Können ankommt. Und der, um Erfolg zu haben, eine Strategie und klare Entscheide braucht.»
«Schön, wir haben bald eine App. Und dann?», 27.05.2020

Wir beleuchten in der Serie «Pandenomics», wie die gute Wirtschaftspolitik jetzt reagieren sollte und warum die Krise die Ungleichheit weiter verschärft. Wir analysieren, warum die Schweiz so unvorbereitet von dieser Pandemie getroffen wurde. Und wie Umweltzerstörung und Infektionskrankheiten zusammenhängen. Darüber hinaus ist die Publizistik in dieser Phase praktisch coronafrei. Andere Themen (Polizeigewalt und Rassismus) kommen in den Fokus. Sie scheinen darüber genau so erleichtert wie wir.

Stärker in den Fokus nehmen wir dafür jetzt die Auswirkungen der Krise auf die Kultur. Nach dem melancholischen Rückblick auf die Clubkultur werfen wir einen Blick auf die Festival- und Musikindustrie. Über das politische Gezerre um Entschädigungen berichten die Briefings und Covid-Newsletter.

Im Dialog gelingt es uns nicht, die Debatte auf die entscheidenden Fragen zu lenken. Auch in der Republik-Community dominiert immer noch der Streit darüber, ob der Shutdown nötig oder unnötig war. Prototypische Kritik von Ihnen: «Dass wir nur wenige Menschen kennen, die von der Krankheit betroffen sind, ist auf den Lockdown zurück­zuführen? Das ist ein Totschlag­argument, dessen Richtigkeit so wenig wie die Falschheit zu belegen ist.»

Gleichzeitig werden wir überschwemmt mit Liebe. Auf die Abschieds­ausgabe des Newsletters hagelt es Hunderte Mails:

«Zu Beginn der Corona Pandemie hat mich mein Sohn auf Ihren Covid-19-Uhr-Newsletter aufmerksam gemacht. Er sagte zu mir, Mami, wenn du täglich den Newsletter der Republik liest, bist du mit einer kurzen Übersicht immer top informiert. Er hatte recht.»

«Sie haben mir geholfen, einen klaren Kopf zu behalten und dadurch eine klärende Wirkung auf andere einnehmen zu können.»

«Mein ganzer Familien- und Freundeskreis hat täglich eure News gelesen.»

«Sie haben mir geholfen das alles zu relativieren und gleichzeitig es ernst zu nehmen. Ich fühlte mich von Euch umfänglich, scharfsinnig und realistisch informiert und alles auch immer wieder mit einer kleinen Prise Humor.»

«Wie oft habe ich abends, ausgepumpt nach Homeoffice und Homeschooling und fremd im eigenen Leben, auf dem Sofa gesessen und noch Eure Berichte gelesen. Es kommt ein wenig Wehmut auf beim Gedanken, dass die Post nicht mehr kommen wird.»

«Es ist zwar Sommer, aber die Leichtigkeit und die Freude wollen sich nicht einstellen. Was sind das für Zeiten, in denen die Zuversicht schwächelt? Ich brauche euch.»

Aus dem Covid-19-Uhr-Postfach.

Noch vor Ende des Monats steigen die Fallzahlen wieder deutlich an, und wir sehen uns noch vor dem Hochsommer gezwungen, mit Ihnen im Dialog zur Diskussion zu stellen: Verspielen wir gerade wieder, was wir erreicht haben?

Fazit: Paradox. Wir sind einerseits erfreut über das Gefühl, einen klaren Blick auf die kommenden Heraus­forderungen erarbeitet zu haben. Und gleichzeitig beunruhigt über die Wirksamkeit von politischem Lobbying, das jeder epidemiologischen Logik widerspricht. Und die Willfährigkeit einiger Medien, sich dafür zum Sprachrohr zu machen. Wir lassen uns dann jedoch weniger publizistisch, aber ganz sicher persönlich mitreissen: Ja, Sommer!

Juli 2020: Also doch: Zu früh, zu schnell. Was lernen wir jetzt daraus?

«Diese Pandemie folgt, wie alles in dieser Welt, dem eisernen Prinzip der Entropie: Auf Dauer wird alles immer ein bisschen unübersichtlicher. Die Lage wird besser und schlimmer und klarer und verworrener»: Dieser Satz aus dem letzten Covid-19-Uhr-Newsletter klingt uns lange in den Ohren nach.

Die öffentliche Debatte ist jetzt auseinander­dividiert und verzogen: Die einen kritisieren zu schwache Massnahmen. Die anderen kritisieren Massnahmen.

Den Ton setzt ein Wochenkommentar:

«Allmählich macht sich der Eindruck eines Systemversagens breit.»
«Rave on, Corona!», 04.07.2020

Wir kritisieren, dass es die Schweizer Behörden verpassen, der Kurve so weit wie möglich voraus zu sein, kluge Strategien zu implementieren, bevor die Fallzahlen signifikant nach oben gehen. Diese Kritik zieht sich jetzt in der Republik wie ein roter Faden durch den Sommer, auch gegen heftige Kritik.

Im Dialog stehen wir jetzt konträr zu einem Teil der Leserschaft. Nicht wenige fanden den Shutdown falsch und finden jetzt die Massnahmen übertrieben, wir kritisieren hingegen die Lockerungen ohne Strategie.

«Ich stelle fest, dass die Republik zu Corona im Mainstream schwimmt und gegenüber der Strategie, die weltweit und auch von der Schweiz gefahren wird, eine sehr unkritische Haltung einnimmt.»
Aus dem Dialog.

Wir kehren definitiv zur Pflichtethik zurück, fragen: Was sind die Probleme?

Wir decken mutmassliches Schindluder bei der Kurzarbeit auf. Analysieren das Versagen der Eigen­verantwortung in «ansteckenden Zeiten», schauen uns genauer an, wann von einer «zweiten Welle» gesprochen werden muss. Und blicken in Schwellenländer, die von der Krise hart getroffen werden.

Wie zum Teufel ändert sich eine Gesellschaft so schnell? Golden Cosmos
Warum ist die Schweiz in der Pandemie gescheitert? Herbert Zimmermann/13 Photo

Unser Ziel: Klarheit über das Scheitern der Strategie. «Contact-Tracing war die Bedingung für den Ausstieg aus dem Shutdown. Doch viele Kantone sind damit überfordert», schreiben wir in unserer Kritik zum Krisenmanagement:

«Langsam drängt sich der Verdacht auf, dass der Ausstieg aus dem Shutdown vielleicht doch ein paar Wochen zu früh gekommen ist.»
«Wer an der Planung scheitert, plant das Scheitern», 10.07.2020

Wir konfrontieren den wichtigsten kantonalen Verantwortlichen im Kampf gegen das Virus mit unserer Kritik, den obersten Kantonsarzt Rudolf Hauri:

«Bei den Lockerungen spielten auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle. (...) Es ist aber gut möglich, dass die Warnungen die Politik ungenügend erreicht haben.»
«Wir sind vom Tempo der Lockerungen überrascht worden», 22.07.2020

Fazit: Wir fühlen uns durch weitere Recherchen und Über­prüfungen unserer Positionen und kritischen Haltungen bestätigt, sind aber auch alarmiert: Wie soll das gut herauskommen?

August 2020: Wenn sich kleine Zahlen verdoppeln, dann verdoppeln sich als Nächstes grössere Zahlen …

Nach einem halben Jahr Pandemie könnte man meinen, exponentielles Wachstum sei etwas intuitiver fassbar geworden. Die Fallzahlen steigen und steigen – und trotzdem erscheint der August im Rückblick als jener Monat, in dem die Pandemie am weitesten weg war. Das Wetter ist gut, die täglichen Neu­infektionen etwa 10-mal tiefer als auf dem Höhepunkt der ersten Welle.

Viele sind coronamüde. Auch wir.

Der schwierige Winter, vor dem Epidemiologinnen warnen, ist weit weg. Am 12. August beschliesst der Bundesrat, ab Oktober wieder Veranstaltungen mit über 1000 Personen zuzulassen.

Den Ton setzt, wie schon seit Beginn des Sommers, ein Wochenkommentar:

«Aufgrund niedriger Todeszahlen wiegen wir uns in falscher Sicherheit.»
«Wer hört das Signal?», 22.08.2020

Mit unserer Kritik setzen wir jetzt auch bei der Vermittlung der Krise an und fragen uns: Wann und wieso ist die Kommunikation der Behörden entgleist? Dazu starten wir Recherchen: Was lief falsch? Und wer kommuniziert besser?

Wir kritisieren den Medien­betrieb, der alles und sein Gegenteil behauptet und auch Unwissenschaftliches verbreitet, um das coronamüde Publikum bei der Stange zu halten: «Beträchtliche Teile des Medien­systems machen sich flexibel und opportunistisch zum Schall­trichter dieser neuen Stimmung.»

Unser Ziel: Nach dem Schutz­material und dem Contact-Tracing Punkt 2 einer erfolgreichen Corona-Strategie genauer unter die Lupe nehmen: das Testing.

Der wichtigste Beitrag in dieser Phase? Der erwähnte Wochenkommentar:

«Wir sind am Lavieren und verlieren wertvolle Zeit. Stattdessen müsste jetzt entschieden gehandelt werden – bevor die Fallzahlen noch höher liegen, bevor der Herbst beginnt.»
«Wer hört das Signal?», 22.08.2020

Im Dialog tauchen zunehmend Verweise auf Studien und Forscherinnen auf, die dem wissenschaftlichen Konsens widersprechen, etwa der Schweizer Infektiologie Pietro Vernazza oder der US-Epidemiologe John Ioannidis. Sie vertreten die These, das Virus sei deutlich weniger tödlich, als zu Beginn der Pandemie geschätzt wurde. Wir verzichten darauf, dem Faktenchecks entgegenzustellen.

Dabei verfolgen wir die redaktionelle Linie: Unsere Ressourcen sind begrenzt, und wir sind nicht im Debunking-Geschäft. Wir wollen Leserinnen über die Fakten informieren, die wir sorgfältig und aus eigenem Antrieb heraus recherchiert haben. Im Verlauf des Herbsts wird unter Ihnen der Vorwurf lauter, wir würden berechtigte Kritik ausblenden und Debatten abwürgen.

Fazit: In den grossen Linien (Verhältnis­mässigkeit des Shutdowns und der Massnahmen, Wirtschaft versus Gesellschaft, System­versagen des Föderalismus in der Krise) sind wir richtig positioniert; sie halten unserer fortlaufenden Überprüfung stand. Auch die frühen Einschätzungen zu den wirtschaftlichen Folgen (Gewinner gewinnen, Verlierer verlieren) bestätigten sich im weiteren Verlauf der Krise. Wir erarbeiten die Grundlagen, mögliche Lockerungs­strategien zu skizzieren, bleiben an der mangelnden Vorbereitung der Schweiz auf eine Pandemie dran und verfolgen das Contact-Tracing eng. Beim Testing – einem zentralen Pfeiler der Strategie in einer Pandemie – gelingt uns nur ein episodisches Bild. Das Thema Schule verpassen wir, auch die Lage in den Alters- und Pflegeheimen nahmen wir zu wenig in den Blick.


Welches Fazit ziehen Sie? Wie gut oder schlecht fühlten Sie sich in den Monaten zwischen den beiden Wellen dieser Pandemie bei der Republik aufgehoben? Was hätten wir besser machen können? Hier gehts zur Debatte.

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