Das faschistische Missverständnis

Warum der Vergleich heutiger Tyrannen mit den Totalitaristen des 20. Jahrhunderts nicht greift.

Von Rafael Behr (Text), Bernhard Schmid (Übersetzung), Oliver Fuchs (Redaktion) und Agnès Ricart (Illustration), 02.01.2021

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Es war der 9. November 2016, Donald J. Trump hatte soeben die Wahl gewonnen. Das liberale Establishment war angewidert und schockiert. Doch der abtretende Barack Obama fand in seiner Ansprache im Rosengarten vor dem Weissen Haus beruhigende Worte. Er bekräftigte seinen Glauben an Amerikas progressive Bestimmung, auch wenn sich diese zuweilen nur über Umwege erfülle: «Der Weg, den dieses Land genommen hat, beschrieb nie eine gerade Linie», sagte er. «Wir gehen im Zickzack.»

Der Sieg von Joe Biden im Herbst 2020 wirkt wie eine Bestätigung von Obamas Appell an die Geduld seiner Landsleute. Eine Mehrheit der amerikanischen Wählerinnen wollte einen Wechsel, weg von Trump.

Andererseits sprachen sich über 73 Millionen Amerikaner dafür aus, Trumps Weg weiterzugehen – er holte deutlich mehr Stimmen als noch beim ersten Mal. Diese Wählerinnen trauen also dem verlogenen Demagogen mehr als den Institutionen der amerikanischen Demokratie. Ein harter Kern von ihnen zieht den Fakten Verschwörungs­theorien über ausgedehnten Wahlbetrug vor.

Der von Obama angesprochene Zickzack­kurs zog sich in diesem Fall nicht über Jahrzehnte hin, sondern änderte während der Kontroverse um die Wahl­ergebnisse im Minutentakt. Der geschlagene Amtsinhaber weigerte sich, seine Niederlage einzugestehen. Und schien die Befürchtung zu bestätigen, jeder weitere Tag seiner Amtszeit bedrohe die Verfassung der Vereinigten Staaten. Allerdings unterstreicht Trumps wutschäumende Ohnmacht ob der Tatsache, dass Biden unaufhaltsam der Amts­einsetzung näher kommt, auch die Widerstands­kraft der Demokratie.

Der liberale Mainstream stellt Trump gerne als Diktator dar, als der Hitler oder der Mussolini unserer Zeit. Diese Kommentatoren vergleichen Trumps Angriff auf konstitutionelle Normen mit dem Zusammen­bruch der Weimarer Republik. Nach Zusammen­stössen zwischen Trump-Anhängern und Demonstrantinnen in Portland im Sommer reflektierte die Leserbrief­seite der «Los Angeles Times» die Stimmung seiner entschiedensten Gegner: «Hitlers Ziel war, für Chaos und Diskriminierung zu sorgen, die Muskeln der rechten Faschisten spielen zu lassen, die seine Basis ausmachten, und an der Macht zu bleiben», hiess es in einer der Zuschriften. In einer anderen stand: «Wir sinken ab in den Faschismus.»

Diesen Vergleich zogen aber durchaus auch Fachleute in Sachen Autoritarismus, wie etwa der Yale-Historiker Timothy Snyder, Autor einiger Bestseller darüber, wie Gesellschaften in die Tyrannei abrutschen. Konservative Kritikerinnen bezeichnen Snyder als Hysteriker, der hinter jeder Ecke schon den schweren Tritt von Springer­stiefeln hört. Aber Snyder zieht seine Parallelen zu Tyrannen des 20. Jahr­hunderts durchaus reflektiert: «Wenn Trump kein Faschist ist», schrieb Snyder 2018, «dann in dem präzisen Sinne, dass er noch nicht einmal ein Faschist ist. Er wirft sich in eine faschistische Pose, dann wiegelt er ab und bestreitet jede Verantwortung für seine Worte und Taten.»

Dieser Vorbehalt ist wichtig. Es gibt ganz deutlich eine faschistische Ader in Trumps Stil; allerdings verbunden mit einem Mangel an Disziplin und der Seichtheit des Showbiz-Milieus, das Trump ins Rampen­licht gespült hat. Ihm liegt viel mehr an der Befriedigung persönlicher Eitelkeiten als an irgendeiner Doktrin zur Gestaltung des nationalen Schicksals.

Nicht dass das die widerlichsten Aspekte seines Regimes entschuldigen würde: Macht­missbrauch und Rassismus, die Unmenschlichkeit gegenüber Migranten – Kinder in Käfigen! – und die bewusste Pflege einer Anhängerschaft unter weissen Suprematisten und Neonazi-Milizen. Die Demonstrationen, die Sprechchöre der Mobs, die Kultur der Einschüchterung, das alles erinnert an schaurige Bilder aus der Vergangenheit. Und genau darum ist es so wichtig zu verstehen, warum die gegenwärtige Bedrohung anders ist: ultramodern, die Grenz­überschreitung feiernd, ein Produkt, um eine Entrüstungs­welle nach der nächsten auf den digitalen Markt­platz zu pushen.

Wir müssen aus der Geschichte lernen, sicher. Aber allzu fest auf sie verlassen sollten wir uns nicht.

Die Formen des Autoritarismus

Die totalitäre Erfahrung der 1930er-Jahre definiert noch immer das Worst-Case-Szenario, und das mit gutem Grund. Seither sind neue Normen und Werte entstanden während der langen Herrschaft des Konsum­kapitalismus. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass der Fall der liberalen Demokratie im 21. Jahr­hundert so ablaufen wird wie vor neunzig Jahren.

Es gibt verschiedene Formen von Autoritarismus. Das haben die unterschiedlichen Reaktionen auf die Pandemie rund um den Globus deutlich gezeigt. Der klassische diktatorische Reflex, vielerorts noch sehr lebendig, war es, die Krankheit als Vorwand zu nutzen, um Kritiker zum Schweigen zu bringen und die Kontrolle über die Zivil­gesellschaft auszubauen. Immerhin handelte es sich hier ganz eindeutig um eine Situation, die eine Ausweitung der Staatsmacht erforderte – und das bis tief ins Private hinein. Von ihrem Ausmass her waren auch die Lockdowns in Europa quasitotalitär. Für angehende Diktatoren gehört es zur zweiten Natur, den Schwenk vom Notwendigen zur Unter­drückung zu vollziehen.

Wladimir Putin verabschiedete ein Gesetz gegen «falsche Nachrichten»; auf den ersten Blick, um die Verbreitung von Fake News über Covid-19 zu verhindern. Allerdings ist so ein Gesetz auch ein praktisches Werkzeug, um Dissens zu unterdrücken. Recep Tayyip Erdoğan nutzte dieselbe Methode in der Türkei. Das «Teilen provokanter Posts über das Coronavirus» landete auf der Liste der Verstösse, für die man von der Abteilung für Cyber-Kriminalität des Innen­ministeriums festgenommen werden kann. In Ungarn liess sich Viktor Orbán vom gefügigen Parlament die nötigen Befugnisse geben, um während der Pandemie per Dekret zu regieren.

Ein gewöhnlicherer Faschist, als Trump es ist, hätte in der neuen Krankheit ebenfalls einen Vorwand für Repressionen gesehen. Er entschied sich anders. Nämlich dafür, den Ernst der Lage einfach zu ignorieren. Seine Anhängerinnen lehnen Massnahmen gegen Covid-19 als Angriff auf ihre persönliche Freiheit ab. Das macht sie zu eher schwierigen Rekruten für traditionelle faschistische Projekte; schliesslich verlangen diese die totale Unterwerfung des Einzelnen unter das kollektive Projekt der nationalen Vorherrschaft. Das passt nicht mit der libertären Ader zusammen, die den Trumpismus durchzieht. Nicht dass seine Anhängerinnen sich an Wider­sprüchen stossen würden; sie sind nicht auf der Suche nach einer Doktrin. Was für sie zählt, ist der billige Kick – sie wollen sich nicht um soziale Konventionen scheren und ihrem selbst­gerechten Zorn freien Lauf lassen.

Der Appetit darauf wird auch nach Trumps Verbannung aus dem Weissen Haus nicht vergehen. Ebenso wenig wie er sich auf die Vereinigten Staaten beschränken wird.

Von der Euro- zur Lockdown-Skepsis

Etwas Ähnliches befeuerte auch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Dort vollzieht Nigel Farage gerade den Schwenk von der Euro- zur Lockdown-Skepsis. Seine Brexit-Partei wird, unter neuem Namen und Fokus, weiter in den Rand­bereichen der öffentlichen Meinung wildern, in denen Farages nostalgisch-nationalistische Basis nahtlos in Fremden­feindlichkeit und paranoiden Verschwörungs­erzählungen um die Impfkampagne aufgeht.

Was diese Bewegungen verbindet, ist das Bedürfnis, sich gegen die etablierte Macht zu stellen. Seit der Brexit rechtlich zum Fakt geworden ist, kann Brüssel für die Briten nicht länger das grosse Schreck­gespenst sein. Ein neuer Unter­drücker muss her, dem sich die Stirn bieten lässt. Es handelt sich hier um ein Projekt der Opposition um der Opposition willen, nicht zur Gründung eines faschistischen Staats. Farage hat der Verbreitung rechts­extremer Ideen im britischen Mainstream Tür und Tor geöffnet, an einer konkreten Ausübung von Staatsgewalt ist er aber nicht interessiert. Ihm ist es am wohlsten, wenn er sich um Verantwortung drücken und über die Missstände in (angeblich) «liberalen» Staaten nörgeln kann.

Premierminister Boris Johnson, der sein Amt seinem Spiel mit dem nationalistischen Feuer verdankt, zeichnet sich durch sein erwiesenes Desinteresse gegenüber der ungeschriebenen britischen Verfassung aus. Aber noch nicht einmal seine schärfsten Kritikerinnen wollen in ihm einen angehenden Tyrannen sehen. Johnsons Ambitionen sind – genau wie Trumps – viel zu selbstbezogen, als dass sich ihm autoritäre Absichten unterstellen liessen. Den Brexit umgab ein Hauch von radikalem Bolschewismus – ein Glaube, dass ein utopisches Ziel jedes Mittel rechtfertige –, nur konnte sich Johnson nicht lange genug von seinem Spiegel losreissen, um die Revolution auch tatsächlich zu Ende zu führen.

Das böse wohlige Gefühl

Der Umsturz einer tief verwurzelten freiheitlich-demokratischen Ordnung ist harte Arbeit. Es erfordert anhaltende Selbst­aufopferung. Und dadurch zeichnet sich der Radikalismus westlicher Prägung im 21. Jahr­hundert nun wirklich nicht aus. Nicht dass die zornige Energie fehlen würde, aber die wird grösstenteils in einer stressfreien Variante verausgabt: dem Online-Aufstand. Vom Computer aus böse Tweets abzufeuern oder Propaganda-Memes zu teilen, verleiht das wohlige Gefühl, etwas Riskantes oder sogar Subversives zu tun – ohne grossen Aufwand an Geld oder Zeit. Ganz zu schweigen davon, dass man dafür seine persönliche Sicherheit riskieren müsste.

Sicher, einige Klick-Aktivisten der radikaleren Sorte machen den Schritt zu offensiveren Varianten des Extremismus; ein grösserer Pool an digitalen Fundamentalistinnen könnte also theoretisch durchaus eine Bedrohung im analogen Leben darstellen. Aber nicht jeder schlägt diesen Weg ein, und das nicht nur, weil sie den Hintern nicht hochkriegen. Die meisten radikalen Ultras in westlichen Demokratien haben den Lifestyle und die Erwartungen des Konsum­kapitalismus mit der Mutter­milch aufgesogen – und zumindest den einen oder anderen seiner Werte verinnerlicht.

Die Gegenkultur Ende der 1960er-Jahre machte die persönliche Selbst­verwirklichung zum Fetisch. Dem folgte in den 1980er-Jahren der Kult des persönlichen Unternehmer­tums. Beide stellten sie die individuelle Erfüllung über Werte wie Pflicht und Selbst­aufopferung. Der damit einhergehende gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel wird so schnell nicht wieder rückgängig zu machen sein. Mag sein, dass hier und da noch jemand Lust darauf hat, sich im Rahmen eines kollektiven politischen Projekts zu engagieren. Aber ich vermute, die Messlatte liegt heute weit höher als in den 1930ern, wenn es darum geht, wie viel Selbst­verwirklichung die Einzelne dafür aufgeben will. Im Gegensatz zur Generation, die 1918 – traumatisiert und entfremdet – aus den Gräben stieg, sind die jungen Bataillons von Internet-Vigilanten nicht als Befehls­empfänger aufgewachsen – geschweige denn, dass sie mit Waffen umzugehen verstünden.

Es besteht kein Zweifel am Gewicht der gegenwärtigen Reaktion gegen den Liberalismus, bei der Linken wie bei der Rechten (nur dass die Rechte damit spektakuläre Wahl­ergebnisse einfahren kann). Und man darf auf keinen Fall die Missstände kleinreden, die hinter dieser Polarisation stehen. Der wirtschaftliche Konsens, der den Unterbau für die Globalisierung des 20. Jahr­hunderts lieferte, ist längst diskreditiert. Das Versprechen auf wachsenden Wohlstand für alle hat sich mit der Finanz­krise ebenso zerschlagen wie der Traum vom sozialen Aufstieg. Und der alte liberale Werkzeug­kasten bietet so gut wie keine Antwort darauf. Die Wählerinnen fühlen sich von eigensüchtigen Eliten verraten und machen ihrer Frustration durch die Unterstützung von Populisten Luft.

Aber noch nicht einmal unsere Volks­wirtschaft deckt sich so recht mit den Bedingungen, die den Totalitarismus der 1920er-Jahre hervorgebracht haben – das Problem damals war nicht nur Enttäuschung, sondern Hyper­inflation, Massen­arbeitslosigkeit und Armut. Die heutigen Bedingungen in Pennsylvania – im amerikanischen «Rostgürtel» – oder im nord­englischen Sunderland sind nicht zu vergleichen mit denen von damals – sei es Berlin 1933 oder Sankt Petersburg 1917.

Statuen stürzen statt Fabriken besetzen

Die Bewegungen, die unseren heutigen Problemen eine Stimme geben, entwickelten sich in einer Ära nie gekannter Stabilität und Prosperität. Sicher, sie machen hinsichtlich Propaganda, Symbolen und Rhetorik Anleihen beim Totalitarismus und haben eine gewisse Attraktivität für Rand­gruppen mit Hakenkreuz-Tattoos oder Hammer-und-Sichel-Aufnähern. Aber hinsichtlich einer doktrinellen Kontinuität, sei sie faschistischer oder stalinistischer Art, sprechen wir hier eher von einem Hybrid – von etwas, das Totalitarismus mit Konzepten und Privilegien aus Jahrzehnten des liberalen Konsenses mischt.

Bei der Linken ist durchaus noch vom Sturz des Kapitalismus die Rede; aber einen Plan, diesen mittels einer Revolution zu bewerkstelligen, den gibt es wohl eher nicht. Das Studium des Marxismus-Leninismus beschränkt sich auf die akademische Welt. Der Wunsch, die Produktions­mittel in der Hand des Proletariats zu sehen, ist nicht verschwunden, aber im Schatten kultureller Belange kaum noch sichtbar. Die Handvoll verbliebener Aktivistinnen bewegt eher ein historischer Revisionismus als volks­wirtschaftliche Theorien. Statuen vom Sockel zu ziehen, beflügelt ihre Fantasie weit mehr als die Besetzung von Fabriken. Die Art, wie sie den Online-Diskurs kontrollieren, mag ein gewisser bolschewistischer Eifer auszeichnen, aber den wahren Stalinisten lenkt die übermässige Beschäftigung mit Symbolen letztlich ab vom Aufbau neuer Strukturen.

Die neue nationalistische Rechte ist nur allzu bereit, sich mit der Linken auf diesem Terrain zu treffen. Sie verteidigt weder gross den Laisser-faire-Kapitalismus noch die Macht der Konzerne, die ihrer Zielgruppe in den letzten Jahren beide nichts Gutes gebracht haben. Der Kultur­kampf ist von einer sozialkonservativen Position aus eine Möglichkeit, sich mit den gebeutelten Industrie­regionen zu verbinden, in denen man früher links gewählt hat.

So sehr sich dieser Kultur­kampf wie eine Schlacht zwischen linken und rechten Extremen ausnehmen mag, ausgetragen wird er auf klassischem liberalem Terrain.

Es handelt sich um einen Wettstreit zwischen Rechten und Freiheiten. Die Kultur­kriegerinnen vom rechten Flügel fordern die Freiheit, Anstössiges zu sagen (und der Linken Zensur vorzuwerfen); ihre linken Gegner pochen auf das Recht, nicht durch Hass- und Hetz­reden zu Schaden zu kommen, die sie der Rechten vorwerfen. Die Linke will die Wiedergut­machung historischer Ungerechtigkeiten gegenüber diskriminierten Gruppen; die Rechte sagt, eine solche Kampagne komme einem «Vorurteil» gegenüber hetero­sexuellen weissen Männern gleich.

Was für die Demokratie tatsächlich gefährlich ist

Die schrillsten Varianten dieser Ansichten können einen vehement illiberalen Ton annehmen. Trotzdem kommen sie bei ihrem Publikum gerade deshalb gut an, weil sie sich auf das liberale Konzept von der Unantastbarkeit individueller Rechte stützen. Für den Entwurf einer Regierungs­form reicht das unterm Strich aber nicht. Es handelt sich hier weder um Pläne für Tausend­jährige Reiche noch für eine neue Sozialistische Sowjetrepublik.

Tatsächlich gefährlich für die Demokratie sind nicht die Argumente selbst, sondern die digitale Infrastruktur, auf der man sie propagiert. Es ist die Maschinerie von Facebook, Youtube, Google, Whatsapp und Twitter, die diese Polarisation fördert, die Menschen in unversöhnliche Lager spaltet und zu den extremsten Formen selbst noch der letzten Meinung treibt. Dieser Prozess findet in einer völlig neuen Art von staats­bürgerlichem Raum statt. Er ist quasiöffentlich, aber letztlich eben doch im Besitz von Privaten. Die Bedeutung dieser technischen Revolution für Informations­fluss und -kontrolle stellt jede «post­liberale» politische Doktrin in den Schatten. Und doch versteht man sie bislang kaum. Trump hat davon profitiert, ohne dass man ihm ein tieferes Verständnis dafür angemerkt hätte.

Die invasiven Möglichkeiten von Google, Amazon und Facebook machen mit den gängigen Vorstellungen von Privat­sphäre auf eine Weise Schluss, die sich Gestapo und Stasi noch nicht einmal hätten träumen lassen. Nur dass nicht wirklich Dissens über diesen Wandel aufkommen mag. Tim Wu, Jura­professor an der Columbia University, drückt das folgender­massen aus: «Verbraucher finden sich bequemlichkeits­halber im Grossen und Ganzen durchaus mit einem gewissen Mass an Totalitarismus ab.» Wer liest schon die Geschäfts­bedingungen vor dem Klick auf das Kästchen, mit dem die persönlichen Daten zur Nutzung – auch im Rahmen politischer Kampagnen – freigegeben werden? Der ganze Bereich bietet berechtigten Anlass zur Sorge um die Nachhaltigkeit einer freiheitlichen demokratischen Ordnung, die sich nach wie vor in erster Linie auf die Konventionen und Abläufe eines analogen Zeitalters stützt.

Die eigentliche Gefahr erwächst also weniger aus einer explizit gegen den Liberalismus gerichteten faschistischen Doktrin als aus dem Verschwinden eines gemeinsamen öffentlichen Bezugs­systems, in dem Ideen auf vernünftige Weise diskutiert werden können.

Es ist eine Krise, die selbst dem von Natur aus optimistischen Barack Obama Sorgen macht: «Wenn wir keine Möglichkeit haben, Richtig und Falsch zu unterscheiden, dann funktioniert der Marktplatz der Ideen per Definition nicht mehr», sagte er jüngst, womit auch «per Definition unsere Demokratie nicht mehr funktioniert». Es ist nicht so, als hätte Trump auf die Abschaffung der politischen Opposition hingearbeitet. Es war die digitale Maschinerie der Radikalisierung, kombiniert mit der Erosion eines gemeinsamen Vokabulars der Wahrheit, die die verfassungs­mässige Ordnung geschwächt und sie dem Trumpismus gegenüber so anfällig gemacht hat.

Trumps cartoon­hafter Faschismus

Es geht hier mitnichten darum, die Bedrohung durch den nationalistischen Populismus – oder dessen Gegenstück am äusseren linken Rand – herunter­zuspielen. Aber es ist wichtig, den seichten Clickbait-Totalitarismus nicht mit dem richtigen Totalitarismus zu verwechseln. Die Angst vor der Wiederholung historischen Grauens kann uns auf perverse Weise in eine falsche Sicherheit lullen: weil sie impliziert, dass wir den Feind auch tatsächlich erkennen, wenn wir ihn sehen.

Wir schaffen aus den Gräueln des 20. Jahr­hunderts ein schrill kostümiertes Monster, zum einen, um aus Angst vor diesem wachsam zu sein. Zum anderen, um uns einzureden, dass unsere Wachsamkeit ausreicht.

Die Gefahr dabei ist nur, dass wir den falschen Horizont im Auge behalten, wenn wir auf die Wiederkehr einer alten Bedrohung achten, anstatt unsere Fantasie spielen zu lassen und uns den Aufstieg einer ganz neuen Form von Diktatur vorzustellen. Sie würde sich des libertären Stroms der digitalen Kultur bedienen. Anstatt sich demokratischer Institutionen mit der Macht der Militärs zu bemächtigen, würde es genügen, deren Fundamente mit der Säure des Zynismus zu unterspülen. Ebenso wenig würde sie sich wie Trump mit krasser Demagogie ankündigen; sein cartoonhafter Faschismus machte die Gefahr für Liberale sofort erkenntlich. Entsprechend leicht war es für sie, ihm zu widerstehen. Eine raffiniertere, tückischere Version davon könnte mehr Erfolg haben.

Zwar bietet die Geschichte wichtige Anhalts­punkte dafür, was schieflaufen kann, aber sie ist keine Glaskugel. Es ist durchaus richtig, im modernen Amerika auf Echos eines Faschismus alter Prägung zu lauschen – aber nicht, weil dieser wieder im Kommen wäre, sondern weil sein Wesen sich im Unterschied zwischen damals und heute zeigt. Geschichte wiederholt sich nicht, kann uns aber warnen, dass da etwas passiert, was wir noch nicht verstehen. «Man stürzt nicht zweimal in denselben Abgrund», schreibt der französische Schrift­steller Eric Vuillard in seinem Roman «Die Tages­ordnung», einer Schilderung von Europas Abstieg in die Finsternis in den 1930er-Jahren. «Aber man stürzt immer auf dieselbe Weise, in einer Mischung aus Lächerlichkeit und Entsetzen.»

Zum Autor

Rafael Behr ist Kolumnist und Autor beim «Guardian». Zuvor war er für dasselbe Medium Korrespondent für Russland und die baltischen Staaten. Dieser Artikel erschien am 4. Dezember im Magazin «Prospect» unter dem Titel «You have misunderstood the threat to liberal democracy».

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!