Am Gericht

Das kleine Einmaleins der Strafen

Ist es sinnvoll, jemanden für ein kleines Vergehen ins Gefängnis zu stecken? Oder ist es Kuscheljustiz, das nicht zu tun? Ein aktueller Gerichtsfall und ein Strafvollzugs­experte zeigen auf, was in der Schweiz an alternativen Strafen alles möglich ist.

Von Brigitte Hürlimann, 06.01.2021

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Wird in der Schweiz ein erwachsener Mensch wegen Verletzung des Straf­rechts schuldig gesprochen und verurteilt, so stehen den Gerichten, Staats­anwaltschaften oder Stadt­richter­ämtern drei Sanktions­möglichkeiten zur Verfügung: eine Busse, eine Freiheits- oder eine Geldstrafe.

Bussen gibts bei Übertretungen, und sie müssen immer bezahlt werden. Geld- und Freiheits­strafen hingegen können bedingt, teilbedingt oder unbedingt ausgefällt werden.

Unbedingt bedeutet: absitzen oder zahlen.

Bedingt heisst: Die Strafe wird aufgeschoben und eine Probezeit festgelegt. Bewährt sich der Verurteilte während der Probezeit, muss er weder ins Gefängnis noch die Geldstrafe zahlen. Bewährt er sich nicht, wird das Urteil vollstreckt.

Teilbedingt ist eine Mischung von beidem: Ein Teil der Strafe muss abgesessen oder bezahlt werden, der andere Teil wird zur Bewährung ausgesprochen.

Geschuldet werden bei allen drei Sanktionen meist auch die Verfahrens­kosten, die ein Mehrfaches der Bussen oder Geldstrafen betragen können.

Verurteilte, die sich kleinerer Vergehen schuldig gemacht haben, gegen die kein anderes Strafverfahren hängig ist, die weder gemein­gefährlich noch rückfall­gefährdet sind, können auf alternative Vollzugs­formen hoffen, die ihnen das Absitzen oder das Bezahlen ersparen – falls sie die Voraus­setzungen dafür erfüllen. Denn niemand profitiert davon, wenn ein zerknirschter Verkehrs­sünder und Notlügner zwei Monate lang in den Knast wandern muss. Das zeigt ein aktueller Fall aus Zürich. Und wir haben bei einem Vollzugs­experten nachgefragt.

Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 22. Dezember 2020, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: GB200067
Thema: Falsche Anschuldigung, Verletzung der Verkehrs­regeln, Führen eines Motor­fahrzeugs ohne Führerausweis

Es wäre übertrieben zu sagen, der 36-jährige Schweizer habe den Gerichts­saal strahlend verlassen. Immerhin war er angetreten, einen Strafbefehl anzufechten, der ihn zu einer unbedingten Freiheits­strafe von sechzig Tagen verdonnert. Sechzig Tage in einer Zelle schmoren, den Alltag hinter Gittern verbringen, den Kontakt zur Familie und den neuen Job riskieren?

Und das alles nur, weil er mit dem Roller seiner Mutter unterwegs war, sich etwas zu essen holen wollte und dabei in eine Polizei­kontrolle geriet?

Der Schrecken und die Anspannung stehen dem Mann ins Gesicht geschrieben, nervös fingert er am Strafbefehl, ein zerknittertes Stück Papier, das er wohl Dutzende Male gelesen hat. Er ist allein zum Prozess gekommen, ohne anwaltlichen Beistand, den könnte er sich nie und nimmer leisten. Und schon nach einer knappen Dreiviertel­stunde verabschiedet er sich von Einzelrichter Reto Nuotclà, überwindet mithilfe der Gerichts­reporterin die Tücken der Sicherheits­schleuse, steht draussen vor dem Bezirks­gericht Zürich, zieht die Maske runter, holt tief Luft und lässt seiner Verblüffung freien Lauf:

«Sie!»

«Sind Sie Journalistin? Gehen Sie oft ans Gericht? Wissen Sie, ich hätte den Strafbefehl nie angefochten, wenn ich gewusst hätte, dass ich nicht ins Gefängnis muss. Aber ich hatte derart Angst davor. Niemand hat mir gesagt, dass es andere Möglichkeiten gibt, wie etwa die gemein­nützige Arbeit. Ich bin froh, dass mich der Richter darauf aufmerksam gemacht hat. Das war nett von ihm, nicht wahr?»

Zweimal einschlägig vorbestraft

Ja, das war nett. Und nötig. Und hätte eigentlich schon viel früher passieren sollen, bevor der Strafbefehl ins Haus flatterte – aber das ist halt das Problem, dass im Strafbefehls­verfahren die Betroffenen kaum je von der Staats­anwaltschaft einvernommen werden. Es geht um Massen­geschäfte, Kleinst­delikte, die zügig abgearbeitet werden sollen. Auch dann, wenn eine kurze, unbedingte Freiheits­strafe droht.

Der 36-jährige Mann ist geständig und denkt nicht daran, den Vorfall schönzureden. Er akzeptiert auch eine Strafe – er will sie einfach nicht in einem Gefängnis absitzen müssen.

Der Verurteilte ist zweifach wegen Verkehrs­delikten vorbestraft, und er ist mittellos. Deshalb befand der Staats­anwalt, es habe keinen Sinn, nochmals eine Geldstrafe zu verhängen. Bei den neuesten Vorfällen geht es zudem um drei Delikte; nichts Gravierendes, aber eben, schon zum dritten Mal ein Fall für die Strafjustiz. Der 36-Jährige fuhr mit abgefahrenen Reifen herum und besass zwar einen Führer­ausweis, aber ohne Berechtigung für den Roller seiner Mutter. Und dann gab er sich bei der Polizei­kontrolle auch noch als seinen Bruder aus – ohne sich viel zu überlegen, wie er vor Gericht sagt.

Der kurze Ausflug mit dem Roller endet mit einer Anklage wegen falscher Anschuldigung, Verletzung von Verkehrs­regeln und Führen eines Motor­fahrzeugs ohne entsprechenden Ausweis.

Der Mann zeigt sich reuig und einsichtig, gelobt Besserung und bittet eindringlich um eine Geldstrafe. Er habe einen neuen Job in Aussicht und werde die Strafe bezahlen. Dazu wird es allerdings nicht kommen – aus zwei Gründen. Erstens lässt Einzelrichter Nuotclà durchblicken, dass die Strafe der Staats­anwaltschaft allzu milde ausgefallen sei, das Gericht wohl härter urteilen würde. Und dass der Beschuldigte zweitens immer noch die Möglichkeit habe, seine Einsprache zurück­zuziehen; dann bliebe es bei den sechzig Tagen unbedingt, die er aber nicht absitzen müsse: «Sie können gemein­nützige Arbeit leisten. Vier Stunden geben einen Tag Haft. Setzen Sie sich mit der Vollzugs­behörde in Verbindung.»

Der Mann hört sich diese Worte an und erklärt ohne Zögern und Zaudern, er ziehe seine Einsprache zurück. Damit ist der Prozess beendet. Man wünscht sich gegenseitig einen guten Tag.

Doch was geschieht nun?

Fragen wir den Vollzugsexperten.

Pascal Muriset vom Zürcher Amt für Justiz­vollzug und Wieder­eingliederung ist zuständig für die Vollstreckung von Freiheits­strafen und die Bewährungs­hilfe. Sobald der Strafbefehl des Verkehrs­sünders rechts­kräftig werde und damit Urteils­charakter bekomme, sagt Muriset, lande er bei ihnen im Amt. «Dann machen wir eine erste Triage. Wenn die Voraus­setzungen für eine besondere Vollzugs­form gegeben sind, schreiben wir die Verurteilten an und fordern sie auf, ein entsprechendes Gesuch zu stellen. Es braucht dieses Gesuch, das ist im Strafgesetz so vorgesehen.»

Welche besonderen Vollzugs­formen stehen zur Verfügung?
Es gibt das Electronic Monitoring (elektronische Fussfessel), die gemein­nützige Arbeit oder die Halbgefangenschaft. Kommt das alles nicht infrage, muss der Normal­vollzug angeordnet werden. Dieser findet aber in der Regel in einer offenen Vollzugs­anstalt statt, also nicht in einem Untersuchungs­gefängnis oder in einem Gefängnis mit der höchsten Sicherheits­stufe wie etwa der Pöschwies im Kanton Zürich oder dem Thorberg im Kanton Bern.

Was sind die Voraussetzungen für einen besonderen Vollzug?
Es braucht ein Aufenthalts­recht in der Schweiz, und es darf keine Landes­verweisung verhängt worden sein. Wir können nicht Menschen eine Arbeit vermitteln, die hier gar nicht arbeiten dürfen, das wäre ein widersprüchliches Behörden­verhalten. Und dann darf es sich nicht um schwere Delikte handeln. Das Gesetz schreibt die jeweiligen Höchst­strafen vor, die einen besonderen Vollzug noch zulassen: zwölf Monate bei der Halbgefangenschaft und dem Electronic Monitoring, sechs Monate bei der gemeinnützigen Arbeit. Die beiden Formen Halbgefangenschaft und elektronische Überwachung setzen ausserdem eine stabile Struktur und die Mitwirkung der Verurteilten voraus: Sie brauchen eine Arbeits­stelle, einen Ausbildungs­platz oder eine andere geregelte Beschäftigung wie etwa Erziehungs- oder Haushalts­arbeit; und zwar immer mindestens zwanzig Stunden pro Woche. Bei der elektronischen Fussfessel wird auch ein fester Wohnort verlangt.

Beim 36-jährigen Verkehrs­sünder, der zu sechzig Tagen unbedingt verurteilt wurde, steht die gemein­nützige Arbeit im Vorder­grund. Was erwartet ihn?
Sobald er uns das Gesuch eingereicht hat, führen wir ein Gespräch mit ihm und suchen nach einem geeigneten Einsatz­ort; das kann eine Spital­küche, ein Altersheim oder die Beschäftigung in einer Naturschutz­organisation sein. Die Bewilligungen für besondere Vollzugs­formen können übrigens mit Auflagen ergänzt werden: mit Lern­programmen oder regelmässigen Gesprächen mit der Bewährungs­hilfe. Tritt der Verurteilte die Arbeit nicht wie vereinbart an oder hält sich sonst nicht an die Regeln, kann die besondere Vollzugs­form widerrufen werden.

Käme bei ihm auch das Electronic Monitoring, die elektronische Fussfessel, infrage?
Die Voraussetzungen dafür sind strenger als bei der gemein­nützigen Arbeit; es braucht zum Beispiel das Einverständnis der Menschen, die mit ihm zusammen­wohnen. Und die Einwilligung, dass wir in der Wohnung die entsprechende Anlage montieren dürfen. Beim Electronic Monitoring – also dem elektronisch überwachten Haus­arrest – legen wir fest, was der Verurteilte wann und wo tun darf. Wann ist er daheim, wann geht er arbeiten, wann in den Fitness­club oder Fussball spielen. Einfach so spontan ein Bier trinken gehen oder Freunde treffen, das ist nicht erlaubt. Diese Vollzugs­form ist anspruchsvoll und hat durchaus einen pönalen Charakter, das bestätigen uns die Betroffenen: Man werde jeden Tag an die Strafe erinnert. Auch bei der Halbgefangenschaft gehen die Verurteilten ihrer normalen Arbeit nach und verbringen ihre Ruhe- und Freizeit im Gefängnis.

Was sind die Vorteile der besonderen Vollzugsformen?
Stellen Sie sich vor, wir würden jeden Kleinst­kriminellen ins Gefängnis stecken! Dann wären die Anstalten völlig überfüllt, es würde deutlich mehr kosten, und ob bei kurzen Inhaftierungen die Resozialisierung gefördert wird, kann auch hinterfragt werden. Wir wollen die Verurteilten, die kleine Strafen bekamen, weder gefährlich noch rückfall­gefährdet sind, so wenig wie möglich aus dem Alltag heraus­reissen – und sie dennoch bestrafen. Gemein­nützige Arbeit wird im Kanton Zürich über 1500 Mal pro Jahr angeordnet, das ist die günstigste Vollzugs­form. Es ist ein Erfolgs­modell. Die elektronische Fussfessel ist erst seit Januar 2018 im Straf­gesetz­buch als Vollzugs­form vorgesehen. Sie ist ebenfalls günstiger als ein Gefängnis­aufenthalt, braucht aber viel Technik und trotzdem eine Betreuung. 2019 haben wir im Kanton Zürich in 13 Fällen Electronic Monitoring angeordnet, 2020 waren es bereits 31 – und die Tendenz ist steigend.

Und die Halbgefangenschaft?
Sie ist teurer als gemein­nützige Arbeit und Electronic Monitoring, und die Tendenz ist hier eher sinkend. Gemäss Kostgeld­liste des Ostschweizer Straf­vollzugs­konkordats kostet der offene Vollzug pro Mensch und Tag über 200 Franken, im geschlossenen Vollzug wären es mindestens 300 Franken. Bei der Halb­gefangenschaft müssen sich die Verurteilten mit 40 Franken pro Tag an den Kosten beteiligen, beim Electronic Monitoring mit 20 Franken pro Tag. Wer dies nicht bezahlen kann, hat die Möglichkeit, ein Gesuch um Kosten­erlass einzureichen.

Ist es eigentlich möglich, dass man eine Busse absitzt, einfach, weil man keine Lust hat, sie zu bezahlen?
Nein. Wer eine Busse zahlen kann, dies aber nicht tun will, wird betrieben. Wir bieten keine Erlebnis­aufenthalte im Gefängnis – das wäre auch respektlos all jenen gegenüber, die eine Freiheits­strafe verbüssen müssen. Ich weiss, dass es einen Artikel eines deutschen Journalisten gab, der sich diesen Scherz erlaubt hatte und genüsslich darüber berichtete. Eine Busse abzuarbeiten, ist hingegen nieder­schwellig möglich, und zwar bei der Zürcher Bussenanlaufstelle, die von der Stiftung für Gefangenen- und Entlassenen­fürsorge betrieben wird. Dort kann man ohne Anmeldung hingehen und sich für einen Arbeits­einsatz melden; auch jene Leute, die eigentlich zahlen könnten, eine gemeinnützige Arbeit jedoch vorziehen. Ein legaler Aufenthalts­titel wird allerdings immer vorausgesetzt.

«Ins Gefängnis zu gehen, wäre für mich eine Katastrophe»

Freiwillig oder aus Jux im Gefängnis sitzen zu wollen, das ist für den 36-jährigen Verkehrs­sünder nicht nachvollziehbar. Bevor er beim Zürcher Bezirks­gericht ins Tram steigt – den Roller hat seine Mutter längst entsorgt –, gibt er der Gerichts­reporterin noch etwas mit auf den Weg.

«Ich glaube nicht, dass sich die Leute im Gefängnis bessern. Wie soll das möglich sein, wenn man einfach herumsitzt und in schlechte Kreise gerät? Und wenn man wieder rauskommt, findet man keinen Job mehr. Welcher Arbeit­geber will schon einen Ex-Gefängnis­insassen anstellen? Das wäre für mich eine Katastrophe gewesen, wenn ich auch noch meine neue Anstellung verloren hätte. Ich will doch meine Schulden zurück­zahlen. Und den Kontakt zu meiner neunjährigen Tochter nicht verlieren.»

Illustration: Till Lauer

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