Hey Joe!

Wer ist der neue amerikanische Präsident? Nicht allein als Politiker, sondern als Mensch? Eine Annäherung mit vier Büchern – über ihn und von ihm.

Von Daniel Graf, 23.01.2021

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Ganz schön cool: Joe Biden – Stehaufmann, Familienmensch und US-Präsident. Mario Sorrenti/art partner

Als Joe Biden ins Rennen um die US-Präsidentschaft ging, wurde er gerade deshalb als besonders aussichts­reicher Kandidat gehandelt, weil er als moderat und bodenständig galt. Er wusste eine breite Wählerschaft aus der Mittel­schicht hinter sich, war beim Fundraising wesentlich erfolgreicher als die Konkurrenz, und mit Blick auch auf die Kritikerinnen und Skeptiker aus den eigenen Reihen sagte er gegenüber Journalistinnen, er spüre es einfach, dass er die Präsidentschafts­wahlen tatsächlich gewinnen könne: «I just know it. I can feel it in my fingertips.»

Das war 1987. Wenige Wochen bevor er sich nach einer Plagiats­affäre und etlichen Schnitzern aus dem partei­internen Nominierungs­kampf zurück­ziehen musste. Und 33 Jahre bevor er das damals anvisierte Ziel erreichte.

Zwischen Bidens erster Präsidentschafts­kandidatur und der Amts­einsetzung am vergangenen Mittwoch liegen mehrere Epochen­wechsel (vom Ende des Kalten Krieges über 9/11 bis zur gegenwärtigen Pandemie). Aber auch zahlreiche Wende­punkte, Rück- und Schicksals­schläge in Bidens Privatleben.

Seit über einem halben Jahrhundert bekleidet Joe Biden nun schon höchste politische Ämter. Trotzdem verbindet man mit ihm erstaunlich wenig, jedenfalls wenn man sich nicht gerade haupt­beruflich mit amerikanischer Politik beschäftigt.

Wofür steht er? Was hat ihn geprägt? Wer ist Joe Biden jenseits der politischen Bühne, als Mensch?

Evan Osnos, der für den «New Yorker» seit Jahren seinen Werdegang verfolgt, hat kürzlich die massgebliche Biografie des neuen US-Präsidenten vorgelegt. Und es ist kein Zufall, dass Osnos sein konzises, auf das Wesentliche konzentriertes Buch mit den Jahren 1987/88 beginnen lässt. Hier verdichten sich die politischen wie persönlichen Extrem­situationen für Joe Biden binnen kürzester Zeit.

Wenige Monate nach der gescheiterten Präsidentschafts­kandidatur erleidet Biden eine Hirn­blutung durch ein Aneurysma. Bevor die Notoperation beginnt, bekommt der gläubige Katholik von einem Priester bereits die letzte Ölung. Doch Biden überlebt. Es folgt ein zweites Aneurysma. Weitere Operationen. Während des Wahlkampfs, den er selbst hatte bestreiten wollen, liegt er monatelang im Spital – aber er wird wieder vollständig gesund, ohne die befürchteten Beeinträchtigungen seines Sprachvermögens.

«Das Scheitern seiner Präsidentschaftskandidatur», schreibt Osnos, «hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.» Denn hätte er weiter Wahlkampf gemacht und, wie zuvor, monatelang seine Kopfschmerzen mit Paracetamol betäubt, «wäre er jetzt möglicher­weise nicht mehr in der Welt».

Evan Osnos skizziert in seinem Prolog nicht weniger als ein Leitmotiv: Persönliche Schicksals­schläge überstehen, politische Nieder­lagen verwinden, das gehört schon früh zu Bidens Biografie. Erzählungen über Bidens Leben sind in der Regel Geschichten von Widerstands­kraft, Ausdauer und einem verblüffenden Talent, noch den grössten Widrigkeiten einen Ansporn abzutrotzen.

Biden selbst hat in seinen eigenen Büchern den persönlichen und familiären Traumata grossen Platz eingeräumt: Das gilt für «Promises to Keep», seine umfangreiche, bislang nicht auf Deutsch erhältliche Autobiografie von 2007, ebenso wie für das soeben auf Deutsch erschienene Memoir «Versprich es mir», das im Original bereits 2017 herauskam.

Auch von Joe Biden gibt es also, was man in der Buch­branche mit dem nicht nur positiv gemeinten Label «Politiker­buch» versieht: eine Textgattung, in der die Kunst des möglichst unauffälligen Selbstlobs gepflegt wird und deren stilistische Qualität meistens stark vom Können des Ghostwriters abhängt.

Es ist dennoch erhellend, die beiden Bücher jetzt erstmals oder wieder zu lesen – gerade weil solche Texte auch Selbst­inszenierungen sind. Sie zeigen, wie Biden sich selbst sieht und wie er von der Öffentlichkeit und den Wählerinnen gesehen werden möchte. Mit «Politiker­büchern» wird Politik nicht analysiert, sondern gemacht.

Trauer und Trost: Der Menschenversteher

1987/88 war nicht der erste tragische Wendepunkt in Bidens politischer Laufbahn. Schon an deren Anfang stand eine persönliche Tragödie.

1972 ist Joe Biden mit gerade einmal knapp 30 Jahren in den Senat gewählt worden. Mithilfe seiner Schwester Val bereitet er sich in Washington auf die anstehende Vereidigung und seine neue Tätigkeit vor, als ihn am 18. Dezember die Nachricht vom Verkehrs­unfall seiner Familie erreicht. Seine Frau Neilia war mit den Kindern losgefahren, um einen Weihnachts­baum zu besorgen. Beim Abbiegen wird der Chevrolet-Kombi der Bidens von einem Lastwagen erfasst. Neilia und die einjährige Tochter Naomi kommen ums Leben, der zweijährige Hunter erleidet einen Schädel­bruch, der dreijährige Beau Knochen­brüche am ganzen Körper.

Der junge Senator mit seiner ersten Familie: Ehefrau Neilia und die Kinder Hunter und Beau.Bettmann/Getty Images
Amtseid als Senator: Joe Biden mit Senatssekretär Frank Valeo (links), Schwiegervater Robert Hunter und Sohn Beau. Bettmann/Getty Images

Biden, für den die Zukunft soeben noch rosig schien, verfällt in tiefe Trauer, denkt an Selbstmord. Was ihn abhält, so schreibt er rückblickend 2007, ist die Verantwortung für seine beiden Söhne. «Ich wusste, ich hatte keine andere Wahl, als zu kämpfen, um am Leben zu bleiben.»

2015, als er eine erneute Kandidatur fürs Präsidentenamt plant, verliert Biden auch seinen Sohn Beau durch Krankheit (davon später mehr).

Das Thema Trauer und Trost wird für Biden zu einem Lebens­thema. Und immer wieder wird er als Politiker aus der eigenen Schmerz­erfahrung eine Verpflichtung ableiten – bis hin zu seiner Inaugurations­rede am Mittwoch, in der er, wie schon im Wahlkampf, die Mission ausgab, Amerika zu heilen.

In Bidens autobiografischen Texten ist unverkennbar, wie wichtig ihm die Rolle als Tröster, als Kümmerer, als empathischer Gesprächs­partner und Menschen­versteher ist. Und wer Bücher über Biden liest, wird das nicht einfach als Image­pflege abtun können. «Er ist ein Politiker, der ständig Tuch­fühlung sucht, und es ist alles echt. Nichts davon ist aufgesetzt», zitiert Evan Osnos den ehemaligen Senator und Aussen­minister John Kerry. Ähnliche Aussagen über Biden gibt es zuhauf.

Wenn die Frage nach der Person Joe Biden aufkommt, wird meist erzählt, was ihm alles zugestossen ist. Eine Eigenschaft allerdings wird ihm von Weggefährten immer zuerst zugeschrieben: Menschenfreundlichkeit. Einen «Ausbund an Warmherzigkeit» nennt ihn Barack Obama in seinen ebenfalls kürzlich erschienenen Memoiren. Es ist ein weiteres Buch, das sich mit Blick auf Joe Biden zu lesen lohnt, weil bei Biden wie bei Obama zwischen den Zeilen deutlich spürbar ist, über welche grundlegend verschiedenen Politikstile hinweg sich ihre Freundschaft entwickelte – und welche Belastungs­proben sie auszuhalten hatte.

Wie kaum ein anderer im politischen Washington steht Joe Biden für einen Politiker, der nahbar geblieben ist. Einen, den die Vielzahl an persönlichen Schicksals­schlägen demütig gemacht hat. Und dem es auf irgendeine Weise immer wieder gelingt, sich aus der Trauer heraus neu auf- und auszurichten.

Zweieinhalb Jahre nach Neilias Tod lernt er bei einem Blind Date (das Joes Bruder James arrangiert hat) seine heutige Frau Jill Tracy Jacobs kennen, eine angehende Lehrerin, die nebenbei als Model arbeitete. Biden erkannte sie, schreibt Osnos, «weil er sie am Flughafen auf einem Werbe­plakat gesehen hatte».

Der erste Anlauf auf das ersehnte Amt: Joe und Jill Biden im Jahr 1987, während der Nominierungsphase für den Präsidentschaftswahlkampf. Rick Maiman/Sygma/Getty Images

1977 heiraten die beiden, nach mehreren Anträgen von Joes Seite. 1981 bekommen sie die gemeinsame Tochter Ashley, die heute als Sozial­arbeiterin, Aktivistin und Mode­designerin tätig ist.

«Forever wild»: Der Familienmensch

Wenn es stimmt, dass der erste Eindruck der wichtigste ist; und wenn es etwas über Prioritäten aussagt, womit ein Autor seine Erzählung beginnt, dann senden Bidens Bücher ein klares Signal: Familie.

Es sind Szenen eines traditionellen, wertkonservativen amerikanischen Familien­lebens, mit denen Joe Biden seine Bücher eröffnet. Szenen, die beim Lesen vor allem auch deshalb frappieren, weil sie so spektakulär unspektakulär sind. Anders gesagt: weil sie das Klischee geradezu umarmen.

«Versprich es mir», das neuere der Bücher, beginnt mit – Thanksgiving. Seit 1975 haben Jill und Joe Biden das amerikanischste aller Familienfeste jedes Jahr auf der Insel Nantucket südlich von Cape Cod verbracht, gemeinsam mit ihren Kindern. Und seit diese selbst welche haben, auch gemeinsam mit den Enkeln.

Das alljährliche Familienfest: Die Bidens … Kris Kinsley Hancock
… feiern Thanksgiving auf der Insel Nantucket. Kris Kinsley Hancock

Bei der ersten Fahrt auf die Atlantikinsel, 1975, hatte Joe Biden seinen Söhnen Beau und Hunter versprochen, ihnen ein Geschenk zu kaufen, das sie sich in den Shops vor Ort aussuchen durften – ein Ritual, das sich später auf Ashley, noch später auf die Enkel ausdehnte und sich Jahr für Jahr so zuverlässig wiederholte wie das traditionelle Familien­foto. Dieses entsteht am immer gleichen Ort: vor einem kleinen Saltbox-Haus direkt am Wasser, unter einem Schild mit der Aufschrift «Forever wild». (Eine Tradition, die 2014 jäh endete, weil ein Sturm das Schild samt dem Haus in den Atlantik gerissen hatte.)

Die Wertschätzung für Rituale und Routinen lernt Joe Biden schon in seinem eigenen Elternhaus in Scranton, Pennsylvania, kennen (die Familie sollte später nach Claymont, Delaware, dann nach Wilmington ziehen, wo Biden noch heute lebt). Insbesondere der Familien­zweig der Mutter, die irisch­stämmigen Finnegans, kultiviert seine katholischen Traditionen. Joe Biden, der Älteste, seine Schwester und die beiden Brüder wachsen in einem Alltag auf, in dem der regelmässige Besuch der Messe, das Auswendig­lernen des Katechismus und die Ehrerbietung an Priester und Nonnen eine Selbst­verständlichkeit sind. Von seinem Grossvater lernt Biden damals, den Rosenkranz zu beten, und seinen Büchern zufolge betet er ihn in schwierigen Situationen noch heute.

Nun hat es in der amerikanischen Politik selten geschadet, sich zu familiären Werten und zur eigenen Religiosität zu bekennen (jedenfalls, sofern es um die traditionelle Familie und die christliche Religion ging). In Joe Bidens Schilderungen und in der öffentlichen Wahrnehmung seiner Person spielt darin aber immer auch etwas Zweites mit: die Verortung der eigenen Herkunft in der unteren Mittel­schicht. Ein Bekenntnis zum «ganz normalen Leben». Samt seinen Heraus­forderungen und Tiefschlägen.

«Get up!»: Der Stehaufmann

«Get up!»: Steh auf, wenn du gefallen bist, lautete das Losungs­wort seines Vaters, Joseph Robinette Biden Sr., der es als junger Geschäfts­mann zu einem kleinen Vermögen gebracht hatte, dann arbeitslos wurde und fortan ungeliebten Arbeiten als Heizkessel­reiniger und Auto­verkäufer nachging.

Das Motto des Vaters, schreibt Biden, sei auch der Generalbass seines Lebens gewesen.

In der Highschool-Zeit hatte Joe Biden Jr. heftig gestottert: «Wenn ich redete, klang es wie Morse-Codes», heisst es in der Autobiografie. Und als man in seiner katholischen Jungenschule im Latein­unterricht die Vokabel impedimenta lernte – wörtlich «Hindernisse», im übertragenen Sinne «Sprachstörung» –, hatte er bei den Mitschülern seinen ersten Spitznamen weg: «Joe Impedimenta».

Doch mit dem Rezitieren klassischer Texte und eiserner Disziplin besiegte er schliesslich das Stottern. Und wie Evan Osnos berichtet, arbeitete er noch Jahrzehnte später als gestandener Politiker hart an seiner Redetechnik. Nachdem der Kongress­abgeordnete Steve Solarz ihn einmal im Senat vor einem leeren Plenarsaal das Reden üben sah, soll er gesagt haben: «Dieser Mann trainierte tatsächlich, er trainierte wie ein Tennisprofi.»

Trainieren musste der Berufs­politiker auch, sich in Geduld zu üben und seinen Ehrgeiz zu zügeln. Das Motto «Get up!» würde er noch viele Male brauchen, um über politische Niederlagen hinweg­zukommen. Und wie in allen Phasen seines Lebens spielte dabei die Unter­stützung durch seine Familie eine entscheidende Rolle.

Als er im Rennen um die Präsidentschafts­wahlen 2008 Barack Obama den Vortritt lassen musste, war es Jill Biden, die ihrem Mann in aller Deutlichkeit klarmachte, dass er nun die Chance habe, dem ersten schwarzen Präsidenten ins Amt zu verhelfen und ihm seine Unter­stützung zukommen zu lassen. Und nachdem Obama ihm die Rolle des Vizepräsidenten angeboten und er zunächst abgelehnt hatte, war es offenbar sie, die ihren Mann zum Umdenken brachte. Auf seine Frage, wie er damit umgehen solle, die zweite Geige zu spielen, antwortete sie knapp und deutlich: «Hör mal Joe. Werd endlich erwachsen.»

«Amtrak Joe»: Der unglamouröse Aufsteiger

Joe Biden sollte auch von seinen demokratischen Partei­freunden einen Spitznamen erhalten. Weil er selbst nach vielen Jahrzehnten als Senator noch immer nicht nach Washington zog, sondern an seinem Wohnort in Wilmington festhielt und die 90-Minuten-Zugstrecke in die Hauptstadt pendelte, nannte man ihn mehr kopfschüttelnd als freundschaftlich «Amtrak Joe» – nach der amerikanischen Eisenbahngesellschaft.

Dahinter steckt mehr als ein zweifelhafter Gag.

Der Eisenbahn-Liebhaber: Joe Biden spricht als Senator auf Wahlreise mit Anhängerinnen. Cynthia Johnson/The Life Images Collection/Getty Images

Joe Biden ist zugleich einer der dienstältesten Amtsträger in Washington – und einer, der dem gängigen Bild eines politischen Hauptstadt­repräsentanten am fernsten steht. Weder gehört er einer der amerikanischen Polit­dynastien an, noch ist er Abgänger einer Ivy-League-Universität. Wie Evan Osnos betont, war er seit Walter Mondale 1984 der erste demokratische Präsidentschafts­kandidat ohne Eliteuni im Portfolio. In einem Umfeld, in dem der Stallgeruch eine sehr viel grössere Rolle spielt, als es der Mythos vom American Dream wahrhaben will, blieb die Durchschnittlichkeit von Bidens Bildungsweg seine gesamte Laufbahn hindurch ein wirkmächtiger Faktor.

Wie ambivalent das Thema ist, scheint exemplarisch durch, wenn Obama Bidens Charakter lobt und im selben Atemzug anfügt: «Ein Mann, der sich keinen Zwang antat und bereitwillig alles, was ihm durch den Kopf ging, mit anderen teilte.» Man kann darin beinah ein vergiftetes Kompliment sehen. Denn aus dem Mund eines rhetorischen und diplomatischen Virtuosen wie Obama heisst das auch: Biden redet selbst dann treuherzig darauflos, wenn taktische Zurück­haltung angebracht wäre – und kaum verhohlen steckt darin auch eine Kritik an Bidens berüchtigtem Hang, in Fettnäpfchen zu treten.

Biden jedenfalls, schreibt Osnos, reagiere «dünnhäutig auf reale und eingebildete Kränkungen». Aber sein erkennbar von den Clintons und Obamas abweichender Habitus verleiht ihm auch wertvolle Glaubwürdigkeit bei all jenen, die mit Skepsis oder gar Ressentiment auf die politische Elite blicken. Und Biden erkannte sehr viel früher und deutlicher als etwa Hillary Clinton, welches Gewicht die soziale Frage, aber auch die gesellschaftlichen Zuschreibungen von Elite und Underdogs für das Wahlverhalten der amerikanischen Arbeiter­klasse spielen würden – weshalb er in der kurzen Phase seiner Anwärterschaft für die Präsidentschafts­wahl 2016 eher nach Bernie Sanders als nach Hillary Clinton klang.

Das änderte jedoch wenig an Bidens grösstem parteiinternem Problem: seinem Standing beim linken Flügel.

Links ungeliebt: Der Trotzdem-Kandidat

Dass Joe Biden nie der Präsidentschafts­kandidat der Aufbruch­stimmung war, liegt nicht allein daran, dass er ohne das Charisma, den Glamour und die Faszinations­kraft eines Kennedy oder eines Obama auskommen muss.

Von der Generation Alexandria Ocasio-Cortez, die zunehmend die Demokratische Partei prägt, wirkt er auf mindestens dreierlei Weise denkbar weit entfernt: vom Alter her, vom Politikstil und von seinen Positionen – auch wenn Letzteres wesentlich komplizierter ist, als es im öffentlichen Diskurs manchmal den Anschein erweckt.

«Eine Zusammenfassung von Bidens Abstimmungs­verhalten im Senat», schreibt Evan Osnos treffend, «wirkt für heutige Linke wie eine Auflistung von Anklagepunkten»:

Er stimmte für die Deregulierung der Finanz­märkte, für das Gesetz zum Schutz der Ehe, für das Nordamerikanische Freihandels­abkommen (Nafta), für die Invasion im Irak. (…) Aber nichts in Bidens Abstimmungs­bilanz hat seinem Ansehen bei den Progressiven so sehr geschadet wie sein Beitrag zum Entwurf des Violent Crime Control and Law Enforcement Act von 1994, der umfassendsten Strafrechts­reform in der amerikanischen Geschichte.

Heute gilt die Strafrechts­reform als ein zentraler Faktor für die massenhafte Inhaftierung junger Schwarzer. Wer jetzt allerdings innerlich das Bernie-Sanders-Fähnchen schwenkt, sollte wissen: Auch dieser hatte damals für das Gesetz gestimmt.

Biden hat später, auch in seinem Buch «Versprich es mir», einigen Aufwand betrieben, um darzulegen, dass es ihm damals vor allem um eine bürgernahe Polizei­arbeit gegangen sei – und dass dieses Ziel im Lauf der Jahre, insbesondere in der Bush-Administration, ins Gegenteil verkehrt worden sei. Eine Hypothek bleibt es für seine Reputation in der Linken dennoch. Und was Osnos nur an anderer Stelle und eher verharmlosend erwähnt: Biden hat 2003 eine unkritische Trauerrede auf den Segregationisten Strom Thurmond gehalten. Nicht jede und jeder hat ihm das verziehen.

Auch sein Umgang mit Frauen ist immer wieder, auch im Wahlkampf, Thema gewesen. Wie unter anderem die ehemalige Abgeordnete Lucy Flores aus eigener Erfahrung berichtete, verletze Biden manchmal die persönliche Distanz­zone von Frauen durch Grenz­überschreitungen und unerwünschte Berührungen – was sie jedoch nicht als sexuellen Übergriff, sondern als Ausweis mangelnder Empathie und als Missbrauch seiner Macht­position deutete.

Biden gelobte Besserung. Seine ehemalige Mitarbeiterin Tara Reade hingegen beschuldigte ihn, sie Anfang der Neunziger sexuell genötigt zu haben, was Biden vehement bestreitet. Journalisten wiesen auf Unstimmigkeiten in Reades Schilderungen hin, andere Wortmeldungen stützten ihren Vorwurf. Nachdem eine wochenlange öffentliche Kontroverse keine Klärung brachte, geriet der mögliche Skandal wieder aus den Schlag­zeilen. Doch bleibt auch bei diesem Thema im Mindesten ein Spannungs­feld zwischen Bidens Image als Mann aus einer vergangenen Zeit und der wokeness vor allem junger Demokratinnen und Demokraten.

Was Bidens Verhältnis zur eigenen Partei angeht, lässt sich insgesamt jedenfalls vermuten: Viele aus dem progressiven Lager werden ihm ihre Stimme vor allem als ein Anti-Trump-Votum gegeben haben – wenn überhaupt.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich Biden in den letzten Jahren immer wieder auf die Parteilinke zubewegt hat – inhaltlich wie durch persönliche Allianzen.

Nach den Vorwahlen nahm er Elemente von Elizabeth Warren und Bernie Sanders in sein eigenes Wahl­programm auf. Und als er in seiner Amtsantritts­rede am Mittwoch besonnen und mit grosser Ernsthaftigkeit die Schwerpunkt­themen seiner Regierungs­zeit skizzierte, wird durchaus auch die Parteilinke die zentralen Stichworte ihrer Agenda vernommen haben:

  • Kampf gegen Rassismus und white supremacy

  • Kampf gegen soziale Ungleichheit

  • Echte Chancengleichheit in einem ethnisch vielfältigen Land

  • Klima- und Corona-Krise als Heraus­forderungen, die keinen Aufschub dulden

Was all das konkret heissen wird und wie es sich mit dem übergeordneten Ziel einer Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung zusammen­bringen lässt, wird Biden zeigen müssen. Aber er dürfte wissen, dass er ab sofort daran gemessen wird. Und seine ersten Erlasse deuten darauf hin, dass es ihm ernst ist mit seinen Versprechen.

Bereits in den kommenden Monaten wird sich auch zeigen, wie stark die Bande zur Partei­linken sind, die er während des Wahlkampfs geknüpft hat.

Mit Bernie Sanders, der Biden frühzeitig seine Unter­stützung anbot, bildete er Arbeits­gruppen zu zentralen Themen wie Wirtschaft und Gesundheits­versorgung. Die Biden-Kritikerin Alexandria Ocasio-Cortez hat er zusammen mit John Kerry zur Leiterin seiner Klima-Arbeitsgruppe gemacht, der auch Varshini Prakash vom klima­aktivistischen Sunrise Movement angehört. Man kann bei Evan Osnos nachlesen, wie positiv sie von dem partnerschaftlichen Dialog mit Biden spricht. Und nicht zuletzt hat Biden mit der neuen Vizepräsidentin Kamala Harris seine womöglich stärkste Verbündete gefunden: Wie er selbst ist Harris eine Vertreterin der Mitte, sie war bei den Vorwahlen allerdings eine seiner schärfsten Kritikerinnen. Vor allem aber ist sie trotz ihres Law-and-Order-Backgrounds eine potenzielle Identifikations­figur, nicht nur für Frauen und People of Colour, sondern für eine Parteilinke, der an einer im Wortsinn repräsentativeren Demokratie gelegen ist.

Das führt zum letzten und wichtigsten Punkt: dem Netzwerker und Brückenbauer Joe Biden.

Zwischen Ehrgeiz und Demut: Der Brückenbauer

Als die Mutter seiner späteren Frau Neilia den 20-jährigen Joe Biden fragte, welche beruflichen Ziele er habe, war die Antwort: Präsident der Vereinigten Staaten.

60 Jahre und etliche Anläufe später hat er dieses Ziel tatsächlich erreicht – undenkbar ohne die Biden-Mischung aus Beharrlichkeit, Resilienz und unzerstörbarem Optimismus.

Wie aber passen die wirkmächtigsten Bilder von seiner Person überhaupt zusammen: der Ehrgeizige und der Demütige? Der Politstratege und der Menschenfreund?

Es ist aufschlussreich, noch einmal auf die Jahre seiner Vizepräsidentschaft zu schauen und genau hinzuhören, wie er selbst darüber spricht – beziehungs­weise schreibt.

Bidens Buch «Versprich es mir» erzählt detailliert von dieser Zeit – und von seinen Schicksals­jahren 2014/15, als seine Arbeit als Krisenmanager im Irak, seine Pläne für eine Präsidentschafts­kandidatur und die tödliche Krebs­erkrankung seines Sohnes Beau zusammen­treffen. Das Buch enthält, bei aller Vorsicht gegenüber dieser Textgattung, einige Schlüssel­sätze für Bidens Antrieb als Politiker und als Mensch.

Bevor Biden Obamas Angebot der Vizepräsidentschaft annimmt, stellt er eine Bedingung: Er wolle bei allen wichtigen Entscheidungen des Präsidenten «der letzte Mann im Zimmer» sein. Derjenige also, der ihn als Letzter berät.

Der engste Vertraute: Joe Biden als Vize von US-Präsident Barack Obama. Alex Wong/Getty Images

Seine Rolle im Kabinett ist vor allem die des Vermittlers – weil er über die Jahrzehnte nach innen wie nach aussen Kontakte aufgebaut hat wie niemand sonst. Im Inland ist er schon damals derjenige, der den republikanischen Hardliner Mitch McConnell am ehesten zu Konzessionen bewegen kann. Und im Ausland? «Man kann ihn in Kasachstan oder Bahrain oder wo auch immer absetzen – er wird dort irgendeinen Typen finden, den er vor dreissig Jahren kennenlernte und der mittlerweile das Sagen hat», zitiert Evan Osnos Bidens frühere Mitarbeiterin Julianne Smith.

Tatsächlich nimmt kein anderes politisches Thema in Bidens «Versprich es mir» so viel Raum ein wie seine politische Vermittlungs­arbeit in der Ukraine-Krise – und im Irak. Letzteres ist ebenfalls eine alte Hypothek, die er nun zu begleichen suchte. Schliesslich hatte er sich in seiner Zeit als Senator für einen Einmarsch im Irak starkgemacht (was er später als Fehler bezeichnete).

Es ist jedenfalls vielsagend, wie er eine der zentralen Szenen seines Krisen­managements im Mittleren Osten in einen Cliffhanger münden lässt:

Endlich hatte ich etwas Luft, um mich auf Beau zu konzentrieren. Dann kam der Anruf von Haider al-Abadi. Er war ein unaufgeregter Mensch, doch nun steckte er eindeutig in einer ernsten Krise. «Joe», sagte der neue Premier­minister des Irak. «Ich brauche Ihre Hilfe.»

Das Gefühl, gebraucht zu werden; jemandem in Not mit der eigenen Erfahrung eine Hilfe zu sein – ist das der Grund­antrieb von Joe Biden? Und der tiefere Konnex zwischen dem Selbst­verständnis als Familien­vater und seiner Motivation als Politiker?

Als das Ende von Obamas Amtszeit näherrückt und Biden sich erneut Hoffnungen auf eine Präsidentschafts­kandidatur macht, erkrankt Beau Biden an einem Hirntumor. Das Jahr 2014 ist von Hoffen und Bangen bestimmt, aber zunehmend zeichnet sich ab, dass Beau die Krankheit nicht überleben wird.

Beau hatte, wie die gesamte Familie, seinen Vater bereits gedrängt zu kandidieren. Er hatte ihn auch ermutigt, als sich bereits abzeichnete, dass weite Teile der Partei sich nicht hinter ihm, sondern hinter Hillary Clinton versammelten – Obama eingeschlossen.

Nun nahm er seinem Vater das Versprechen ab, sich nicht von seinen Plänen abbringen zu lassen – trotz der Krankheit seines Sohnes. «Versprich mir, dass du klarkommst.»

Am 30. Mai 2015 stirbt Beau. «Ich kannte die Situation und wusste, was auf mich zukam», schreibt Joe Biden in «Versprich es mir»:

Der Schock löst zunächst eine Taubheit aus, die dann mit der Zeit nachlässt. Darauf folgt jedoch der Schmerz, der immer mehr an Schärfe gewinnt. Dieser Schmerz ist körperlich zu spüren, und er hört nie auf.

Niemand im Weissen Haus erwartet, dass er so schnell zurück an die Arbeit geht, doch Joe Biden meldet sich vier Tage nach der Trauer­feier, auf der Barack Obama die Hauptrede gehalten hat, wieder zum Dienst. «Ich musste etwas zu tun haben, um nicht den Verstand zu verlieren.»

Noch kann er die Entscheidung über eine Kandidatur aufschieben. Er ist im Grunde noch immer überzeugt von seiner Eignung – und er hat Beau versprochen, sich nicht der Trauer zu ergeben. Aber er spürt, dass er noch nicht so weit ist. Dass es nicht seine Zeit ist. Am 21. Oktober 2015 gibt er seinen Verzicht auf die Kandidatur bekannt.

Bei aller Beharrlichkeit, bei allem Ehrgeiz: Nicht mit dem Kopf durch die Wand – das ist für ihn die Lektion des Jahres 2015.

Niemand konnte damals mit guten Gründen davon ausgehen, dass Biden noch einmal eine Chance auf das Amt bekommen würde. Doch je länger der Trumpismus seine Anschläge auf die Demokratie verübte und je länger die Pandemie im Land wütete, desto mächtiger ist die Grund­botschaft von Bidens gesamter politischer Laufbahn geworden: Wenn ich nach all den Schicksals­schlägen noch hoffen kann, könnt ihr das auch. Das ist vielleicht, abseits konkreter politischer Inhalte, auf einer rein emotionalen Ebene, das wichtigste Versprechen, das mit seinem Amtseintritt einhergeht.

Lasst uns gemeinsam Amerika heilen: Es ist offensichtlich, wie gross die Fallhöhe dieses Anspruchs ist. Ebenso, dass Bidens Botschaft im Grunde mit einem metaphorischen Sprung arbeitet: von der persönlichen Erfahrung auf ein Versprechen für eine Nation.

Unter den Augen von Abraham Lincoln: Joe Biden spricht an seinem ersten vollen Amtstag im State Dining Room im Weissen Haus über seine Pläne, die Pandemie zu bekämpfen. Al Drago/Bloomberg/Getty Images

Aber glaubwürdig war und ist Biden hier als Botschafter, weil er mit seiner ganzen Existenz den Gegenpol zu Trump bildet. Wo dessen Narzissmus immer nur auf ihn selbst zurückspiegelt, lenkt Biden den eigenen Ehrgeiz auf das Gemeinwohl um: Er knüpft sein Selbstwert­gefühl an das Mass, in dem er auf Verbesserungen für andere zielt.

Man kann das für hoffnungslos idealistisch halten. Und aller­spätestens der Sturm aufs Kapitol hat überdeutlich gemacht, wie vielen im Land die Waffe deutlich näher ist als die Diskurs­ethik Marke Joe Biden.

Die Herausforderungen, vor denen Biden und die USA stehen, sind gewaltig.

Doch kann man zunächst einmal festhalten: Im Weissen Haus sitzt nun einer, dem das Wohl der Menschen am Herzen liegt. Das ist schon ein erster Unterschied ums Ganze.

Zu den Büchern

Evan Osnos: «Joe Biden. Ein Porträt». Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff und Stephan Gebauer. Suhrkamp, Berlin 2020. 263 Seiten, ca. 28 Franken.

Joe Biden: «Versprich es mir. Über Hoffnung am Rande des Abgrunds». Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind und Friedrich Pflüger. C. H. Beck, München 2020. 250 Seiten, ca. 32 Franken.

Joe Biden: «Promises to Keep. On Life and Politics». Taschenbuch­ausgabe. Random House, New York 2007. 400 Seiten, ca. 20 Franken.

Barack Obama: «Ein verheissenes Land». Aus dem Amerikanischen von Sylvia Bieker, Harriet Fricke, Stephan Gebauer, Stephan Kleiner, Elke Link, Thorsten Schmidt und Henriette Zeltner-Shane. Penguin, München 2020. 1024 Seiten, ca. 57 Franken.

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