Menschen und ihre Geschichten: Vicentas Enkelin hat die sechste Klasse abgeschlossen, aus Freude senkt sie den Preis für ihre Okra-Tacos, die sie vom Boot aus verkauft (aus der Serie «Historias Paranormales», 2020).

Blickwechsel

An der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion

Mit Onion Island schafft sich die Künstlerin Paloma Ayala einen fiktiven Ort, an dem Landschaft und Lebensgeschichten aus dem mexikanisch-amerikanischen Grenzgebiet zusammenfliessen.

Von Vicky Kiefer (Text) und Paloma Ayala (Bilder), 16.01.2021

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Der Fluss ist für Paloma Ayala ein wichtiges Motiv. Aufgewachsen ist sie in Matamoros, einer Stadt am Río Bravo, der die Grenze zu den USA bildet. Auf der anderen Seite der Grenze, in Brownsville, wo heute die Hälfte von Ayalas Familie lebt, heisst er Rio Grande.

Diesen Fluss thematisiert Ayala, die heute in Zürich lebt, in vielen ihrer Arbeiten. Sie interessiert sich für die Grenzzone als Ort, wo persönliche Geschichten und politische Verhältnisse aufeinander­treffen. Ihre gesellschafts­kritischen Werke reichen von Fotografien über Videos, Skulpturen, Installationen bis hin zu Karaoke und zines.

In ihrer Installation «Letters from Onion Island» verflicht Ayala fiktive und reale Geschichten von Frauen und queeren Personen aus dem Flussdelta. Die Verödung der Landschaft, der Bau von Ölpipelines und die Militarisierung der Wohngegenden bilden drastische Einschnitte in ihre Leben. «Letters from Onion Island» besteht grösstenteils aus Fotografien und Videos. Die Arbeit umfasst aber auch einen fiktiven Brief­wechsel mit Gloria Anzaldúa (1942–2004), einer feministischen Theoretikerin und queeren Dichterin, die ebenfalls im Rio Grande Valley aufwuchs.

In ihren Schriften thematisiert Anzaldúa ihre Lebens­realität als Chicana, als in die USA eingewanderte Mexikanerin mit indigenen Wurzeln. Anzaldúa sieht das durch Kolonialismus und Gewalt gezeichnete Gebiet als «offene Wunde», die sich als schmerzhafte Erfahrung in die Körper einschrieb – border feeling.

Cande, Araceli und Wina, die Grossmutter von Ayala, diskutieren den Verkauf ihres Landes aufgrund der Versalzung des Bodens. Sie verteufeln die Baufirma und füllen ihre Sohlen mit Samen, die zwischen den Betonplatten spriessen sollen, wenn der erste Sturm diese zerstört (aus der Serie «Historias Paranormales», 2020).
Ayala greift den Brauch der kleinen Küstenstadt Mezquitales auf, in der aussergewöhnliche Geschichten, etwa aus dem Fischereialltag, auf die Hauswände geschrieben werden (aus der Serie «Historias Paranormales», 2020).
Weil sie eine Frau ist, erbte Idalita kein Land, als ihr Vater verstarb. Sie befreit sein Grab, das sie aus Verbitterung normalerweise nie besucht, von Säbelpalmen (aus der Serie «Historias Paranormales», 2020).

Fasziniert von Gloria Anzaldúas Grenzdenken nähert sich Ayala auf ihre eigene Weise der Komplexität dieses Territoriums: «Um Zugänge zu dieser Ökologie zu schaffen, habe ich gelernt, mich selbst in sie einzubeziehen: meine Gefühle, meinen Körper, meine Familie, meine Gemeinschaft und die umgebende Ökologie. Ich bin auf ein Netzwerk von Interdependenzen – gegenseitigen Abhängigkeiten – angewiesen. Glorias Grenzgebiete sind nie definiert, und so geht es auch mir: Ich kann Mutter, Tochter, migrante y mestiza, queer, eine Mexikanerin der Ränder sein.»

Paloma Ayalas Werke bauen auf tief gehenden Recherchen, persönlichen Gesprächen, Interviews und kollektiven Arbeits­prozessen auf. Sie schafft sich mit dem fiktiven, vielschichtigen Ort Onion Island einen Raum, in dem sie von Ökologie, Familie, Geschichte, Neokolonialismus und feministischen Perspektiven erzählen kann.

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