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Kinderüberraschung

05.01.2021

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Liebe Leserinnen und Leser

Überall in Europa geht normalerweise in diesen Wochen die obligatorische Schule wieder los. Nicht so dieses Jahr, oder immerhin nicht wie sonst. Viele Länder haben vor den Festtagen einen Shutdown eingeführt – und der trifft teilweise auch die Schulen.

Grund dafür sind die europaweit hohen Infektionszahlen – die Schweiz ist ganz vorne mit dabei.

Unrühmlichen Platz 1 nimmt jedoch Grossbritannien ein: Mit der britischen Virusmutation sind die Fälle dort abrupt in die Höhe geschossen. Jetzt bleiben die Schulzimmer in Schottland, Wales und Nordirland vorerst leer. Auch England beschliesst nach einigem Zögern, dass ab heute die Schulen auf Fernunterricht umschwenken (nachdem sie gestern für einen Tag öffneten). Für Kinder, deren familiäre Situation es nicht zulässt, bleibt der physische Unterricht weiterhin möglich.

Nicht so in der Schweiz. Bisher hat die wissenschaftliche Taskforce, die den Bundesrat berät, zu der Massnahme eher zögerliche Empfehlungen gemacht. «Schulschliessungen sollen nur als äusserste Massnahme bei hohen Ansteckungsraten angeordnet werden», schreibt sie in ihrem letzten Policy Brief zum Thema vom 17. Dezember 2020. Schulen seien nicht Haupttreiber der Epidemie.

Andere Expertinnen widersprechen. So zum Beispiel die klinische Epidemiologin und statistische Genetikerin Deepti Gurdasani. Schulschliessungen und -wiederöffnungen hätten grossen Einfluss auf das Auf und Ab der Neuinfektionen, sagt sie. Das sieht nun auch das britische Pendant zu Schweizer Science Taskforce so, die SAGE.

Kurz: Ob und wie stark offene Schulen die Pandemie antreiben, ist eine der Fragen, auf die es noch keine eindeutige Antwort gibt. Und wenn, dann nur eine, die stark vom Infektionsgeschehen rundherum abhängt.

In den letzten Wochen haben auch manche Eltern in der Schweiz sich ihre Gedanken gemacht – und beschlossen, ihre Kinder im Moment nicht in die Schule zu schicken.

Wir haben mit einigen davon über ihre Beweggründe gesprochen. Viele fürchten rechtliche Konsequenzen oder wollen nicht, dass ihre Entscheidung negativ auf ihre Kinder zurückfällt – deswegen haben wir hier ihre Namen abgeändert.

«Mein älteres Kind ist neun Jahre alt, es hat einen Herzfehler und Downsyndrom», erzählt Thomas. «Und ich bin Asthmatiker.» Im Februar hatte der Basler Freunde in Norditalien besucht – und da erlebt, «wie gewalttätig das Virus über Nacht quasi gewütet hat». Das sei für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen. So sei ihm und seiner Frau die Entscheidung recht leichtgefallen: «Wir haben zwei Tage vor den Weihnachtsferien beschlossen, die Kinder nicht in die Schule beziehungsweise den Kindergarten zu schicken, als sich die Berichte über Quarantäne- und Isolationsfälle im Schulhaus gehäuft haben.» Er betont, er sei nicht auf einem Feldzug gegen die Schule, aber er würde auch eine Busse anfechten – obwohl er «sonst eher staatsgläubig» sei. Er könne das mit der Schule einfach nicht nachvollziehen.

Fast erwachsen ist der Sohn von Brigitta, sie ist Verkäuferin in einem kleinen Geschäft im Kanton Bern, es gebe viel Betrieb im Moment, manchmal auch renitente Kunden. Ihr Sohn ist 17 – und habe von sich aus gesagt: «Ich bin doch nicht vom Aff gebissen, ich gehe nicht in die Schule.» Bereits vorher habe er von sich aus im Unterricht eine Maske getragen. Sie seien vor Weihnachten gemeinsam zum Entschluss gekommen, dass er im Moment zu Hause bleibt: «Ich habe ihn gemäss meinem Wissensstand informiert, er informiert sich auch selber.»

Sie hätten Glück, er macht das zehnte Schuljahr und beginnt im Sommer eine Lehre. «Ich bin in dem Sinne privilegiert, seine obligatorische Schulzeit ist vollendet.» Er wolle wieder in die Schule, wenn die Fallzahlen massiv runtergehen, erzählt Brigitta. «Und wenn das Contact-Tracing wieder zu funktionieren scheint.» Denn: Ihr Sohn hat eine seltene Stoffwechselerkrankung. «Ich weiss nicht, ob das ein höheres Risiko mit Corona ist. Wenn man etwas nicht genau weiss, muss man umso vorsichtiger sein», so die Mutter.

Die Kinder von Marianne und Giuseppe haben keine Vorerkrankungen. Ihre Eltern sorgen sich um die grosse Unbekannte: «Long Covid». Die Kinder Philippe und Tanja sind mit acht und sechs Jahren in der zweiten Klasse und im Kindergarten. «Es war keine einfache Entscheidung. Ich bin immer noch voller Zweifel», erzählt Marianne. «Kinder brauchen ihre Freunde. Und das Risiko, Lernstoff zu verpassen, ist auch da. Aber wenn ich die Gleichung mache, dann ist der Fall eigentlich klar: Das Risiko einer wirklich schwierigen, unvorhersehbaren Krankheit wiegt schwerer. Die Gesundheit lässt sich nicht nachholen.»

Ihr achtjähriger Sohn Philippe versteht es, dass er zu Hause bleibt: «Ich vermisse schon die Handzgi oder das Basteln, aber nur ein bisschen.» Seine Mutter habe ihm erklärt, wie das mit den Aerosolen sei. (Wir haben das mit den Aerosolen auch mal genauer angeschaut.) Daraufhin trug er auch in der Schule Maske: «Ich hatte die Maske an, aber die anderen Kinder haben mich ausgelacht. Sie sagten, ich hätte Corona.» Seine Erzählungen aus der Schule in Baselland hätten die Eltern schockiert. «Es trägt niemand eine Maske, sie gehen zusammen aufs WC, sie essen vom gleichen Znüni, geben sich Schmützli», so der aufgeweckte Bub. «Mich hat erschreckt, wie wenig aktuell der Wissensstand der Lehrpersonen ist», erzählt Vater Giuseppe. «Weil wir mit ihm darüber gesprochen hatten, erzählte unser Sohn der Lehrerin im Dezember von der Übertragung durch die Luft. Sie wusste nichts davon. Es wurde immer nur ans Händewaschen appelliert.»

Auch Thomas wunderte sich: «Aerosole sind im Schutzkonzept der Schule kaum Thema. Die Lehrer wollten zuerst nicht lüften – es sei zu kalt.» Er wünschte sich eine Lösung, wie das andere Länder hätten: dass diejenigen Eltern, denen es möglich ist, die Kinder zu Hause behalten. Und für diejenigen, die das beispielsweise aus beruflichen Gründen nicht können, ein Angebot vor Ort besteht. «Damit wäre vielen geholfen – es würde schon die Kontakte für alle massiv reduzieren.»

Alle drei Familien wollen ihre Kinder erst wieder in die Schule schicken, wenn die Zahlen sich merklich bessern.

Damit zur Aktualität.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Mehrere Krankenversicherungen machen die Zusatzversicherung von einer Covid-19-Erkrankung abhängig. Vor einem allfälligen Vertragsabschluss wollen einige Schweizer Versicherer von den Kunden wissen, ob sie an Covid-19 erkrankt waren, schreibt der «Tages-Anzeiger». Das, weil sich die Kosten der Langzeitfolgen schwer abschätzen liessen. Anders die Grundversorgung – von dieser dürfen die Kassen niemanden ausschliessen.

In Deutschland wird der Bewegungsradius in Virus-Hotspots eingeschränkt. Bund und Länder haben sich auf weitergehende Ausgangssperren geeinigt, hiess es aus Verhandlungskreisen. In Landkreisen mit einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 200 Neuinfektionen pro 100’000 Einwohnerinnen dürfen sich diese nur aus triftigen Gründen weiter als 15 Kilometer vom Wohnort entfernen – das betrifft auch den Tagestourismus. Eine grosse Mehrheit der Deutschen ist für eine Verlängerung des Lockdowns.

Singapur will die Contact-Tracing-Daten missbrauchen. Fast 80 Prozent der Bewohnerinnen des Stadtstaates nutzen gemäss den Behörden die App, welche automatisch die Kontakte aufzeichnet. Jetzt will die Polizei auf diese Daten zugreifen können, um damit Kriminalfälle aufzuklären, wie sie gestern ankündigte. In der Schweiz wäre das gemäss Artikel 60 des Epidemiengesetzes ausdrücklich verboten.

Wo liegt die Obergrenze von Covid-19? Seit Beginn der Pandemie diskutieren Wissenschaftler, ab wann die sogenannte «natürliche Herdenimmunität» erreicht wäre. Heisst, wie viele sich ohne Massnahmen theoretisch anstecken würden, bevor die Ausbreitung von selber zum Erliegen kommt. Im «Guardian» sind wir heute auf eine Studie über die brasilianische Millionenstadt Manaus gestossen. Dort haben sich gemäss der Studie bis im Oktober ganze 76 Prozent der Einwohner mit dem Virus angesteckt (auf die Schweiz gerechnet wären das über 6 Millionen). Trotzdem konnte in Manaus noch keine Herdenimmunität erreicht werden, schreibt das «Ärzteblatt», es sterben weiterhin Menschen an Covid-19.

Und zum Schluss: Ein Überblick

Die Impfkampagne der Schweiz ist jetzt in den meisten Kantonen angelaufen. Zwar ist die Anzahl der verfügbaren Impfdosen noch klein; es werden zuerst die Risikogruppen und die ältere Bevölkerung geimpft. Bis die breite Bevölkerung dran ist, wird es noch einige Monate dauern. «Es werden alle drankommen, aber es können nicht alle die Ersten sein», sagte Christoph Berger von der Eidgenössischen Kommission für Impffragen heute gegenüber den Medien.

Es sei wichtig, dass die Fallzahlen gesenkt und die Massnahmen beibehalten würden, so Berger. Frühzeitige Lockerungen könnten den Erfolg der Impfaktion beeinträchtigen und einen Rückschlag nach sich ziehen.

Sie überlegen sich die Impfung? Oder wollen Informationen aus Ihrem Wohnkanton erhalten? Die Kolleginnen von SRF haben eine gute und aktuelle Übersicht zum kantonalen Stand der Dinge gemacht.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs und Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Wenn Sie diesen Newsletter aufmerksam gelesen haben, wird Ihnen vermutlich die Redewendung «vom Aff gebissen» aufgefallen sein. Woher kommt diese eigentlich? Vermutlich aus Berlin, und zwar zur Bezeichnung eines tollwütigen Tieres – wer davon gebissen wird, ist verrückt. Seit dem Mittelalter gilt der Affe auch als «Teufelstier». In biblischen Darstellungen findet sich der Affe auch als Ankündigung des Sündenfalls. Mehr hören Sie in den Archiven der «Musigwälle», wo sich das schon vor Jahren die Hörer gefragt haben.

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