Strassberg

Dann schuf Gott den Sex. Und er sah, dass es kompliziert war

Evangelikale Kreationisten und populäre Evolutionsbiologen sind sich einig: Die Welt ist perfekt, wie sie ist. Wenn das stimmt – warum ist dann ausgerechnet die Sexualität so ein Murks?

Von Daniel Strassberg, 12.01.2021

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Da Weihnachten letztes Jahr beinahe ins Wasser fiel, scheint mir im Nachgang etwas Besinnliches angebracht. Von der Liebe soll darum die Rede sein, von der irdischen und der himmlischen, das heisst: vom lieben Gott. Der liebe Gott hätte «die Welt nicht erschaffen, wenn sie nicht unter allen möglichen die beste wäre». Davon war jedenfalls der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) überzeugt. Es leuchtet auch sofort ein, denn hätte er auch nur die zweitbeste erschaffen, wäre er entweder kein lieber Gott oder ein unfähiger lieber Gott.

Was aber macht Gott zu einem lieben Gott? Dass er die Welt so erschaffen hat, dass alle Teile perfekt zueinander­passen. Jedes einzelne Ding hat eine Funktion, ist so gebaut, dass es diese Funktion auch ausfüllen kann und dass diese zu den Funktionen der anderen Dinge passt. Der Putzerfisch säubert grössere Fische von schädlichen Parasiten und ernährt sich gleichzeitig von ihnen; der männliche Tinten­fisch kann sich als Weibchen verkleiden, um sich zu einem richtigen Weibchen zu schleichen, das von einem anderen Männchen eifersüchtig bewacht wird.

Das passt alles so herrlich zusammen!

Leider hat es der liebe Gott nicht so eingerichtet, dass der Mensch keinen Mangel leiden würde. In seiner unendlichen Güte hat er aber wenigstens dafür gesorgt, dass jedem Mangel ein passendes Bedürfnis zugeordnet ist, das den Mangel beheben lässt: Wenn dem Körper Energie fehlt, stellt sich ein bohrendes Gefühl im Magen ein, das die Person als Hunger identifiziert. Sie holt sich im Kühlschrank etwas zu essen, isst so lange, bis der Glukose­spiegel wieder ein normales Niveau erreicht hat, der Körper mit genügend Energie versorgt ist und sich ein Sättigungs­gefühl einstellt.

Wunderbar! Wie ein fürsorglicher Hirte sorgt der Herr für seine Schäfchen.

Ich verstehe nicht ganz, was die Kreationisten gegen die Anhänger der populären Evolutions­theorie einzuwenden haben, denn im Grunde glauben sie dasselbe. Sie teilen das Credo, dass alles, was existiert, eine Funktion hat und für diese Funktion erschaffen worden ist. Und dass die verschiedenen Funktionen nahtlos ineinander­greifen. Sie sind beinharte Funktionalisten.

Jeder Naturfilm auf Arte folgt diesem Muster, wie auch jede Erklärung menschlichen Verhaltens im Feuilleton und in der Wissenschaft. Allenfalls vorkommende Widersprüche sind dann Ausdruck einer Fehlfunktion, einer Pathologie, einer Schuld oder eines Überbleibsels früherer Funktionalität. Die Angst vor Spinnen war beispiels­weise früher einmal funktional, sie hat sich aber dummerweise bei vielen Menschen erhalten, obwohl sie inzwischen dysfunktional geworden ist.

Wenn alles so schön zueinanderpasst, muss ein Plan dahinter­stecken, der von einer höheren Intelligenz ausgeheckt worden ist. Anders ist das Wunder der Natur gar nicht zu erklären. Im Grunde muss man nur den Namen auswechseln, «Gott will» oder «Gott hat» durch «die Natur will» oder «die Natur hat» ersetzen, und schon hat man die Theologie in Evolutions­theorie überführt. (Ausdrücklich ist hier nur von jener popularisierten Evolutions­biologie die Rede, die zurzeit Laufmeter von Alleserklär­büchern im Stil von «Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken» oder «Eine kurze Geschichte von allem und jedem auf etwa hundert Seiten» füllt – und nicht von der wissenschaftlichen Evolutionsbiologie.)

Diese intelligent design genannte Vorstellung, die Evangelikale mit evolutionistischen Ratgebern verbindet, ist im 17. Jahrhundert entstanden. Gott, hiess es damals, hat die Natur wie eine Uhr konstruiert, sodass sich alle Rädchen drehen wie geschmiert.

Thomas Hobbes beginnt sein Opus magnum, den «Leviathan», so:

Da ja das Leben nur eine Bewegung von Gliedern ist (…), warum können wir dann nicht sagen, dass alle Automaten (Maschinen, die sich durch Federn und Räder bewegen, wie es eine Uhr tut) ein künstliches Leben haben? Denn was ist das Herz anderes als eine Feder, was sind die Nerven anderes als lauter Stränge und die Gelenke anderes als lauter Räder, die dem ganzen Körper Bewegung verleihen, wie es vom Konstrukteur beabsichtigt wurde?

Der liebe Gott ist also ein Uhrmacher, der die Welt und den Menschen wie eine Schweizer Uhr konstruiert hat, in der alle Rädchen perfekt ineinander­greifen. Erst Herbert Spencer, einer der meistgelesenen Philosophen des 19. Jahrhunderts, stülpte der Evolutions­lehre Darwins den Funktionalismus über – und erfand den Sozial­darwinismus. Diese funktionalistische Lesart des Darwinismus hat sich möglicher­weise deshalb bis heute so hartnäckig gehalten, weil sie im Kern eine religiöse Vorstellung ist.

Das Schema «objektiver Mangel – subjektives Leiden – Bedürfnis – zielgerichtete Handlung – Behebung des Mangels – Restitution der Vollständigkeit» ist beim Hunger dann noch einigermassen vertretbar, wenn man über Anorexien, asketische Eremiten, Gourmets, Über­gewichtige und Weihnachts­essen hinwegsieht. Wenn es aber zur Sexualität kommt, muss der krude Funktionalismus schon arg strapaziert werden, damit die Formel noch funktioniert. Im Zuge des heutzutage grassierenden Biologismus wird das Verhältnis von sexueller Lust und Fortpflanzung tatsächlich noch immer analog zum Verhältnis von Hunger und Nahrungs­aufnahme gedacht: Man hat Hunger, wenn dem Körper Energie fehlt, man hat sexuelle Lust, wenn … ja, wenn was? Wenn Kinder fehlen? Wenn die Gattung ausstirbt?

Dass ein Glukoseabfall im Blut bestimmte Peptide freisetzt, die auf das Hunger­zentrum im Hypothalamus wirken, ist plausibel. Aber die sexuelle Lust? Da soll es nach der Vorstellung der evolutionären Funktionalisten und der katholischen Kirche um das Überleben der Gattung gehen. Das mag ursprünglich mal so gewesen sein, aber im Laufe der Kultur­entwicklung haben sich sexuelle Lust und Fortpflanzung vollständig voneinander gelöst. Die wenigsten Menschen werden aus Kinder­mangel sexuell aktiv, und wenn das einmal der Fall sein sollte, verschwindet die Lust nicht selten.

Es gibt keine grössere Heraus­forderung für den Funktionalismus als die Sexualität. Angesichts der Sexualität ist die Ansicht der Gnostiker, dass der Gott, der unsere Welt erschaffen hat, ein böser Gott gewesen ist, viel überzeugender: Hier passt wirklich nichts zusammen. (Die Gnosis war eine religiöse Strömung, die in allen abrahamitischen Religionen vorkam und ihren Höhepunkt im 2. und 3. Jahrhundert hatte. Die Gnostiker gingen von einem boshaften Welt­schöpfer statt von einem lieben Gott aus.)

Dieser bösartige Gott hatte also einen besonders hinterhältigen Einfall: Er verknotete beim Menschen Liebe und Sexualität unlösbar miteinander. Er löste die Sexualität von der Biologie und der Fortpflanzung und packte dafür sehr viel anderes hinein, vieles auch, was überhaupt nicht zusammenpasst. Menschen suchen in dieser merkwürdigen Zimmer­gymnastik, die nie ganz frei von Lächerlichkeit ist, gleichzeitig Befriedigung der Lust, Geborgenheit, Anerkennung, Bestätigung, Liebe, Ablenkung, Macht, Angstfreiheit, Spannungs­abfuhr, Abenteuer, Beweis für Zuneigung, Intensität und vor allem: Bestätigung der Allein­stellung. In vielen Kulturen bestätigt das Sexuelle die Ausschliesslichkeit einer Beziehung.

Das kann nicht lange gut gehen, weil sich die einzelnen Bedürfnisse widersprechen. Die egoistische Befriedigung der Lust geht mit der altruistischen Liebe nicht zusammen, die gegenseitige Anerkennung nicht mit dem Macht­streben, die Geborgenheit nicht mit Ablenkung, die Intensität nicht mit Spannungs­abfuhr, die Suche nach Bestätigung nicht mit Ausschliesslichkeit. Potenziert wird die Schwierigkeit noch dadurch, dass die Bedürfnisse zweier Menschen aufeinanderprallen – und meist auch nicht zueinander­passen. Auch nicht nach neun Tantra-Workshops.

Was hat die Menschheit nicht schon alles versucht, um die Sexualität in den Griff zu bekommen, sie zu normalisieren und auf eine angebliche Funktion zurückzuführen. Die Kirche versuchte alles zu verbieten, was nicht strikt der Fortpflanzung dient, andere wollten durch Spiritualität von der Lust ablenken, sie durch Askese abtöten oder wenigstens auf andere Ziele abrichten. Wieder andere führen lange Gespräche mit ihren Therapeutinnen, um zu lernen, offen zu ihren Bedürfnissen zu stehen, und nehmen an Wochenend-Workshops in body awareness teil. Oder sie versuchen klare Regeln zu definieren, wie sich die Geschlechter einander korrekt annähern dürfen – und wie nicht. Aber auch das Gegenteil, Promiskuität, Prostitution, Pornografie oder Sexroboter sind letztlich Versuche, die Sexualität von ihrer intrinsischen Konflikt­haftigkeit zu befreien. Die arglistigste Form der Disziplinierung der Sexualität ist pädagogisches Wohlwollen: Wisset, liebe Kinder, Sexualität ist etwas Gesundes und Natürliches!

Doch über kurz oder lang versagen alle Säuberungs­versuche. Es ist wie mit einem jener mit Styropor­kügelchen gefüllten Sitzsäcke, wenn er einen Riss bekommt. Jeder Versuch, alles zusammen­zukriegen, führt nur dazu, dass noch mehr Kügelchen entweichen.

Sexualität macht immer unglücklich, das hat der grosse Ketzer Giordano Bruno schon vor mehr als 400 Jahren erkannt:

Das Schicksal quält [in der Liebe] mit unglücklichen und unerwünschten Ereignissen: entweder scheint das Subjekt nicht wert, in den Genuss des Objekts zu kommen, weil es die dem Objekt angemessene Würde nicht hat, oder es fehlt die Gegenliebe oder andere Gründe und Hindernisse kommen dazwischen. Das Objekt macht das Subjekt zufrieden, das sich an nichts anderem weidet, nichts anderes sucht, sich mit nichts anderem beschäftigt und deshalb jeden anderen Gedanken verbannt. Die Eifersucht macht verzweifeln. Obwohl sie als Tochter der Liebe von ihr abstammt, als ihre Begleiterin stets mit ihr zusammen auftritt, ein Zeichen der Liebe ist, denn mit notwendiger Konsequenz gibt sich Liebe zu erkennen, wo sich Eifersucht zeigt (wie man es bei ganzen Geschlechtern sehen kann, die wegen der Kälte der Gegend und der Langsamkeit im Denken ziemlich wenig begreifen, kaum lieben und gar keine Eifersucht haben). Trotzdem sie also Tochter, Begleiterin und Kennzeichen [der Liebe] ist, verwirrt und vergiftet sie alles, was sich an Schönem und Gutem in der Liebe findet.

Giordano Bruno, «Die heroischen Leidenschaften», Erster Dialog.

Besser kann die fundamentale Dysfunktionalität der Sexualität nicht beschrieben werden, und sie hat noch eine weitere schwierige Folge: Sie führt unweigerlich zur Idealisierung des jeweils anderen Geschlechts. Keiner anderen Fantasie wurde in den letzten 35 Jahren meiner psycho­analytischen Praxis so häufig Ausdruck gegeben wie dieser: Meine eigene Sexualität ist konflikthaft und quälend, der andere oder die andere hingegen leidet nicht an der seinigen oder ihrigen – was ihm/ihr Macht verleiht.

Männer, vor allem junge Männer, fühlen sich oft ohnmächtig und abhängig, weil sie der festen Überzeugung sind, Frauen erleben (fast) keinen Sexualtrieb, was sie emotional unabhängig macht und es ihnen erlaubt, die Sexualität strategisch einzusetzen, um sich Männer gefügig zu machen. Frauen sind hingegen häufig der Ansicht, Männer wollten eh nur das eine, würden dies auch rücksichtslos durchsetzen und, falls es nicht gelingen sollte, sie problemlos fallen lassen, um sich anderweitig zu vergnügen. Natürlich können sich, wenn einmal andere Macht­verhältnisse herrschen, die Projektionen auch umdrehen, Frauen Männer als sexuell indifferent wahrnehmen und Männer sich davor fürchten, blosse Lustobjekte zu sein. Nur verschwinden werden diese Projektionen nicht.

Die wechselseitige Unter­stellung von Macht ist die politische Fussangel der Sexualität, sie prägt das Geschlechter­verhältnis. Einerseits führt sie zu Aggressionen gegenüber denjenigen, die die schrecklichen Ohnmachts­gefühle auslösen und es erforderlich machen, Strategien gegen die Ohnmacht zu entwickeln. Vor allem aber führt sie zur Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens.

Sie werden einwenden, die Macht der Männer sei immer noch eine Realität, und ihr Ohnmachts­gefühl sei letztlich ja eine blosse Fantasie. Das ist bestimmt richtig, doch an den realen Verhältnissen wird sich nichts ändern, solange man sich nicht mit den Fantasien auseinander­setzt, welche die Geschlechter­beziehungen beherrschen. Es ist deshalb vielleicht angezeigt, sich nicht länger am unmöglichen Ideal einer konflikt­freien, macht­gesäuberten, vernünftig-funktionalen, symmetrischen und reifen Sexualität festzubeissen. Wir müssen uns damit arrangieren, dass in der Welt des bösen Demiurgen vieles nicht zusammen­passt. Was uns aber nicht davon abhalten darf, es wie Sisyphos immer wieder zu versuchen.

Wie sagte Albert Camus doch richtig: Sisyphos ist ein glücklicher Mensch.

Illustration: Alex Solman

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