Was ist Aufklärung?
Wir kommen ans Ende eines dramatischen Jahres. Die Politik hat versagt – die Wissenschaft allein kann uns nicht retten.
Von Daniel Binswanger, 26.12.2020
Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!
Es ist ein wenig seltsam mit den Jahresrückblicken 2020: So offensichtlich durchleben wir eine furchtbare Zeit, dass die «Es hatte auch sein Gutes»-Texte gerade eine Konjunktur erleben. Allerdings wird der Jahreswechsel tatsächlich begleitet von einem Crescendo der nervenzerrüttenden Ambivalenz: Zum einen wütet das Coronavirus mit ungebrochener Tödlichkeit, zum anderen sind die Impfkampagnen angelaufen. Die Pandemie wird immer noch verheerender – und doch scheint ein Ende absehbar.
Ganz Ähnliches lässt sich sagen von einer Plage, welche die Welt schon länger als Corona beschäftigt und im Vergleich beinahe undramatisch erscheint: Zum einen stellen die letzten Wochen wohl den Tiefpunkt der trumpschen Albtraum-Präsidentschaft dar – mit einem abgewählten Staatschef, der mit dem Staatsstreich liebäugelt, und mit knapp zwei Dritteln der republikanischen Kongressabgeordneten, die ihn bei seinem Angriff auf die amerikanische Demokratie allen Ernstes unterstützen. Es stellt sich die Frage, ob ein Zweiparteiensystem, dessen eine Komponente sich in diesem Zustand befindet, längerfristig überleben kann. Zum anderen scheinen aber weder das amerikanische Justizsystem noch die US-Streitkräfte bereit zu sein, zu einer Verhinderung des Machtwechsels Hand zu bieten.
Auch das Ende der Trump-Präsidentschaft wird absehbar. Obschon der Schaden, den er angerichtet hat, irreversibel sein könnte, obschon der Trumpismus die amerikanische Politik noch lange Jahre prägen wird: Die Zeichen stehen erst einmal auf Neubeginn.
2020 ist das Jahr stupender wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit – und der mörderischen Abgründe politischer Irrationalität. Passend zu diesem Jahresende geht die Aufzeichnung um den Globus, die der Putin-Gegner Alexei Nawalny von seinem über dreiviertelstündigen Telefongespräch mit einem Geheimdienstoffizier gemacht hat, der allem Anschein nach zum Killerkommando gehörte, das ihn mit Nervengift beseitigen sollte. Es ist eine so surreale Farce, dass man Schwierigkeiten hat zu glauben, was da zu hören und zu sehen ist: das Nowitschok-Opfer, dem es mithilfe von Investigativjournalisten (und vielleicht auch von westlichen Diensten) gelingt, seine Häscher zu identifizieren und zu kontaktieren; ein FSB-Offizier, der tatsächlich dumm genug ist, Nawalny auf den Leim zu gehen und über eine ungesicherte Telefonlinie Details eines Mordanschlags preiszugeben.
Fast würde man sich wünschen, dass die Killer, welche die gefährlichsten chemischen Kampfstoffe der Welt zum Einsatz bringen, wenigstens mit minimaler Professionalität agierten. Natürlich stehen die russische Pseudodemokratie und ihre extravagante Vorliebe für spektakuläre Giftmorde nicht für die Gebräuche in anderen Staaten. Aber in diesen Zeiten des todbringenden Politikversagens bekommt die kafkaeske Unbedarftheit der FSB-Schergen eine eigentümliche Symbolkraft.
Auf seine trockenste Formel bringt wohl der «Economist» die ernüchternde Lektion des verflossenen Jahres: «Viele Gesellschaften scheinen das Wesen exponentiellen Wachstums nicht verstehen zu können.» Man staunt ob dieser Überforderung: Sowohl die Entscheidungsträgerinnen als auch das breite Publikum müssten imstande sein, wenigstens ein, zwei Monate vorauszublicken. Heute wissen wir jedoch, dass das nur für wenige Länder gilt und dass sie hauptsächlich in Asien oder im Südpazifik zu finden sind. Und wir wissen, dass die Schweiz in die Gruppe der zynischsten und jämmerlichsten Versager gehört.
Wieder einmal blieb es Angela Merkel vorbehalten, die Dinge klar beim Namen zu nennen und ein unmissverständliches Bekenntnis abzulegen zum Wertefundament, auf dem das Projekt der Moderne, des liberalen Verfassungsstaates und des gesellschaftlichen Fortschritts, stets geruht hat und weiter ruhen wird: «Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte. Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden, weil ich ganz sicher war, dass man vieles ausser Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten auch nicht. Und das wird auch weiter gelten.»
Warum wird unsere Epoche gleichzeitig bestimmt von rasantem wissenschaftlichem Fortschritt und von politischer Regression? Es ist eine dieser grossen Fragen, auf die es keine einfache Antwort gibt. Aber ein Ansatz zu ihrer Klärung dürfte beim Begriff der Aufklärung selber liegen.
«Was ist Aufklärung?», so lautet schon der Titel eines der Gründungsdokumente der europäischen Aufklärung, des einzigen Textes von Immanuel Kant, den ein grösserer Teil der Bürger in Europa irgendwann in seiner Schulzeit zu Gesicht bekommt. Häufig wird die kantsche Kurzformel zitiert: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.» Ganz richtig: Das hat eine Menge zu tun mit Eigenverantwortung. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, welches für Kant die Grundvoraussetzungen sind, damit der Ausgang aus der Unmündigkeit gelingen kann: der «öffentliche Gebrauch» der Vernunft. Schon dem Königsberger Philosophen war quälend bewusst, dass die Gründung von Universitäten und die Ausbildung von Wissenseliten als solche noch nicht den Kern des Aufklärungsprojektes bilden können. Schon für Kant steht und fällt die Chance zum rationalen Selberdenken mit der Qualität des öffentlichen Diskurses, der aufgeklärten Debatte, die möglichst alle Bürgerinnen erreichen muss. Sie allein kann den gesellschaftlichen Fortschritt voranbringen. Sie allein – und nicht isolierte Experten – kann der Vernunft zu ihrem Recht verhelfen.
Das Auseinanderdriften von Wissenschaft und Politik, die kaltschnäuzige Ignoranz, mit der «Expertenmeinungen» belächelt werden, hat die Eidgenossenschaft und viele andere Staaten in eine Katastrophe geführt. Versagt hat nicht die Wissenschaft. Im Argen liegt der öffentliche Gebrauch der Vernunft. Versagt haben (in sehr unterschiedlichem Masse) die Meinungsführer – die politischen Verantwortungsträgerinnen, die Parteien –, die zivilgesellschaftlichen Akteure und nicht zuletzt das Mediensystem. Es steht nirgendwo geschrieben, dass wir von einem exponentiellen Infektionsgeschehen masslos überfordert werden müssen. Es steht nirgendwo geschrieben, dass wir Tausende von Toten achselzuckend in Kauf nehmen.
Das unvollendete Projekt der Aufklärung wird heute vielerorts belächelt. Unter dem Banner des Rechtspopulismus und der «Klimaskepsis» ist Gegenaufklärung und deklarierte Wissenschaftsfeindlichkeit erneut in weiten Kreisen salonfähig geworden. Wenn uns 2020 eine Lektion erteilt hat, dann die, dass wir die Kräfte des Obskurantismus nicht akzeptieren dürfen. Dass wir den öffentlichen Gebrauch der Vernunft mit allen Mitteln schützen, pflegen und verbessern müssen. Alles andere hat einen fürchterlichen Preis.
Illustration: Alex Solman