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Ich wäre gern ein Berliner

08.01.2021

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Liebe Leserinnen und Leser

Seit 1988 lebt die Schweizer Journalistin und Autorin Sieglinde Geisel in Berlin, mit einigen Jahren in New York als Zwischenstation. Heile Welt versus schwindelerregende Metropolen? Nicht ganz falsch, der Vergleich. Doch erst durch die Pandemie verstehe sie, wie weit ihre Schweizer und ihre Berliner Welt tatsächlich voneinander entfernt seien, schreibt sie uns mit einem persönlichen Blick auf die alte Heimat:

«In meiner Schweizer Welt kann mir eigentlich nichts passieren. Wir haben den besten ÖV, die saubersten Städte, und man kann davon ausgehen, dass alles immer funktioniert. Als 1998 eine Swissair-Maschine vor Halifax abstürzte, wurde mir bewusst, dass ich insgeheim geglaubt hatte, eine Swissair könne nicht abstürzen – ein Gefühl der Unverwundbarkeit, das an magisches Denken grenzt.

Berlin dagegen ist das Schmuddelkind unter den europäischen Städten. Hierher kommt man, wenn man Party feiern will, keine Lust auf Regeln hat, und wer schon einmal mit der Berliner Verwaltung zu tun hatte, wundert sich nicht mehr über unser Flughafendesaster. Es ist auch die nostalgie de la boue, die Gossenromantik, die Berlin so anziehend macht für uns biedere Schweizer.

In jedem globalen Ranking ist die Schweiz unter den zehn Besten, niemand von uns Schweizern kann sich an ein kollektiv erlebtes Unglück erinnern. Die Pandemie ist das erste Unheil, von dem wir nicht verschont bleiben. Im Ranking der Infektions- und Todesraten pro 100’000 Einwohner finden wir uns nun auf einmal am anderen Ende der Skala, und inzwischen kennt jeder jemanden, der oder die an Corona erkrankt war. Doch immer noch weigern sich viele, den Ernst der Lage zur Kenntnis zu nehmen, bis hin zum Parlament mit seinem Geburtstagsständchen. Immerhin regt sich inzwischen Widerstand gegen diese Sorglosigkeit: In meinem Twitter-Feed werden die laschen Massnahmen heftig kritisiert (#SchweizerWeg), und in einem offenen Brief fordern Stimmen aus der Zivilgesellschaft vom Bundesrat einen sofortigen Kurswechsel.

Was der Wohlstandsgesellschaft in der Pandemie zum Verhängnis wird, ist die Anspruchshaltung ihrer Mitglieder. Ich staunte in den vergangenen Wochen, mit welcher Selbstverständlichkeit man sich im Flickenteppich der Kantone Schlupflöcher sucht: Wenn im eigenen Kanton die Restaurants, Läden oder Skigebiete geschlossen sind, fährt man eben in den Nachbarkanton mit den liberaleren Bestimmungen.

Es ist, als wolle man mit solchen Manövern dem Virus eins auswischen. Dabei ist es umgekehrt: Das Virus nutzt jede Lücke, im Privaten wie im Politischen. Auch Vernehmlassung und Kantönligeist spielen dem Virus in die Hände.

Im verlotterten Berlin dagegen, wo nichts so richtig funktioniert, klappt es mit der Eigenverantwortung ganz gut. Wenn in einem Geschäft das Personal keine Maske trägt, geht man lieber woanders einkaufen. Vielleicht weil wir wissen, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass die Dinge funktionieren – in Berlin ist der Ernstfall auch zu normalen Zeiten ernster als in der Schweiz.

Es gibt einen Satz, den ich aus der Schweiz viel öfter höre als in Berlin: ‹Man kann nicht immer nur Angst haben.› Über Generationen hinweg kannte die Schweiz nichts anderes als Sicherheit und Wohlstand. Hat unser Land verlernt, mit der Gefahr und damit auch mit der Angst zu leben? Mir kommt es manchmal so vor, als wäre die panische Angst vor der Angst grösser als die konkrete und völlig angemessene Furcht vor dem Virus.»

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die Zahl der Fälle der mutierten Version des Virus verdoppelt sich in der Schweiz. Es sind heute Freitagmorgen neue 88 Fälle bestätigt worden. Gestern waren 46 Fälle laborbestätigt nachgewiesen worden. Einen deutlichen Anstieg der Zahl gab es innert eines Tages im Kanton Bern, von zuvor 4 auf neu 18 Fälle.

Rund 5000 der rund 12’000 Armee-Rekrutinnen beginnen ihre Rekrutenschule im Homeoffice. Wegen der Pandemie rücken sie erst am 8. Februar ein, drei Wochen später als vorgesehen. Im Homeoffice gehören rund 6 Stunden Militärtheorie zum Lehrplan. Zusätzlich sollen sie mindestens 4 Stunden pro Woche körperlich trainieren. Die Armee legt ihren Schwerpunkt in den kommenden Monaten gemäss Medienmitteilung der Armee auf die Bewältigung der Pandemie. Entsprechend würden im ersten Quartal 2021 primär Wiederholungskurse von Formationen stattfinden, die dazu einen Beitrag leisten könnten.

Der Bürgermeister von London, Sadiq Khan, hat eine Art Notstand für die britische Hauptstadt ausgerufen. Der major incident wurde in Absprache mit den Gesundheitsdiensten NHS, lokalen Behörden und den Notfalldienstleistern der Stadt verhängt. In der ersten Januarwoche ist die Anzahl der Hospitalisierten in Londons Spitälern um 27 Prozent gewachsen, die Anzahl der Ventilierten um 42 Prozent. Aufgrund fehlender Kapazitäten bei den Ambulanzfahrzeugen hilft die Londoner Feuerwehr beim Transport von Erkrankten aus.

Mehr als die Hälfte aller Corona-Fälle werden durch Infizierte ohne Symptome angesteckt. Dies zeigt eine Modellstudie von Wissenschaftlerinnen der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Das umfasst sowohl Menschen, die andere infizieren, bevor sie Symptome entwickeln, als auch solche, die nie selber Symptome entwickeln. Deswegen sei die Aufrechterhaltung persönlicher Schutzvorkehrungen essenziell, so die Forschenden.

Und zum Schluss: Der Lagebericht zur Woche

Vor einer Woche hatten wir an dieser Stelle geschrieben, dass die Virusmutationen aus Grossbritannien und Südafrika Anlass zu Sorge bereiten. Sie sind erheblich ansteckender als die bisherigen Varianten. Seit den Feiertagen sind in Grossbritannien die Ansteckungszahlen explodiert. Und in den Spitälern bricht das Personal vor Erschöpfung zusammen, wie ein eindrücklicher Bericht des öffentlich-rechtlichen britischen Fernsehens BBC zeigt.

In der Schweiz hatte die unabhängige wissenschaftliche Taskforce vergangene Woche den Bundesrat vor einer weiteren grossen Welle gewarnt und strengere Massnahmen gefordert. Zwar sind die Zahlen derzeit leicht rückläufig, aber auf viel zu hohem Niveau. Zudem schlagen sich mögliche Multiplikationseffekte von Silvester noch nicht ganz in den vorliegenden Zahlen nieder.

Neue Spitaleinweisungen; gleitender Mittelwert über 7 Tage. Die Daten nach dem 1. Januar sind vermutlich noch unvollständig, deshalb haben wir sie nicht berück­sichtigt. Stand: 08.01.2021. Quelle: Bundesamt für Gesundheit.

In der Schweiz wurde diese Woche erfreulicherweise in vielen Kantonen mit dem Impfen begonnen, wenn auch noch zögerlich, da erst die ersten Ladungen der Impfstoffe eingetroffen sind. Damit steht die Schweiz im internationalen Vergleich nicht allzu schlecht da, obwohl andere Länder wie beispielsweise Israel deutlich schneller vorankommen.

Diese Woche hat der Bundesrat bekannt gegeben, die bestehenden Massnahmen bis Ende Februar verlängern zu wollen. Auch stellte er mögliche Verschärfungen in Aussicht, er will aber beides erst nach einer einwöchigen Konsultation der Kantone am 13. Januar definitiv entscheiden.

Derweil hat sich die mutierte Variante aus Grossbritannien in Europa verbreitet und ist auch in der Schweiz angekommen. Es gibt leider keinen Grund anzunehmen, dass sich das mutierte Virus hierzulande gross anders verhält als in anderen europäischen Ländern. In Irland beispielsweise zeigt nun die Kurve steil nach oben.

Gemäss Experten hierzulande ist eine grosse Sorge, dass eine rasche Ausbreitung dem erhofften Erfolg des Impfstarts zuwiderläuft. «Die neue Variante kann sich wie eine zweite Epidemie in der aktuellen Pandemie entwickeln», erklärt Virginie Masserey, Leiterin Infektionsschutz des Bundesamts für Gesundheit. Sie hoffe, dass sich die Situation in drei bis vier Monaten bessere.

Sie sehen, die kommende Zeit wird nicht leicht. Was können Sie tun? Schützen Sie sich und andere, so gut es geht.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Marie-José Kolly und Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Es gibt auf Deutsch keine wirklich gute Übersetzung für Comfort-Food. «Komfortlebensmittel» oder «Trostessen» klingt steif oder etwas mitleidig. Comfort-Food hingegen ist simpel, herzhaft, füllt den Magen und katapultiert die Esserin oft automatisch in eine nostalgische, sentimentale, aber immer wohlige Stimmung. Oder auch: Es gibt nichts, was mit kräftiger Pasta nicht etwas besser würde. Als junger Mann verbrachte Republik-Geschmacksgott Michael Rüegg einige seltsame Monate in den USA. «Zurück in der Schweiz, war ich nicht mehr derselbe», schreibt er. Aber er hat seinen Comfort-Food von damals nie vergessen: Conchiglioni nach Art der Kartonverpackung. Und er teilt das raffinierte Rezept gerne mit Ihnen. Trost Mahlzeit!

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