
An der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion
Mit Onion Island schafft sich die Künstlerin Paloma Ayala einen fiktiven Ort, an dem Landschaft und Lebensgeschichten aus dem mexikanisch-amerikanischen Grenzgebiet zusammenfliessen.
Von Vicky Kiefer (Text) und Paloma Ayala (Bilder), 16.01.2021
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Der Fluss ist für Paloma Ayala ein wichtiges Motiv. Aufgewachsen ist sie in Matamoros, einer Stadt am Río Bravo, der die Grenze zu den USA bildet. Auf der anderen Seite der Grenze, in Brownsville, wo heute die Hälfte von Ayalas Familie lebt, heisst er Rio Grande.
Diesen Fluss thematisiert Ayala, die heute in Zürich lebt, in vielen ihrer Arbeiten. Sie interessiert sich für die Grenzzone als Ort, wo persönliche Geschichten und politische Verhältnisse aufeinandertreffen. Ihre gesellschaftskritischen Werke reichen von Fotografien über Videos, Skulpturen, Installationen bis hin zu Karaoke und zines.
In ihrer Installation «Letters from Onion Island» verflicht Ayala fiktive und reale Geschichten von Frauen und queeren Personen aus dem Flussdelta. Die Verödung der Landschaft, der Bau von Ölpipelines und die Militarisierung der Wohngegenden bilden drastische Einschnitte in ihre Leben. «Letters from Onion Island» besteht grösstenteils aus Fotografien und Videos. Die Arbeit umfasst aber auch einen fiktiven Briefwechsel mit Gloria Anzaldúa (1942–2004), einer feministischen Theoretikerin und queeren Dichterin, die ebenfalls im Rio Grande Valley aufwuchs.
In ihren Schriften thematisiert Anzaldúa ihre Lebensrealität als Chicana, als in die USA eingewanderte Mexikanerin mit indigenen Wurzeln. Anzaldúa sieht das durch Kolonialismus und Gewalt gezeichnete Gebiet als «offene Wunde», die sich als schmerzhafte Erfahrung in die Körper einschrieb – border feeling.
Fasziniert von Gloria Anzaldúas Grenzdenken nähert sich Ayala auf ihre eigene Weise der Komplexität dieses Territoriums: «Um Zugänge zu dieser Ökologie zu schaffen, habe ich gelernt, mich selbst in sie einzubeziehen: meine Gefühle, meinen Körper, meine Familie, meine Gemeinschaft und die umgebende Ökologie. Ich bin auf ein Netzwerk von Interdependenzen – gegenseitigen Abhängigkeiten – angewiesen. Glorias Grenzgebiete sind nie definiert, und so geht es auch mir: Ich kann Mutter, Tochter, migrante y mestiza, queer, eine Mexikanerin der Ränder sein.»
Paloma Ayalas Werke bauen auf tief gehenden Recherchen, persönlichen Gesprächen, Interviews und kollektiven Arbeitsprozessen auf. Sie schafft sich mit dem fiktiven, vielschichtigen Ort Onion Island einen Raum, in dem sie von Ökologie, Familie, Geschichte, Neokolonialismus und feministischen Perspektiven erzählen kann.