Die Krise der Frauen
Wirtschaftskrisen treffen Männer üblicherweise härter als Frauen. In der Pandemie ist es umgekehrt. Woran das liegt – und welche prekären Folgen es haben könnte.
Von Olivia Kühni, 18.01.2021
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Die Zahlen aus den USA sind so deutlich, dass sich viele Menschen Sorgen machen. «Hätten wir einen Alarmknopf, würden wir ihn jetzt drücken», sagt etwa eine Expertin, die sich für Frauen in der Arbeitswelt einsetzt. Seit Sommer haben die amerikanischen Frauen zu Hunderttausenden ihren Job verloren oder ihre Erwerbsarbeit aufgegeben.
Besonders extrem war der September: 1,1 Millionen Menschen verliessen den Arbeitsmarkt, 865’000 davon waren Frauen. Im Dezember verschwanden unter dem Strich immer noch 140’000 Stellen – auch sie fielen bei Frauen weg. Insgesamt, bilanziert das National Women’s Law Center, sind rund 2,1 Millionen Frauen weniger im Arbeitsmarkt als noch im Februar.
Das ist herausragend untypisch. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat jede Rezession in den USA Männer deutlich stärker getroffen als Frauen. Kombiniert mit dem Strukturwandel weg von Produktionsjobs hin zu Dienstleistungen waren sie die grossen Verlierer der letzten Jahrzehnte.
Das ist dieses Mal anders.
Es fallen mehr Frauen als Männer aus dem Arbeitsmarkt. Die Frage nach den Ursachen und den Folgen ist interessant – und hochpolitisch.
Dieses Mal trifft es mehr Frauen
Anstieg der Arbeitslosigkeit von Frauen gegenüber der von Männern (USA)
Angaben in Prozentpunkten. Quelle: Alon et al.
Dazu noch eine wichtige Vorbemerkung. Die vorliegende Analyse betrifft die USA. All diese Zahlen sind so nicht einfach auf die Schweiz übertragbar. Sie hat einen anders strukturierten Arbeitsmarkt, gleichzeitig wirkt sich die Pandemie dank der Kurzarbeit bislang deutlich weniger auf den Arbeitsmarkt aus. Zudem erhebt die Schweiz Daten nicht im selben Detailgrad und Tempo wie die USA.
Trotzdem sind die Erkenntnisse spannend. Sie erzählen uns etwas darüber, wie Frauen und Männer jeweils anders im Arbeitsmarkt positioniert sind – und wie Familien entsprechend bestimmte Entscheide fällen. Nachdem sich die Ökonomie nämlich lange Zeit nur für individuelle Akteure interessiert hatte, haben vor allem jüngere Ökonominnen in den letzten Jahren die Familie als Team entdeckt – aber dazu gleich mehr.
In der Krise tragen Frauen die Familie
Die meisten Menschen kennen es aus eigener schmerzlicher Erfahrung in unterschiedlichen Ländern, oder sonst zumindest aus Erzählungen: In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sind es oft die Frauen, die ihre Familie durch die Krise bringen. Das hat verschiedene Gründe, aber der einfachste davon ist: Frauen haben eine andere Art von Jobs als Männer. Sie arbeiten eher in Privathaushalten als auf dem Bau, eher als Hotelangestellte als in der Fabrik und eher als Lehrerin oder Ärztin denn als Finanzberaterin oder Ingenieurin.
Und diese Jobs sind tendenziell resistenter gegen konjunkturelle Schwankungen. Banal gesagt: Kinder betreuen und Kranke versorgen muss man immer; den Häuserbau hingegen kann man auf später verschieben.
In den USA beispielsweise sind die beiden wichtigsten Tätigkeitsfelder für Frauen Bildung und Gesundheit sowie Verwaltung. Die beiden wichtigsten für Männer sind Handel, Transport und Infrastruktur sowie Industrie. Diese Branchen reagieren jedoch in der Krise sehr unterschiedlich:
Wenn sich die Wirtschaftslage verdüstert, bricht die Beschäftigung beispielsweise im Handel praktisch immer ebenfalls ein – Ökonominnen würden sagen, diese Jobs sind extrem «konjunkturabhängig».
Die Beschäftigung beim Staat oder im Gesundheitswesen hingegen bleibt in der Krise üblicherweise praktisch gleich oder nimmt sogar leicht zu.
Handel reagiert sofort auf die Krise
Abhängigkeit des Arbeitsmarkts von der Wirtschaftslage (USA)
Lesebeispiel: Die Gesamtbeschäftigung und die Beschäftigung in der Finanzbranche weisen eine Korrelation von 0,75 auf. Bei einer Korrelation von 1 laufen zwei Variablen vollständig parallel, bei –1 vollständig gegenläufig. Bei 0 besteht kein Zusammenhang. Quelle: Coskun/Dalgic.
Frauen und Männer sind also tendenziell in unterschiedlichen Branchen tätig – das kann von Vorteil sein, wenn sie sich zusammentun, also Familien gründen. Unter anderem dazu haben jüngere Ökonomen in den letzten Jahren geforscht. Sie beschreiben die Erwerbstätigkeit von heterosexuellen Paaren als eine Art Versicherungsmodell: Frauen wählen tendenziell stabilere Jobs als ihre Männer, um das Familieneinkommen im Krisenfall abzusichern.
Das leuchtet ein. Es bringt aber Gefahren mit sich. Unter anderem kann der Versicherungsgedanke die bis heute verbreitete Erwartung schüren, dass sich Frauen als angebliche Dazuverdienerinnen in guten Zeiten wieder zurückziehen mögen – oder anständige Löhne für sie nicht ganz so wichtig sind wie für Männer. Grundsätzlich aber ist es erst mal eine Tatsache, die sich in vielen westlichen Ländern beobachten lässt: In der Krise steigt das Einkommen von Frauen im Vergleich zu dem von Männern.
Das illustriert die folgende Grafik. Sie zeigt, wie sich das relative Einkommen zwischen Frauen und Männern verändert: Bricht der Arbeitsmarkt ein (grau), nimmt der Lohntopf von Frauen (grün) im Vergleich zu dem der Männer tendenziell zu. Beobachtbar war dies zum Beispiel Mitte der 1990er-Jahre oder während der Rezession nach der Finanzkrise ab 2009.
Der Lohn der Frau wird in der Krise wichtiger
Entwicklung Arbeitsmarkt und relative Löhne der Frauen (USA)
Quelle: Coskun/Dalgic.
Doch dieses Mal sieht die Lage komplett anders aus. Während der Pandemie brachen für einmal vor allem Jobs weg, die auf persönlichem Austausch beruhen: in der Freizeitbranche und der Unterhaltung, in der Gastronomie, in Kindertagesstätten und Vorschulen. Weil die USA das Instrument der Kurzarbeit nicht im gleichen Ausmass wie die Schweiz oder Deutschland kennen, haben beispielsweise viele Kitas im Shutdown gleich ganz den Betrieb aufgegeben.
Die untypische Krise
Die aktuellsten Zahlen vom Dezember zeigen, welche Branchen sich inzwischen wieder erholen. Arbeiten, die sich im Homeoffice oder im Freien erledigen lassen, sind wieder zurückgekommen – in männerdominierten Bereichen wie den wirtschaftlichen Dienstleistungen, in der Bauwirtschaft oder auch im Onlinehandel sind viele neue Stellen geschaffen worden.
Ausgerechnet die sonst so krisensicheren Jobs in Bildung, Erziehung oder beim Staat bleiben während der Corona-Krise aber aus.
Männerjobs kommen zurück
Veränderung der Jobs im Dezember 2020 (USA)
Quelle: US Bureau of Labor Statistics.
Dass sich Frauen in den letzten Monaten aus dem Erwerbsleben zurückgezogen haben, hat aber noch einen weiteren Grund: Während des Shutdowns hatten viele keine andere Wahl, als zumindest vorübergehend ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren, um die Kinderbetreuung zu übernehmen.
Das betrifft übrigens nicht nur Mütter, sondern auch Väter – wenn auch in deutlich geringerem Mass. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ging die Erwerbsquote unter Männern mit Kindern je nach deren Alter um 1,2 respektive 1,4 Prozent zurück. Bei den Frauen mit Kindern nahmen die Erwerbsquoten im selben Zeitraum um 2,2 respektive 2,3 Prozent ab.
Kinderbetreuung statt Erwerbsarbeit
Veränderung der Erwerbsquote seit Ausbruch der Corona-Pandemie (USA)
Angaben in Prozentpunkten. Quelle: US Bureau of Labor Statistics.
Was bedeuten all diese Erkenntnisse nun für die Monate, die noch auf uns zukommen? Und möglicherweise auch für andere Länder als nur die USA?
Klar ist bereits jetzt, für wen die aktuelle Krise besonders hart ist: für all jene Frauen, deren Lohn kein Zweitverdienst, sondern das Familieneinkommen ist. Nirgends wachsen mehr Kinder in Einelternfamilien auf als in den Vereinigten Staaten – und die überwiegende Mehrheit davon sind Frauen.
Doch die potenziellen Folgen dieser ungewöhnlichen Krise gehen darüber hinaus. Die Tatsache, dass vor allem Frauen betroffen sind, könnte die jetzige Wirtschaftskrise gegenüber früheren Einbrüchen drastisch verschärfen und verlängern – weil die Frauen nicht wie in anderen Zeiten das Familieneinkommen und damit den Konsum und die gesamte Wirtschaft stabilisieren. Und das übrigens weitgehend unbeschrieben: Die Rolle von Frauen als wirtschaftlichen Akteuren, Paardynamiken und innerfamiliäre Entscheide waren für die Ökonomie als Wissenschaft bis vor sehr kurzer Zeit ein blinder Fleck.
Möglicherweise sorgt dieses Jahrhundertereignis darum sogar dafür, dass die Ökonomie als Wissenschaft ihren Horizont erweitert.
Eines der ersten Teams, welche die Auswirkungen der Pandemie auf Frauen untersucht haben, fordert genau dies. Die historisch einzigartige Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen im 20. Jahrhundert habe den Arbeitsmarkt und damit auch den Verlauf von Krisen fundamental verändert, schreiben Titan Alon, Matthias Doepke, Jane Olmstead-Rumsey und Michèle Tertilt in ihrer Analyse vom August. Das Anerkennen von Unterschieden zwischen den Geschlechtern und von Verhaltensweisen in Familien müsse darum fortan «ein zentrales Element» jeder Forschung zu ökonomischen Krisen sein.