Covid-19-Uhr-Newsletter

Empathie, Empathie!

31.12.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

In der Schweiz sind nun über 7000 Menschen an einer Corona-Infektion gestorben. Mitte Dezember erleuchteten Tausende Kerzen den Bundesplatz im Gedenken an die Verstorbenen. Es war ein erschütternder Anblick. Nur: Muss man auch persönlich erschüttert sein?

Unser Reporter Elia Blülle hat sich gefragt: Ist es schlimm, wenn ich diese Kerzen sehe, in mich hineinhöre … und nichts empfinde? Und wie geht man am besten mit diesen hohen Todeszahlen um, wenn weder man selbst noch Bekannte betroffen sind? Welche Rolle spielt Mitgefühl in dieser Pandemie?

Um diese Fragen zu beantworten, hat er mit der Neuropsychologin Grit Hein von der Universitätsklinik Würzburg gesprochen. Sie hat vor fünf Jahren zusammen mit Philippe Tobler eine Studie durchgeführt, die erforscht hat, ob wir Empathie für Fremde lernen können.

Frau Hein, es sterben ganz viele Menschen – und ich empfinde keine Trauer. Woran liegt das?
Als Grundphänomen kann und sollte uns Empathie in schweren Zeiten verbinden; wir kommen mit dieser Fähigkeit auf die Welt. Das Problem: Empathie ist häufig stärker für diejenigen, die uns nahestehen, also unsere engsten Angehörigen: Kinder, Familie und Freunde. Menschen, die uns ähnlich sind, lösen Mitgefühl aus. Empathie für andere «Aussenstehende» zu empfinden, ist möglich, aber nicht so einfach. Nur weil wir derzeit alle in einer ähnlichen Situation stecken, fühlen wir nicht automatisch mit allen Menschen mit, die schwer erkrankt sind oder im Sterben liegen.

Mitgefühl allein reicht also nicht aus?
Wir wissen aus empirischen Untersuchungen, dass Empathie prosoziale Normen verstärkt. Das heisst, wenn ich Empathie entwickle, fällt es mir leichter, Normen zu folgen, die für mich zwar negative Konsequenzen haben, aber anderen helfen – zum Beispiel den Corona-Massnahmen. Das ist aber kein Automatismus. Empathie entsteht nicht in jedem Fall und beschränkt sich in der Regel sehr stark auf mein direktes Umfeld. So gut und so hilfreich Empathie ist, so sehr muss man ihre Grenzen kennen. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ab einem bestimmten Punkt reicht Empathie allein nicht mehr aus, um gesellschaftliche Probleme zu lösen.

Was braucht es denn noch?
Respekt. Also ein Bewusstsein dafür, dass jede Person gleichwertig ist und ein Recht auf ein würdiges Leben hat. Wenn ich einen gesellschaftlichen Konsens erwirken will, in dem alle Verantwortung übernehmen, dann greift der reine Appell an die Empathie zu kurz. Denn bei der Empathie entwickle ich für bestimmte Personen Mitgefühl und für andere nicht. Sobald ich aber jemanden respektiere, dann werde ich auch verstehen, dass jene Person dasselbe Recht auf Leben hat wie ich. Und Respekt kann man kultivieren oder eben nicht. In Krisen können wir die Konsequenzen des gegenwärtigen politischen Klimas beobachten, in dem der gegenseitige Respekt gefördert und gelebt wird oder eben nicht.

Wie kann man den Respekt und das Mitgefühl den Menschen gegenüber stärken, die gesundheitlich am stärksten von dieser Pandemie betroffen sind?
Indem wir politische Diskurse führen, die das Leben von älteren und kranken Personen würdigen und wertschätzen – indem man ihre Probleme als ein gesamtgesellschaftliches Anliegen betrachtet. Wie sich die Politik und Menschen in der Öffentlichkeit äussern, hat einen Einfluss darauf, wie wir älteren und kranken Menschen begegnen. Hier würde ich an alle Instanzen appellieren – auch Schulen und Familien. Sie können auch ein empathisches und respektvolles Klima fördern. Wenn das in der Vergangenheit nicht geschehen ist, lässt sich das inmitten einer Krise nicht herbeireden. Aber auch hier reicht Empathie allein nicht aus. In einer gross angelegten Studie an Studenten wollten wir herausfinden, ob man voraussagen kann, wie stark sie sich an die Empfehlungen und Massnahmen halten werden. Wir haben dabei gesehen, dass nicht die emotionalen Variablen entscheidend sind, sondern das Informationsverhalten der Studenten und das Auftreten der Politik: Je mehr Gewicht sie der Krise beigemessen hat, desto grösser war auch die Bereitschaft, sich an die Massnahmen zu halten.

Welche Rolle spielt unser Mitgefühl für die Betroffenen?
Wir wissen, dass die soziale Anwesenheit einer anderen Person Stress und Angst reduziert. Das ist extrem wichtig für unser mentales Immunsystem. Unter den gegebenen Umständen ist das aber natürlich alles sehr schwierig. Wir wissen auch, dass die Psyche von kranken und älteren Personen derzeit extrem stark belastet wird. Zuspruch ist deshalb wichtig und entlastet. Sich mit anderen Menschen zu verbinden, ist ein menschliches Grundbedürfnis und deshalb unerlässlich. Wie sich das allein virtuell befriedigen lässt, ist empirisch noch nicht gänzlich erforscht. Aber klar ist: Kontakt ist lebensnotwendig.

Und damit zu heute.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

In der Türkei gelten über die Neujahrstage verschärfte Ausgangsregeln. Staatsbürgerinnen dürfen nur in Ausnahmefällen oder tagsüber zum Einkaufen aus dem Haus. Die Regeln gelten von heute Donnerstagabend um 21 Uhr bis um 5 Uhr am kommenden Montagmorgen. Touristen und Ausländerinnen sind grundsätzlich von den Beschränkungen ausgenommen. In der Silvesternacht gelten aber auch für sie Zugangsbeschränkungen für grosse Strassen und öffentliche Plätze.

China hat den Impfstoff der staatlichen Pharmafirma Sinopharm für die allgemeine Bevölkerung zugelassen. Risikogruppen sollen zuerst geimpft werden. Für einzelne Bevölkerungsgruppen wie Behördenmitglieder, Studierende und Menschen, die beruflich ins Ausland reisen mussten, hatte es bereits eine Notfallzulassung gegeben, mit der rund eine Million Menschen geimpft wurden.

Das westafrikanische Land Guinea hat mit Impfungen begonnen. Damit ist es eines der ersten Länder auf dem Kontinent. Gestern Mittwoch wurde im nationalen Fernsehen gezeigt, wie Minister im Präsidentenpalast mit dem russischen Impfstoff «Sputnik V» geimpft wurden. Danach soll die Bevölkerung geimpft werden. In Guinea – wo rund 12,5 Millionen Menschen leben – gab es bisher 13’680 Infektionen und 80 Todesfälle, so die Gesundheitsorganisation der Afrikanischen Union, Africa CDC.

Argentinien und El Salvador haben den Impfstoff der Universität Oxford und des Pharmakonzerns Astra Zeneca zugelassen. Es handelt sich in Argentinien um eine auf ein Jahr begrenzte Notfallregistrierung. Auch Grossbritannien hat den Impfstoff zugelassen. Das Mittel hatte in Studien eine etwas geringere Wirksamkeit als der Impfstoff von Biontech/Pfizer aufgewiesen. Es kann allerdings mit weniger Aufwand gelagert werden und ist deutlich günstiger. Auch die Schweiz hat den Astra-Zeneca-Impfstoff reserviert; er befindet sich noch im Zulassungsverfahren der Arzneimittelbehörde Swissmedic.

Und zum Schluss: Doch noch eine Art Rückblick

Die publizistische Tradition gebietet jeweils zum Jahresende einen Rückblick. Doch wie mit 2020 umgehen? Wie fasst man so etwas zusammen? Wie schiebt man dieses eine riesige Thema beiseite, das wohl jeden von uns in grösserem oder kleinerem Masse tangiert? Wie schaut man zurück?

Vielleicht politisch. Die Republik-Kolleginnen Reto Aschwanden, Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine, Brigitte Hürlimann, Christof Moser und Cinzia Venafro haben in einem Special des Briefings aus Bern in ihrer «Mehr als Corona»-Zusammenfassung einen Rückblick auf das Politjahr 2020 gemacht. Und was für einen! Es ist der Polit-Rundumschlag über 365 Tage. Es geht darin um: die Gesundheitsbranche, Medienförderung, Rechtsstaatlichkeit. Um das CO2-Gesetz, demokratische Teilhabe, Ehe für alle, die Schweiz und Europa.

Es ist aber nicht nur ein Rückblick geworden, sondern auch ein Ausblick: Wie geht es mit diesen Themen 2021 weiter? Der Artikel enthält auch einen Hinweis auf das «Hoffnungsbarometer», das jährlich für die Schweiz erhoben wird. Gemäss Studie sind viele Menschen Ende 2020 gewillt, ihren Teil zu einem gelungenen Miteinander beizutragen. Über 43 Prozent gaben an, sie seien im Vergleich zum Vorjahr eher bereit, andere Menschen freundlich zu behandeln. Mehr als die Hälfte sogar fühlt sich motivierter, anderen zu helfen. Und das ist doch mehr als bloss ein Hoffnungsschimmer.

Kommen wir vom politischen und gesellschaftlichen Rückblick zum persönlichen. Die Co-Autorin dieses Newsletters hat sich insbesondere die vergangenen Monate praktisch täglich mit dem Thema Corona von allen Seiten auseinandergesetzt – und manchmal ist es ihr, weil monothematisch, auch ein bisschen über den Kopf gewachsen.

Deshalb hat sie sich ein paar Notizen zum Jahr 2020 gemacht. Was war gut? Ein kleiner, persönlicher Auszug mit etwas Nachdenklichkeit und viel Dankbarkeit (ohne allzu viel Nabelschau).

«Mein 2020:

  • Ich bin kaum gependelt. Das war toll.

  • Ich fühle mich mit der Welt mehr verbunden. Auch wenn der Anlass kein besonders guter war.

  • Ich habe Freundschaften und Familienbande intensiver gepflegt – auch wenn meist via Telefon oder Video oder draussen.

  • Meine Liebsten sind plus/minus gesund geblieben oder haben sich erholt.

  • Meine Freundinnen in Beirut und Wien sind (einigermassen) unbeschadet geblieben.

  • Ich habe akzeptiert, dass ich Yoga doof finde und Räucherstäbchen trotzdem mögen darf. (Das ist das schwierigste Geständnis des Jahres!)

  • Ich habe das Meer gesehen.

  • Ich habe gelernt, Yaprak zu machen (Grossmutter wäre stolz).

  • Ich habe Arbeit.

  • Ich habe sehr viele schöne Rückmeldungen auf meine Arbeit bekommen.

  • Manchmal habe ich viel Wut in mir, die ich im kommenden Jahr gerne in Energie umwandeln möchte.»

Vielleicht halten Sie auch kurz inne und notieren sich ein paar Rückblickpunkte? Oder Sie finden das alles ein bisschen albern und schauen lieber nach vorne als zurück? Auch gut. Tun Sie heute Abend, wenn möglich, was Ihnen guttut. Wir freuen uns, auch morgen – in einem neuen, unbekannten Jahr – mit Ihnen durch die Welt und durch den Tag zu gehen.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Elia Blülle und Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Es gibt Stimmen in einem Land, die vergehen nicht. Der Schriftsteller Peter Bichsel ist so eine Stimme. Das grosse Interview mit ihm in der NZZ möchten wir Ihnen ans Herz legen. «Wir brauchen Geschichten, um psychisch überleben zu können», sagt er. Ferner geht es ums Alleinsein, um die selbstgerechte Schweiz – und warum Max Frisch verklärt wird. Gute Lektüre!

PPPPS: Es ist – wohl zusammen mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker – einer der Silvesterklassiker schlechthin: «Dinner for One». Der Sketch ist eine deutsche Produktion mit englischen Komikern und unterhält das Fernsehpublikum seit Anfang der 1960er-Jahre. Wir finden: Selten war das Motto Solo-Silvester so aktuell – und der Clip ist immer noch wie jedes Jahr amüsant. Viel Spass!

PPPPPS: Falls Sie eher zum Typ «Vergessen wir dieses vermaledeite Jahr endlich!» gehören und dazu gerne ein bisschen headbangen, um sämtliche schlechten Energien dieses Jahres loszuwerden, empfehlen wir Ihnen ein Stück aus der musikalischen Hochkultur. Erinnern Sie sich an Scooter, die Happy-Hardcore-Band der Neunziger? Die Band um Frontman H.P. Baxxter hat dieses Jahr bereits vor einigen Monaten in einem neuen Song kommentiert – wie gewohnt ist der Sound äusserst monoton und der Text ziemlich sinnbefreit. Aber für die Co-Autorin dieses Newsletters ist «FCK 2020» ein gelungenes musikalisches Ventil, um 2021 mit klarem Kopf und weniger Frust zu beginnen. Und um heute Abend in der guten Stube herumzuhüpfen. F%C#K2020&!

PPPPPPS: Von Herzen einen guten Rutsch und einen sanften Start ins neue Jahr.

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