Covid-19-Uhr-Newsletter

Mutant, unbekannt

21.12.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Die Tante eines Freundes ist seit März überzeugt, dass nicht infizierte Menschen die Maske verkehrt herum tragen müssten – nur so würde diese auch wirklich schützen. Die (falsche) Info hatte sie in einer Whatsapp-Gruppe erhalten, seither lässt sie sich nicht vom Gegenteil überzeugen.

Fake News ist schwer beizukommen: Auf Facebook bekommen Falschinformationen zu Covid-19 viermal mehr Reichweite als Beiträge von seriösen Quellen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Auf Facebook, Twitter und Youtube kursiert nur der sichtbare Teil des Fake-News-Materials. In Apps wie Telegram oder Whatsapp zirkulieren massig Videos, Memes und Grafiken, die das Virus verharmlosen und andere Falschinformationen unter die Leute bringen. Das sorgt auch für Konfliktstoff – zwischen engen Freundinnen, innerhalb der Familie, im Job.

Was entgegnet man bei Desinformation? Wie reagieren, wenn die beste Freundin von einer «interessanten Sichtweise» berichtet und dabei immer mehr auf sogenannte «alternative Fakten» hört?

Die österreichische Digitalexpertin Ingrid Brodnig hat zu genau diesen Fragen ein Buch geschrieben. Es hat den Titel «Einspruch!» und erscheint im Januar 2021, für diesen Newsletter hat sie Republik-Tech-Journalistin Adrienne Fichter jedoch schon exklusiv einige Fragen beantwortet.

Frau Brodnig, an Weihnachten treffen nicht nur Generationen, sondern auch Meinungen aufeinander. Was sage ich der Tante, die von der «Corona-Diktatur» spricht und überzeugt ist, dass der «Maskenterror» der Gesundheit schadet?
Mit Fakten alleine werden Sie sie nicht überzeugen. Es gibt verschiedene Strategien. Entscheidend ist allgemein die wertebasierte Kommunikation, also wie man unliebsame Fakten so framt, dass sie zu den Werten passen. Man weiss aus der Klimaforschung, dass man gewissen Klimaleugnern etwa vermitteln kann: Die Bekämpfung des Klimawandels kann Jobs schaffen und Innovation fördern. Welche Werte sind einer Person wichtig? Man muss die Argumente so erklärbar machen, dass sie zu diesen Werten passen.

Was wären denn weitere Strategien?
Es gibt gemäss dem Kognitionsforscher John Cook drei Arten, wie man Desinformation entgegenwirken kann:

  1. Faktenbasiert: Sind Faktenchecks zu dieser Behauptung vorhanden? Hat das XY wirklich so gesagt?

  2. Quellenbasiert: Ist das ein seriöses Medium?

  3. Die logikbasierte Aufklärung: Viele Verschwörungstheorien enthalten einige Logikfehler. So wurde behauptet, Corona sei durch 5G-Strahlung ausgelöst worden. Doch im Iran und in Frankreich wütete das Virus ebenfalls, und dort steht keine einzige 5G-Antenne.

Aber wäre jetzt die Argumentation mit 5G in Frankreich denn nicht kühl, nüchtern und faktisch, was eben nicht viel bewirken kann bei einer Corona-Skeptikerin?
Genau, also muss man sich erst einmal fragen: Was verbirgt sich dahinter? Es gibt beispielsweise viele Falschbehauptungen über Bill Gates, etwa dass er die Leute zwangschippen oder Frauen in Afrika zwangssterilisieren möchte. Mit diesen Fake News wird an ganz konkrete Ängste appelliert. Zum Beispiel, dass Milliardäre unser Gesundheitssystem ersetzen und uns dominieren wollen. Dann könnte man vorsichtig entgegnen: «Ich finde auch, dass das Gesundheitssystem öffentlich zugänglich sein soll, doch es gibt keinen einzigen Beweis dafür, dass Bill Gates das, was du sagst, wirklich tun will.» Wenn sich die Person nicht angegriffen fühlt in ihrer Identität und ihren Werten, wenn man ihr die Möglichkeit gibt, ihr Gesicht zu wahren, kann so schon mal ein Gespräch überhaupt entstehen.

Also ist es der berühmte Ton, der die Musik macht? «Covidioten»-Beleidigungen bringen uns wohl nicht weiter.
Schimpfwörter haben schnell eine sehr spaltende Wirkung in Debatten. Es ist immer wichtig, eine wertschätzende Ebene beizubehalten. Ich habe für meine Buchrecherche mit einer Frau gesprochen, die stark in gewissen Verschwörungskreisen unterwegs war. Ihre Schwester hat in dieser ganzen Zeit stets den Kontakt zu ihr aufrechterhalten und immer ganz vorsichtig-kritisch nachgefragt: Meinst du wirklich, dass alle Medien lügen? Diese Begegnungen waren eine wichtige stabile Ebene für diese Frau, um aus diesen Kreisen wieder rauszukommen. Wenn das Umfeld wegbröckelt, dann hätte das womöglich zu einer Radikalisierung geführt.

Und wie soll man sich im Kollektiv verhalten, damit es nicht ausartet? Etwa im Familienchat auf Whatsapp oder eben am Weihnachtsabend?
Digital hilft hier sicher zuerst der Versand einer privaten Nachricht, also quasi die Klärung im 4-Augen-Prinzip. Man kann die Person darauf hinweisen: «Ist das nicht eine unseriöse Quelle, die du postest?» So wird man nicht vor allen blossgestellt und kann auf eine sensible Art aufklären. Wenn jemand am Familienabend von der grossen Verschwörung erzählt, sollte man zuerst herausfinden: Wie stark ist die Person von dieser Erzählung überzeugt? Viele, die Verschwörungstheorien wiedergeben, sind gar nicht zwingend zu hundert Prozent überzeugt davon. Sie finden es vor allem erst einmal interessant. Daher ist es wichtig, immer Fragen zu stellen. Mit Fragen leite ich eine Debatte in Richtung Erkenntnisgewinn, so kann ich nachfragen: Woher hast du diese Information genau? Und gerade bei grossen Verschwörungstheorien, die die grosse Erzählung und mehrere Reizthemen vereinigen – Corona, Impfen, 5G, QAnon – soll man nicht gleich auf alle Baustellen gleichzeitig losgehen. Erst vielleicht eine Idee aufgreifen und durchdiskutieren.

Bei der Klimaforschung gibt es ja einen Faktenkonsens, der sich auf jahrelange Forschung stützt. Doch Corona ist ein neues Virus. Die Wissenschaftlerinnen mit abweichenden Meinungen verkaufen zurzeit Bestseller, wie etwa das Ehepaar Sucharit Bhakdi und Karina Reiss mit dem Buch «Corona Fehlalarm?».
Es gibt mehrere Warnsignale für solche Neuerscheinungen. Ist dieser Autor wirklich Experte auf diesem Fachgebiet? Dann kann man relativ schnell durch eigene Recherche rausfinden: Gibt es einen Faktencheck zu dieser Behauptung? Publiziert er oder sie aktuell auf dem Fachgebiet? Meist stammen abweichende, pointierte Meinungen von Wissenschaftlern im Ruhestand, die sich quasi mit meinungsstarken Büchern zurückmelden, wie etwa im Fall des pensionierten Sucharit Bhakdi. Ausserdem sind diese Bücher auch keinem wissenschaftlichen Peer-Review-Prozess unterzogen (also dem Qualitätssicherungsprozess durch mehrere Gutachten). Im Fall des Paares Bhakdi und Reiss haben sich beide Universitäten, an denen das Paar lehrte, davon distanziert und sogar einen Widerspruch dazu publiziert.

Gibt es auch technische Kniffe, wie ich auf Youtube Desinformation entlarve?
Es gibt nur wenige technische Tools dazu. Man könnte etwa einen Screenshot eines Bilds bei der Google-Bildersuchmaschine hinaufladen und mit der «Rückwärtsfunktion» herausfinden, ob es bereits schon irgendwo publiziert worden ist – und so die Quelle herausfinden. Doch viel ergiebiger ist der inhaltliche Faktencheck: Wer sind die Protagonisten des Videos? Ist es reisserisch formuliert? Hat die Youtuberin den Anspruch, die alleinige Wahrheit zu kennen? Und wenn dabei mit Studien hantiert wird: Gerade bei der Corona-Thematik lohnt es sich, zwischen episodic und thematic framing – ein Konzept der Kommunikationswissenschaft – zu unterscheiden. Das episodic framing beleuchtet nur eine Studie und ordnet nichts ein, sondern sagt einfach: «Diese Studie sagt …» Das thematic framing hingegen bettet eine neue Studie in den gesamten Wissensstand der Forschung ein, wie etwa der populäre NDR-Podcast des Virologen Christian Drosten.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die Schweiz verhängt einen Einreisestopp für Leute, die aus Grossbritannien und Südafrika einreisen wollen. Dies nach der Entdeckung einer neuen, ansteckenderen Variante des Virus in Grossbritannien und Südafrika. Zudem müssen sich Personen, die seit dem 14. Dezember 2020 aus den beiden Ländern eingereist sind, für 10 Tage in Quarantäne begeben. Es handelt sich dabei um Personen von 96 Flügen seit Mitte Dezember – darunter auch Bundesrat Guy Parmelin, der vom 14. bis 15. Dezember in London weilte. Über das Wochenende sind erneut viele britische Touristen zum Skifahren ins Wallis gereist. In vielen anderen europäischen Alpenländern sind die Skipisten geschlossen.

Graubünden lässt seine Skigebiete über die Feiertage offen. Dies, falls sich die Situation nicht massgeblich ändere, so die Bündner Regierung. Am 29. Dezember will die Regierung die Lage neu beurteilen. Der Kanton möchte am 4. Januar mit den Impfungen starten können.

Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hat grünes Licht für die Zulassung des Pfizer-Biontech-Impfstoffs in der EU gegeben. Nächster Schritt ist die Zulassung durch die EU-Kommission. Diese Zustimmung für die Zulassung in allen 27 EU-Mitgliedsstaaten gilt als reine Formsache und wird noch vor Weihnachten erwartet.

Und zum Schluss: Was wissen wir?

Dieses Wochenende machte die Nachricht des mutierten Virenstrangs aus Grossbritannien die Runde. Impfung in Sicht, Ende 2020 auch – und nun das: Es geht eine mutierte Variante des Virus in Europa herum. Was klingt wie ein guter Cliffhanger zu einer schlechten Serienstaffel, ist Realität.

Kein Wunder, bereitet dies Sorge. Zumal sich alles sehr schnell entwickelt und auch für die Wissenschaft neu ist.

Wir versuchen kurz zu umreissen, was wir wissen und was wir nicht wissen:

  • Die «britische» Mutation des Virus wurde Anfang Dezember entdeckt. Sie hat sich rasch in Südostengland ausgebreitet.

  • Genau genommen handelt es sich um einen neuen Stamm von Covid-19 – mit verschiedenen Mutationen. Das ist an und für sich nichts Aussergewöhnliches: Viren mutieren. (Womit die Evolutionstheorie wieder einmal bestätigt wird.) Es wird geschätzt, dass sich Sars-CoV-2 seit Ausbruch der Pandemie rund ein- bis zweimal pro Monat ein wenig verändert hat.

  • Neu daran ist die Anzahl zeitgleicher Mutationen: Mit 17 ist diese eher hoch.

  • In der Schweiz wurde das mutierte Virus noch nicht nachgewiesen – aber in den Nachbarländern. Deshalb muss man davon ausgehen, dass es auch in der Schweiz ist. Das bestätigt Patrick Mathys vom Bundesamt für Gesundheit (BAG). In den vergangenen Tagen sind Tausende Touristinnen aus dem Ausland in die Schweizer Wintersportorte gereist (in den meisten umliegenden Ländern sind sie geschlossen), die Mobilität ist also verhältnismässig hoch.

  • Die neue Virusvariante ist offenbar ansteckender und verbreitet sich deshalb viel schneller.

  • Ob sie auch einen schwereren Krankheitsverlauf auslöst, ist noch nicht klar.

  • Die Wissenschaft versucht im Moment herauszufinden, ob die bisher entwickelte Impfung auch gegen diese Mutation wirkt.

Gemäss jetzigem Wissensstand heisst das konkret für uns:

  • Weiterhin Vorsicht walten lassen. Wie kann ich mein Risiko minimieren – und wie kann ich das Risiko für meine Mitmenschen minimieren?

  • In Innenräumen: lüften, lüften, lüften.

  • Abwägen: Welche Kontakte sind im Moment wirklich unverzichtbar?

Wir tappen gerade wieder einmal etwas im Dunkeln. Das ist auch für uns immer wieder ziemlich verwirrend und ermüdend. Aber wir geben unser Bestes, Sie gut informiert auf dem Laufenden zu halten.

Bleiben Sie also umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Adrienne Fichter und Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Am vergangenen Freitag wurden die neuen Regeln vom Bundesrat kommuniziert. Dabei ist uns im Newsletter ein Fehler unterlaufen: Wir hatten fälschlicherweise geschrieben, dass sportliche Wettkämpfe für Kinder und Jugendliche weiterhin erlaubt sind. Richtig ist: Sportbetriebe sind geschlossen. Einzig im Freien darf Sport in Gruppen bis maximal 5 Personen stattfinden. Sportliche Aktivitäten von Kindern unter 16 Jahren sind aber noch erlaubt – mit Ausnahme von Wettkämpfen. (In der Online-Version des Newsletters haben wir es korrigiert.)

PPPPS: Ein lauter Furz in einer Videokonferenz – gibt es etwas Peinlicheres? Könnte man meinen. Doch hier unterrichtet gerade eine Lehrerin ihre Schüler. Und jemandem entwischt ein lautes Knattern. Diese Flatulenzen haben herzige Konsequenzen: Kinder wie auch Lehrerin kriegen sich vor Lachen nicht mehr ein. Ab jetzt schauen wir dieses Video immer, wenns uns stinkt – es vertreibt nämlich jegliche dicke Luft.

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