Liebe Leserinnen und Leser
Wir schreiben es immer wieder: Covid-19 is a numbers game. Eine einzelne Infektion kann einen ganzen Rattenschwanz an weiteren Ansteckungen, potenziellen Ansteckungen, Quarantänen, Isolationen, Arbeitsausfällen (und so weiter und so fort) nach sich ziehen.
Wovon selten gesprochen wird, ist die derzeitige Realität von Patchworkfamilien: Da gibt es Satellitenwohnungen und mehrere Erwachsene und verschiedene Betreuungszeiten und Mittagstische. Kurz: viel Organisation, auch ausserhalb von Pandemiezeiten.
Wie ergeht es einer Patchworkfamilie, wenn sich ein Kind angesteckt hat? Journalistin Seraina Kobler macht diese Herausforderung im Moment durch:
«Als die SMS kam, war ich gerade mit meiner Mutter am Telefon: positiv. Ein Wort, vor dem ich mich eine Kindheit lang gefürchtet hatte, wütete doch damals die Aids-Epidemie. Nun starrte ich auf das Resultat meines 13-jährigen Sohnes, der drei Zimmer weiter in Einzelisolation sass. Nur ein paar Stunden vorher sind wir durch eine dicke Schicht Schnee ins Testzentrum gestapft. Wird schon nichts sein. Wann ich das letzte Mal nahen Kontakt zu meinem Sohn hatte, wurde ich dort gefragt. Ich musste nachdenken. Nicht nur, weil Teenager nicht mehr den ganzen Tag mit ihrer Mami kuscheln. Es ist eben auch so, dass wir eine grosse, vom Leben zusammengesetzte Familie sind. Sein Papa wohnt zwei Strassen weiter. Meine beiden Söhne gehen alle paar Tage zwischen den Haushalten hin und her. Ich lebe mit meinem Mann und unseren beiden Töchtern zusammen. Wir teilen alles. Die Erwerbsarbeit. Die Kinderbetreuung. Und nun also auch das Virus.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn die Jungs waren eben vom Papa zurückgekommen, als bei einem von ihnen die Symptome einsetzten. Und um auf die Frage im Testcenter zurückzukommen: Es gab nur ein sehr kurzes Zeitfenster für eine mögliche Übertragung von meinem Sohn auf mich. Anders sieht es bei den jüngeren Schwestern aus, die zusammen mit den Jungs einen Zeichentrickfilm geschaut hatten. Im Wissen darum, dass wir die nächste Zeit in Quarantäne verbringen würden, haben wir den Rückweg im Schnee besonders genossen. Als das positive Resultat für meinen älteren Sohn nur ein paar Stunden später kam, hiess es also: Testen. Testen. Testen. Damit haben wir einen ganzen Tag zugebracht. Denn für Familien ist das gar nicht so einfach, weil Kinder und Erwachsene in unterschiedliche Krankenhäuser müssen. Von 20 Zentimetern Neuschnee ganz zu schweigen.
Seither zieht sich ein Testresultat-Graben durch unsere Wohnung. Da mein Mann am Arbeiten war und keinen Kontakt zu meinen Söhnen hatte, ist er es nun, der uns mit Einkäufen versorgt. Die beiden Jungs mit dem Direktkontakt sind nun den dritten Tag in kompletter Isolation in ihren Zimmern. Weil mein Resultat negativ war und das der anderen Kinder noch ausstehend ist, müssen wir maximal auf die Hygiene achten. Das heisst: FFP2-Masken, alle paar Stunden ausgewechselt. Aufgeteilte Bäder und Toiletten. Türklinken alle paar Stunden desinfizieren. Wenn ich ihnen Essen hinstelle, machen die Jungs zuerst ihre Fenster auf.
Gestern habe ich unser Netflix-Abo hochgefahren. Nicht weil sie die ganze Zeit schauen, sondern weil sie alleine schauen müssen und wir deshalb mehr Zugänge brauchen. Wenn sie denn zum Schauen kommen. Denn im Gegensatz zum ersten Lockdown sind ihre Schulen top vorbereitet auf den Fernunterricht: Quarantäne-Kinder können zu Hause lernen. Die Jungs werden per Videochat angerufen, manchmal mehrmals am Tag. Jeden Abend kommt der Plan für den nächsten Tag. Jetzt gerade sitzt mein jüngerer Sohn in einem zur Schule improvisierten Kinderzimmer vor dem grossen Bildschirm und lernt mit seiner Lehrerin.
So weit, so gut, könnte man sagen. Doch was ist, wenn eines der jüngeren Kinder angesteckt wurde? Es wäre nicht möglich, eine 3- und eine 5-Jährige zu isolieren. Was sie haben, bekomme ich auch. Was wiederum zu den Gedanken führt, ob das nun verletzend ist für die älteren Kinder. Die das Vorgehen natürlich rein kognitiv verstehen, aber vielleicht emotional doch nicht folgen können?
Denk nicht so viel nach, hat meine Mutter gesagt. Bleib im Moment, dann packt ihr das. Recht hat sie.
Deshalb konzentriere ich mich auf die Gruppenmoral. Am einfachsten lässt sich die mit gutem Essen heben. Und so schicke ich alle zwei Stunden ein anderes dekoriertes Tellerchen mit Kinderwunschessen in die Isolation. Würstchen mit Pommes und selbst gemachter Cocktailsauce, noch warmes Popcorn und Nutellabrot mit bunten Zuckerperlen und Apfelmus. Denn sie hatten wenigstens diesbezüglich Glück im Unglück: Ihr Geschmackssinn funktioniert blendend.»
Und nun:
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Nach der Rückkehr einer Belgierin aus den Skiferien in der Schweiz mussten in Belgien total 5000 Menschen in Quarantäne. Dies berichteten belgische Tageszeitungen. Die Touristin hatte nach der Rückkehr von einem ungenannten Schweizer Wintersportort die Quarantäneregeln missachtet: Sie hatte vor Ablauf der Quarantänefrist ihre Tochter vom Vater abgeholt und in die Schule geschickt. Zwei belgische Schulen mussten geschlossen sowie Massentests durchgeführt werden.
Bern erlebt derzeit interkantonalen Sextourismus. In der Stadt Bern hat die Zahl der Prostituierten innert Kürze stark zugenommen. Im Gegensatz zu anderen Kantonen lässt Bern die Bordelle offen – der Bund erlaubt dies, anders als im vergangenen Frühling. Sie müssen jedoch um 19 Uhr schliessen. Durch die Schliessung in anderen Kantonen haben viele Prostituierte ihre Unterkunft und ihren Verdienst verloren und weichen nun auf Bern aus.
Pfizer schliesst eine Produktionslinie. Dies hat Auswirkungen auf die Auslieferung des Biontech/Pfizer-Impfstoffes in die Schweiz: Die Lieferung von Montag sei um die Hälfte gekürzt worden, bestätigte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gegenüber SRF. Das Pharmaunternehmen reduziert temporär seine Lieferungen nach Europa. Grund dafür ist die Anpassung einer Anlage in Belgien, die danach mehr Produktionskapazitäten haben soll.
Deutschland will seinen Lockdown bis Mitte Februar verlängern. Bund und Länder hätten sich darauf geeinigt, vermeldeten Nachrichtenagenturen unter Berufung auf Teilnehmerinnenkreise der Verhandlungen. Gastronomie, Freizeiteinrichtungen und der Einzelhandel sollen geschlossen bleiben. Ausnahmen gelten weiterhin für Supermärkte. Ein definitiver Beschluss steht noch aus, umstritten ist auch der Umgang mit den Schulen.
Und zum Schluss: Die Krise der Frauen
Wirtschaftskrisen treffen Männer üblicherweise härter als Frauen. In der Pandemie ist es umgekehrt. Das ist äusserst untypisch, schreibt Republik-Journalistin und Wirtschaftsexpertin Olivia Kühni. Dieses Mal fallen mehr Frauen als Männer aus dem Arbeitsmarkt. Die Frage nach den Ursachen und Folgen ist interessant – und hochpolitisch.
Dafür blicken wir in die USA. (Die Daten lassen sich nicht eins zu eins auf die Schweiz übertragen, aber es sind mehr Daten vorhanden.) Klassische Frauenjobs galten bisher als relativ krisenresistent, aber auch als tendenziell schlechter bezahlt. In der Vergangenheit waren es die Frauen, die in der Krise oft die (Allein-)Ernährerinnen wurden. Und deren Einkommen im Vergleich zu dem von Männern gestiegen ist.
Dieses Mal ist es anders. Arbeiten, die im Homeoffice oder im Freien erledigt werden, sind zurückgekommen. In männerdominierten Bereichen wie in den wirtschaftlichen Dienstleistungen, in der Bauwirtschaft oder auch im Onlinehandel sind viele neue Stellen geschaffen worden. Ausgerechnet die sonst so krisensicheren Jobs in Bildung, Erziehung oder beim Staat bleiben während der Corona-Krise aber aus. Klar ist bereits jetzt, für wen die aktuelle Krise besonders hart ist: für all jene Frauen, deren Lohn kein Zweitverdienst, sondern das Familieneinkommen ist.
Die Rolle von Frauen als wirtschaftliche Akteurinnen sowie Paardynamiken und innerfamiliäre Entscheide waren bisher für die Ökonomie als Wissenschaft ein blinder Fleck. (Hier gelangen Sie zum ganzen Artikel.)
Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.
Olivia Kühni und Marguerite Meyer
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
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PPPS: Das Virus trifft vor allem die Ärmeren. Doch in der Schweiz werden die sozioökonomischen Faktoren der Pandemie nicht richtig wahrgenommen. Nicht von der Statistik und der Wissenschaft – und schon gar nicht vom öffentlichen Bewusstsein und der Politik, schreiben Barbara Achermann und Matthias Daum in der «Zeit». Sie erklären auch, dass man sich in der Romandie bewusster ist als in der Deutschschweiz, dass vor dem Virus eben nicht alle gleich sind. Wir finden diesen Artikel der «Zeit»-Kolleginnen lesenswert.
PPPPS: Über musikalischen Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber nicht mit Republik-Kollege Reto Aschwanden. Als zuverlässige Quelle für Hinweise auf Nostalgisches, Unentdecktes und Nischiges hat er das Musikgeschehen im Blick. Dass dies auch vor tierischen Melodien nicht haltmacht, hätten wir eigentlich wissen müssen: Wir präsentieren hiermit den Led-Zeppelin-Papagei. Ja, Sie hören richtig.