Der Konservatismus wandelt sich, aber wohin?

Die Ära Merkel läuft ab. Am Wochenende kürt die deutsche CDU ihren neuen Parteivorsitzenden. Doch die Suche nach einem neuen konservativen Selbstverständnis fängt erst an.

Eine Analyse von Nils Markwardt, 14.01.2021

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Deutschland hatte in kurzer Zeit Hunderttausende Asylsuchende aufgenommen. Die öffentliche Debatte spitzte sich zu. Besonders in CDU und CSU wurden immer schärfere Forderungen nach einer Einschränkung des Asylrechts laut. Der rechte Flügel der Union übte ohnehin schon länger harsche Kritik: Die CDU habe inhaltlich an Profil verloren – und das sei schliesslich auch der Grund dafür, dass eine rechtsextreme Partei ihr zunehmend das Wasser abgrabe.

Nein, die Rede ist nicht von den Monaten nach der Flüchtlingskrise 2015, als Angela Merkel zunehmend unter Beschuss aus den eigenen Reihen geriet und die AfD einen Wahlerfolg nach dem anderen feierte. Gemeint ist die politische Lage in der Bundesrepublik knapp 25 Jahre zuvor.

Anfang der 1990er waren es vor allem Flüchtlinge aus dem zusammen­gebrochenen Jugoslawien, die im gerade wiedervereinigten Deutschland Schutz suchten. Die rechtsextreme Partei hiess «Die Republikaner», sie zog 1992 etwa mit fast elf Prozent der Stimmen als drittstärkste Kraft in den Landtag von Baden-Württemberg ein. Und der Kanzler, dem auch aus den eigenen Reihen immer murrender eine inhaltsleere Unverbindlichkeit attestiert wurde, hiess: Helmut Kohl.

Wenn nun am kommenden Wochenende auf dem digitalen CDU-Parteitag eine Kampfabstimmung über den neuen Vorsitzenden der Christdemokraten stattfindet, lohnt es sich, an solche Parallelen zwischen der Kohl- und der Merkel-Ära zu erinnern. Denn der historisch geweitete Blick verdeutlicht: Dass die CDU vor einer Richtungs­entscheidung steht, hat keineswegs nur mit den kandidierenden Personen, dem Aufstieg der AfD oder der vermeintlichen Sozial­demokratisierung der CDU durch Angela Merkel zu tun. Und sie gewinnt ihre Brisanz nicht allein daraus, dass der CDU-Parteivorsitz auch das Ticket für die Kanzler­kandidatur der Union bedeuten könnte.

Ohne Frage: Das nun näher rückende Ende der Ära Merkel bedeutet eine Zäsur: für Deutschland, für die Weltpolitik – und eben auch für die CDU. Doch geht die Richtungs­suche in der Partei weit über Personalfragen hinaus: Sie hängt mit grundlegenden Widersprüchen und Problemen des (deutschen) Konservatismus zusammen.

Denn paradoxerweise befinden sich die Konservativen schon seit Jahrzehnten im Spannungsfeld verschiedener Veränderungs­sehnsüchte. Zugespitzter: Es gehört mittlerweile zum Wesensmerkmal des Konservatismus, dass er sich permanent wandelt.

Die Frage ist nur: In welche Richtung?

Die Ausgangslage

Im Oktober 2018 hatte Angela Merkel angekündigt, 2021 nicht mehr zur Bundestags­wahl anzutreten und nach 18 Jahren als CDU-Vorsitzende auch diesen Posten abzugeben – und zwar gleich. Ihre Wunsch­nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer gewann im Dezember 2018 dann auch die Abstimmung gegen den amtierenden Gesundheitsminister Jens Spahn und den einstigen Fraktions­vorsitzenden Friedrich Merz, gegen den sie sich am Ende knapp in der Stichwahl durchsetzte. Kramp-Karrenbauer, so der ursprüngliche Plan, sollte Merkel dereinst auch als Kanzlerin beerben.

Als dann aber im Februar 2020 in Thüringen eine Regierungskrise ausbrach, weil die dortige CDU-Landtags­fraktion den FDP-Abgeordneten Thomas Kemmerich gemeinsam mit den Stimmen der rechtsextremen AfD wählte, sah sich Kramp-Karrenbauer genötigt, nicht nur auf ihre avisierte Kandidatur als Bundeskanzlerin zu verzichten, sondern auch den CDU-Vorsitz abzugeben.

Nach mehreren coronabedingten Termin­verschiebungen wird nun also abermals ein neuer CDU-Vorsitzender bestimmt – und damit auch ein potenzieller Kanzlerkandidat.

Drei Kandidaten treten an. Nach Merkel und Kramp-Karrenbauer, einer Ostdeutschen und einer Saarländerin, stellt sich nun nicht nur eine reine Männerriege zur Wahl, alle drei Bewerber kommen zudem auch aus demselben Bundesland: Nordrhein-Westfalen. Allerdings stehen sie für sehr unterschiedliche Ausprägungen des politischen Konservatismus.

  • Friedrich Merz, der von 1994 bis 2009 Abgeordneter des Deutschen Bundestages und von 2000 bis 2002 auch Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU war, ist erneut unter den Bewerbern. Nach seiner Zeit im Parlament sass der studierte Jurist in zahlreichen Aufsichtsräten, unter anderem beim grössten und vermutlich auch umstrittensten Vermögens­verwalter der Welt, Blackrock. Merz gilt als Antipode zu Merkel: weil er vehement für einen neoliberalen Umbau der Wirtschaft plädiert und immer wieder stark in Richtung National­konservatismus blinkt, um AfD-Wählerinnen (zurück) zu gewinnen. Der Kontrast zur Bundeskanzlerin ist zudem auch persönlich geprägt – schliesslich war es Merkel, die ihn 2002 de facto zum Rückzug vom Fraktionsvorsitz zwang, um diesen selbst zu übernehmen.

  • Armin Laschet hingegen, Ministerpräsident des bevölkerungs­reichsten Bundeslands Nordrhein-Westfalen, lässt sich inhaltlich dem Merkel-Lager zuordnen. Er steht für einen liberalen Konservatismus, der gesellschafts- wie wirtschaftspolitisch moderat auftritt. Der einstige Journalist galt durch seine rheinisch-joviale Art und dank seiner guten Vernetzung in der Partei neben Merz zunächst als Favorit, hat in den letzten Monaten aber vor allem durch sein laxes Corona-Management so viele Fehler gemacht, dass seine Umfrage­werte in den Keller rasselten. Ihm könnte immerhin helfen, dass er im Team mit Gesundheits­minister Jens Spahn antritt, dessen Beliebtheits­werte im Laufe der Pandemie deutlich gestiegen sind. Fragt sich nur, ob das angesichts der stockend anlaufenden Impfkampagne auch so bleibt.

  • Norbert Röttgen schliesslich, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, galt anfangs eher als Zählkandidat. Ihm fehlten, so hiess es, sowohl die innerparteiliche Hausmacht als auch die nötige bundesweite Bekanntheit. In den Umfragen jedoch konnte Röttgen zuletzt immer mehr zulegen. Der einstige Umweltminister, der innerhalb der Union ebenfalls dem liberalen Lager zuzurechnen ist und ob seines vergleichsweise geschmeidigen Auftretens auch gerne als «George Clooney von Meckenheim» apostrophiert wird, könnte indes nicht nur von Laschets jüngstem Imageverlust profitieren. Für viele Delegierte könnte Röttgen auch deshalb eine Option sein, weil er bereits angedeutet hat, dass er als CDU-Vorsitzender nicht die Kanzler­kandidatur beanspruchen würde. Was noch einen vierten Namen ins Spiel bringen könnte (aber davon später).

Die aktuelle Situation ist also diese: Während Laschet und Röttgen grundsätzlich für eine Fortsetzung des moderat-liberalen Kurses der Union stehen, verkörpert Friedrich Merz eine gleichermassen neoliberale wie rechtskonservative Neuausrichtung der CDU. Seine Kandidatur preist Merz recht unverhohlen als Rollback gegenüber der Merkel-Ära an, in der sich in seinen Augen eine Sozial­demokratisierung der Union vollzogen habe – während konservative Kernanliegen wie die Wehrpflicht, die Atomkraft oder die heterosexuelle Exklusivität der Ehe geräumt wurden.

Merz’ Versprechen lautet daher, der Union wieder ein klar erkennbares Profil zu geben und damit auch für AfD-Wählerinnen attraktiver zu werden.

In der Wahl zum CDU-Parteivorsitz wird also auch über einen Grundkonflikt des konservativen Lagers verhandelt: zwischen einem prozess­haften Konservatismus, der den Zeitgeist eher moderiert als ablehnt. Und einem Rechts­konservatismus, der Vergangenes nicht nur um jeden Preis bewahren, sondern auch wiederherstellen will.

Dieser Konflikt ist im Grundsatz keineswegs neu. Das zeigt sich schon daran, dass Kurt Biedenkopf, einstiger CDU-Ministerpräsident Sachsens, bereits 1994 in privaten Aufzeichnungen resignierend vermerkte: «Wir haben in Deutschland nur noch sozialdemokratische Parteien.» Der ehemalige CDU-Bundestags­abgeordnete Jürgen Todenhöfer, der seinerzeit zur erzkonservativen «Stahlhelm-Fraktion» der Union gehörte und sich in den letzten Jahrzehnten zum irrlichternden Publizisten entwickelte, beklagte wiederum schon 1987, der konservative Flügel der Union werde immer kleiner gehalten.

Der wiederkehrende Richtungsstreit hat also auch grundsätzliche Ursachen. Sie haben mit einem dreifachen Dilemma konservativer Politik zu tun.

1. Der Konservatismus kommt immer zu spät

Mit dieser Formel hat der Politik­wissenschaftler Thomas Biebricher 2018 in seinem exzellenten Buch «Geistig-moralische Wende» die innere Tragik des Konservatismus beschrieben.

«Genau genommen», so Biebricher, «ist es nämlich nicht das Bestehende, um dessen Erhalt der Konservatismus kämpft, sondern das Vergehende. Er regt sich typischerweise erst in dem Moment, in dem die Traditions­bestände gefährdet und die vermeintlich gewachsene Gesellschafts­strukturen in Auflösung begriffen sind.»

Biebrichers These lässt sich gut an der 1998 angestossenen deutschen «Leitkultur»-Debatte verdeutlichen, die CDU-Politiker seither immer wieder aufwärmen – unter anderem Friedrich Merz (2000). Aufgekommen ist sie erst an dem Punkt, als selbst Unions­politikerinnen nicht mehr leugnen konnten, dass die Bundesrepublik ein kulturell vielschichtiges Einwanderungs­land ist. Das «Eigene», das man als verteidigenswert entdeckte, gewann seine Konturen also in der Abgrenzung zu anderen. Dieses Muster ist bis heute zu beobachten: Das konservative Selbstbild offenbart sich gerne als nichtislamisch, nicht­multikulturell, nicht­kosmopolitisch usw.

In solchen Negativ-Bestimmungen bleibt allerdings meist offen, worin das zu konservierende Eigene denn nun konkret besteht. Das zeigte sich etwa im Falle des damaligen CDU-Innenministers Thomas de Maizière, der 2017 eine Art Zehn-Punkte-Plan der Leitkultur veröffentlichte. Darauf waren zu finden: Leistungsbereitschaft und Bildung, aber auch begrüssendes Händeschütteln oder die Nato-Mitgliedschaft. All das wirkte entweder eigentümlich unter- oder überbestimmt. Oder wie es Thomas Biebricher formuliert:

Das Rettens- und Bewahrenswerte ist entweder alles andere als spezifisch deutsch bzw. europäisch oder dermassen speziell, dass es als rettungslos aufgebauscht erscheint.

Die konservative Tragik, immer ein wenig zu spät dran zu sein, erzeugt deshalb auch fortlaufend den Zwang, irgendwann zu umarmen, was man früher vehement bekämpft hat.

Historisch war das beim Konservatismus etwa das Bekenntnis zur Demokratie. Und zuletzt etwa die Betonung von Frauenrechten in Abgrenzung zum politischen Islam – ein Statement, das nur bedingt glaubwürdig wirkt, wenn es offensichtlich instrumentell eingesetzt wird.

Auf diese Tragik kann der Konservatismus auf zweierlei Weise reagieren.

Entweder, indem er seine Aufgabe darin sieht, den gesellschafts­politischen Wandel zu verlangsamen und ihn im eigenen Sinne zu gestalten. Ganz nach dem mittlerweile zum Poesiealbum-Spruch geronnenen Zitat des italienischen Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa: «Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.»

Die zweite Möglichkeit lautet «konservative Revolution»: der Anspruch also, Bestehendes nicht nur bewahren, sondern Vergangenes wiederherstellen zu wollen. Die Paradoxie dieser buchstäblich reaktionären Herangehensweise besteht darin, dass sie im eigentlichen Sinne nicht mehr konservativ sein kann, weil jedes Ergebnis einer «konservativen Revolution» nichts «natürlich» Gewachsenes mehr wäre. Sondern eine hoch artifizielle Konstruktion, die sich im Zweifelsfall auch nicht mehr vom Faschismus unterscheiden lässt.

Wie lassen sich nun die aktuellen Kandidaten für den CDU-Vorsitz vor diesem Hintergrund einordnen?

Ähnlich wie Angela Merkel kann man auch Armin Laschet und Norbert Röttgen grundsätzlich auf jener moderierenden Linie verorten, die von Verfechtern der «konservativen Revolution» als «Gärtner-Konservatismus» apostrophiert wurde. Friedrich Merz hingegen, der bei den Themen Migration, Gleichstellung und Heimat in regelmässigen Abständen rechts aussen blinkt, ist zwar kein konservativer Revolutionär. Auf symbolischer Ebene aber füttert er gerne die nostalgische Sehnsucht nach der gesellschafts­politischen Übersichtlichkeit der alten Bundesrepublik, die im verklärenden Blick freilich nur deshalb aufgeräumt wirkt, weil Migranten, Frauen oder Homosexuelle in vielerlei Hinsicht (noch) marginalisiert(er) waren.

2. Die Konservativen leiden unter der eigenen Wirtschaftspolitik

Es ist ausgerechnet die von fast allen westlichen Konservativen umarmte Wirtschaftsordnung, die in gesellschaftlicher und privater Hinsicht konservative Strukturen zerbröseln lässt.

Denn auch wenn Konservative gerne zärtlich von «sozialer Marktwirtschaft» sprechen, hat die kapitalistische Gegenwart nur noch wenig mit jenem ehrbaren Kaufmanns­kapitalismus zu tun, der dabei vor dem inneren Auge aufgerufen werden soll. Wo Flexibilität und Deregulierung herrschen, erzeugt der neoliberal entfesselte Kapitalismus eine enorme soziale Beschleunigung und lässt Traditions­bestände sowie hergebrachte Lebensformen geradezu verdampfen.

Konkret: Wer nicht weiss, wie er im nächsten Monat die Miete bezahlen soll oder wer 50 Stunden die Woche arbeiten muss, wird sich weniger schnell entscheiden, eine Familie zu gründen oder sich ehrenamtlich im Heimat­verein der Brauchtums­pflege zu widmen.

Auch hier gibt es aus konservativer Binnensicht wieder zwei idealtypische Lösungen. Zum einen könnte auch der Konservatismus für eine starke Sozialpolitik und eine Bändigung der Markt­wirtschaft eintreten, so wie es etwa die mittlerweile eher randständig gewordene Tradition der christlichen Soziallehre predigte. Zwar lassen sich Norbert Röttgen und Armin Laschet ebenso wenig einer Sozial­lehre zuordnen wie Angela Merkel (die 2003 auf dem Leipziger Parteitag der CDU noch mit einem strikt neoliberalen Programm antrat, von dem sie sich später unauffällig, aber deutlich distanzierte). Alle drei sind aber sicher keine Anhänger strikter Deregulierung.

Den anderen Weg, mit dieser Spannung umzugehen, vertritt Friedrich Merz.

Seinen Ruf hat er sich 2003 als Streiter für ein dreistufiges Einkommenssteuersystem mit deutlich niedrigeren Sätzen erworben. Im Zuge der Corona-Pandemie forderte er, bald «alle staatlichen Leistungen von Bund, Ländern und Gemeinden» auf den Prüfstand zu stellen. Seit Jahren inszeniert er sich so sehr als offensiver Vertreter einer Deregulierungs­politik, dass der Widerspruch zwischen den gesellschafts­politischen Zielen Familien­freundlichkeit, Beständigkeit oder Selbstbindung und der kapitalistischen Dauer­mobilisierung im Grunde offensichtlich ist.

Um diesen Widerspruch zu überdecken, braucht es deshalb jene Strategie, die mittlerweile auch die US-Republikaner, die britischen Tories oder rechts­populistische Parteien wie AfD, SVP oder FPÖ anwenden: Man macht Stimmung gegen Migrantinnen, Linke, urbane Dekadenz-Milieus oder «Identitätspolitik». Wer nur noch auf rudimentäre Sozialsysteme zurückgreifen kann oder sich mit drei Mini-Jobs über Wasser halten muss, dessen Wut lenkt man in Richtung der «Fremden» oder Minderheiten, die allein durch ihre Anwesenheit als eigentliche Glücksdiebe erscheinen.

Wie sich in den USA oder Grossbritannien beobachten lässt, kann diese Strategie im Sinne ihrer Macher sogar überaus gut funktionieren – wenn sie nur skrupellos genug durchgezogen wird.

Nun ist Friedrich Merz zwar kein Sauerland-Trump, besitzt aber dennoch ein ausgeprägtes Gespür für populistisches Auftreten. Was die USA und Grossbritannien allerdings ebenfalls zeigen: Für einen wirklichen Erfolg dieser Strategie braucht es tendenziell nicht nur ein Zwei-Parteien-System, sondern auch eine Partei, die sich geradezu sklavisch hinter dem Vorsitzenden versammelt. Ob das im Falle eines Sieges von Friedrich Merz wirklich passieren würde, darf bezweifelt werden. Schon deshalb, weil sich die Union damit die avisierte Koalitions­möglichkeit mit den Grünen verbauen würde – und weil sie damit der SPD die ersehnte Wahlkampf­vorlage schenken würde, die die marode deutsche Sozialdemokratie gut gebrauchen könnte.

3. Der eigene Machtanspruch gefährdet das Profil

Wenn in der Union wiederkehrend das Bedürfnis nach inhaltlicher Profilierung aufkommt, steht dem meist das eigene Selbstverständnis entgegen: Man sieht sich quasi als «natürliche» Regierungspartei. Und damit auch als möglichst reibungslose Machtmaschine.

Die oft unterschlagenen Ähnlichkeiten zwischen der Kohl- und der Merkel-Ära bestehen vor allem darin, dass die beiden langjährigen CDU-Vorsitzenden das machtpolitische Kalkül und eine damit verbundene inhaltliche Flexibilität eint. Denn auch wenn Helmut Kohl von vielen Konservativen in der Rückschau als konservativer Anker verklärt wird, zeichnete ihn ein «Talent für das Unverbindliche» aus, wie es einer seiner Biografen ausdrückte.

Dementsprechend wissen vermutlich auch die Unterstützer von Friedrich Merz, dass dieser als Kanzler­kandidat ein machtpolitisches Risiko wäre. Denn selbst wenn dieser mit einem Rechts­schwenk der AfD ein paar Prozentpunkte abjagen könnte, würde die Union vermutlich auf der anderen Seite wesentlich mehr an SPD, Grüne oder FDP verlieren.

Eine andere Option scheint deshalb für die Union zumindest macht­strategisch viel attraktiver.

Da Armin Laschets Umfragewerte mittlerweile derart im Keller sind, dass ein Merkel-ähnliches Wahlergebnis mit ihm kaum einzufahren wäre, spricht plötzlich viel für eine Wahl des als Aussenseiter angetretenen Norbert Röttgen. Gerade ob seiner Aussenseiter­position könnte er ohne Gesichtsverlust auf die Kanzler­kandidatur verzichten – und diese dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder von der Schwesterpartei CSU antragen.

Für Markus Söder sprechen nämlich nicht nur die guten Umfragewerte, die im Zuge der Pandemie immer weiter gestiegen sind. Offenkundig hat Söder auch bereits die Lektion von Kohl und Merkel gelernt.

Vor einigen Jahren hatte Söder noch mit einem konservativen Hardliner-Kurs versucht, die AfD auf dem populistischen Feld zu schlagen, etwa in Form des «Kruzifix-Erlasses», mit dem er anordnete, in bayerischen Behörden Kreuze aufzuhängen. Weil das krachend schiefging und die CSU bei der Landtags­wahl 2018 über 10 Prozentpunkte verlor, wandelte er sich in Rekordzeit zum bildreich inszenierten Umweltschützer, Kämpfer gegen die AfD und sorgenden Landesvater, der kaum verhohlen eine mögliche Koalition mit den Grünen vorbereitet.

Dieser Wandel mag rein strategisch sein oder der tatsächlichen, am eigenen Leib erfahrenen Einsicht entstammen, dass konservative Parteien bei der Nachahmung ihrer rechts­populistischen Kontrahenten am Ende fast immer verlieren. In jedem Fall hat Söder unter den führenden Christdemokraten am besten verstanden, worauf es in der Union am Ende ankommt: Macht.

Seit jeher verstand sich die Union immer zuerst als Regierungs-, nicht als Programm­partei. Das Erfolgsgeheimnis von Kohl und Merkel bestand gleichermassen darin, dass ausreichend Menschen das Gefühl hatten, die Union würde die Dinge am Ende halt immer «irgendwie regeln». Die enorme inhaltliche Flexibilität, die dafür nötig ist, steigert mittelfristig automatisch auch wieder die Sehnsucht nach einem stärkeren Profil.

Ganz gleich also, wer die Wahl zum CDU-Vorsitzenden gewinnt und wer als Kanzlerkandidat antritt: Der nächste Richtungsstreit in der Union kommt bestimmt.

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) geboren, studierte Literatur- und Sozial­wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redaktor des «Philosophie Magazins». Für die Republik schrieb er u. a. über die Krise der Sozialdemokratie und die Landtagswahlen in Ostdeutschland.

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