Niederländische Kolonie im Südosten von Borneo: Banjarmasin, die Heimat von Ibu Silla (eine Zeichnung aus dem Jahr 1865). W.A. van Rees

Wie eine Frau aus Borneo die Gründung der Schweiz prägte

Der Nidwaldner Alois Wyrsch war der erste Parlamentarier «of color» der Schweiz. Sein Vater Louis schlug für die Holländer antikoloniale Aufstände in Südostasien nieder und redigierte die Bundesverfassung von 1848. Und seine Mutter? Die Geschichte von Ibu Silla, die aus der Gründungs­geschichte der Schweiz getilgt wurde, aufgeschrieben als persönlicher Brief.

Von Bernhard C. Schär, 15.12.2020

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Bern und Zürich im Herbst 2020

Liebe Frau van den Berg

Verzeihen Sie, falls ich Sie mit falschem Namen anschreibe. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie tatsächlich Johanna van den Berg hiessen. Ich sah diesen Namen in einer Taufurkunde für Ihre beiden Kinder. Ausgestellt wurde sie von der katholischen Kirche in Surabaya auf der Insel Java im Jahr 1832. Die Taufurkunde ist Teil der privaten Papiere Ihres damaligen Herrn Louis Wyrsch, des Vaters Ihrer Kinder. Daraus konnte ich entnehmen, dass Sie selber an der Taufe nicht zugegen waren.

Louis Wyrsch liess Sie und ein gemeinsames drittes Kind in Banjarmasin in Südostborneo zurück, wo er als Offizier der niederländischen Kolonial­armee gedient hatte. Bald nach der Taufe in Surabaya reiste Louis Wyrsch mit seinen beiden älteren Kindern nach Europa weiter, in seine Heimat, von der er Ihnen sicher erzählt hat: Nidwalden, ein winziger Fleck in einem kleinen Land namens Schweiz im europäischen Hinterland.

Dort wurden Louis Wyrsch und Ihr Ältester, Alois, zu Vorreitern der Demokratie. Ihre Tochter Constantia spielte Theater. Noch heute, fast 200 Jahre nach der Trennung von Ihnen, erinnert man sich an sie.

Vor etlichen Jahren hat zudem einer Ihrer Nachfahren das rund 2000-seitige Tagebuch von Louis Wyrsch, zusammen mit Hunderten Briefen und anderen Dokumenten, ins Staatsarchiv Nidwalden gebracht, wo ich unter anderem die Taufurkunde entdeckte.

Aus diesen Quellen weiss ich, dass Sie Louis Wyrsch als sogenannte huishoudster dienten, wie die Nieder­länder sagten, als Haushälterin oder, auf Javanisch und Malaiisch, njai. Den Quellen entnehme ich aber auch, dass Ihre Existenz in Nidwalden und der Schweiz ein Geheimnis bleiben musste. So hat entweder Ihr damaliger Herr, Louis Wyrsch, oder einer seiner Nach­fahren alle Passagen, in denen von Ihnen die Rede ist, fein säuberlich mit einem Messer oder einer kleinen Schere heraus­geschnitten. Zum Glück hat der Zensor einige Stellen übersehen. Aus diesen weiss ich, dass Wyrsch Sie auch Silla nannte. War das Ihr malaiischer oder javanischer Name?

Dass Ihr Herr Ihre Existenz in seiner alten Heimat verschwieg, überrascht Sie wohl nicht, liebe Ibu Silla. Europäische Männer verschwiegen Beziehungen zu nicht europäischen Frauen meistens in ihren Papieren. Und auch in den übrigen Dokumenten, die sie als Politiker, Beamte, Handels­männer, Missionare oder Wissenschaftler herstellten, wird die Rolle, die nicht europäische Frauen in ihrer Gegenwart spielten, kaum je erörtert.

Bis vor ein, zwei Generationen war zudem nicht nur die Herstellung von historischen Quellen, sondern auch das Lesen und Interpretieren derselben ein vorwiegend europäisches und männliches Privileg. In kleinen Ländern wie der Schweiz kommt hinzu, dass die Geschichts­schreibung auch heute noch mehrheitlich in den Händen der alteingesessenen Bevölkerung liegt. Obschon deren Vorfahren schon immer mit «Fremden» wie Ihnen in Beziehung standen, interessierten sie sich bislang fast nur für die Geschichte von ihresgleichen.

Für immer mehr Menschen in der Schweiz reicht dies heute allerdings nicht mehr. Inzwischen sind rund 25 Prozent von ihnen «fremd» – wir nennen sie «Ausländerinnen und Ausländer», obschon viele von ihnen seit Generationen mit uns leben. Dazu gehören übrigens auch circa 25’000 Menschen aus Ihrer Region, also aus Indonesien und Südostasien. Hinzu kommt eine grössere Gruppe von Menschen, rund 40 Prozent der Bevölkerung, mit sogenanntem Migrations­hintergrund. Unsere Familien­geschichten reichen nicht nur ins europäische Ausland, sondern vielfach auch nach Asien, Afrika, Nord- und Südamerika oder Australien. Freilich suchen auch wir in den Schweizer Geschichts­erzählungen meist vergeblich nach Bezügen zu den nicht schweizerischen Anteilen unserer eigenen Lebensgeschichten.

Sie vermuten richtig, liebe Ibu Silla, unser einseitiges Bild von der Vergangenheit ist auch ein Ausdruck von Macht­verhältnissen, die teilweise seit Ihren Lebzeiten fortbestehen. Sogenannte Ausländerinnen haben in der Schweiz keine politischen Rechte. Sie haben kaum Zugang zu Macht­positionen in der (Geschichts-)Wissenschaft, der Wirtschaft oder in den Medien. Auch Einheimische mit Migrations­hintergrund sind in diesen Sphären noch immer stark unterrepräsentiert.

Anders als zu Ihrer Zeit, lassen die Herrschafts­verhältnisse heutzutage – zumindest in der Schweiz – durchaus Kritik und Selbst­organisation ausserhalb der etablierten Macht­strukturen zu. So freut es mich, Ihnen berichten zu dürfen, dass diesen Sommer rund 30’000 nicht weisse Schweizerinnen und Schweizer sowie solche mit Migrations­biografien und etliche ihrer alteingesessenen Freundinnen und Freunde auf die Strasse gingen. Sie kritisierten Rassismus und Diskriminierung. Sie forderten aber auch einen ehrlicheren Blick auf unsere gemeinsame Vergangenheit. Denn noch immer stehen Hindernisse aus der Kolonialzeit einer Demokratisierung unserer Gegenwart und Zukunft im Weg. Diese könnten wir nur beiseite­räumen, wenn wir verstünden, wie die Schweiz nicht isoliert vom Rest der Welt entstand, sondern als aktive Mitgestalterin der europäischen imperialen Unter­werfung der Welt.

Vor diesem Hintergrund ist Ihre Geschichte, liebe Ibu Silla, für uns enorm relevant. Sie zeigt uns, dass die Schweiz nicht erst seit jüngerer Zeit, sondern von Anfang an in globale Ungleichheiten eingebunden war, ja aus solchen hervorging. Ihre Geschichte zeigt uns auch, wie Menschen trotz Unter­drückung und Ausbeutung über spezifische Formen des Wissens sowie über Handlungs­strategien verfügten, mit denen sie unsere koloniale Vergangenheit entscheidend mitgestalten konnten.

Welche Rolle Sie, liebe Ibu Silla, präzise in der Verflechtungs­geschichte zwischen dem kolonialen Borneo und dem schweizerischen Bundes­staat gespielt haben, ist für uns europäische Historikerinnen leider sehr schwierig zu rekonstruieren. Es zwingt uns zu einem Umdenken. Wir waren es uns bis jetzt gewohnt, vor allem über dasjenige zu berichten, was in den Quellen steht. Auch wenn wir das meist in kritischer Absicht taten, blieben wir innerhalb der Perspektive der Urheber dieser Quellen – also der schreib­kundigen europäischen Männer.

Ihr Fall ist jedoch exemplarisch für die überwiegende Mehrheit der Menschen, die unsere Vergangenheit geschaffen haben: Sie wurden aus den Quellen entfernt oder tauchen darin gar nicht erst auf. Für uns Historiker heisst dies, dass wir nicht mehr nur dasjenige analysieren dürfen, was in den Quellen steht. Wir müssen stattdessen viel stärker dasjenige analysieren, was nicht in den Quellen steht.

Auf Ihren Fall bezogen: Was sagen uns die Lücken in Louis Wyrschs Tagebuch über Ihre Rolle in unserer Geschichte?

Lassen Sie mich erzählen, was ich mit dieser Methode über Sie heraus­gefunden zu haben glaube. Und lassen Sie mich dabei auch erzählen, was aus Ihrem Herrn und Ihren Kindern geworden ist, nachdem sie Sie in Borneo zurück­gelassen haben.

Zu diesem Beitrag

Beim Text handelt es sich um eine für die Republik gekürzte und umgeschriebene Version eines Buchbeitrags von Bernhard C. Schär. Das Buch «Ausgeschlossen einflussreich», heraus­gegeben von Lisia Bürgi und Eva Keller, ist Ende Oktober im Schwabe-Verlag erschienen. Die Forschung zu diesem Text wurde unterstützt von Philipp Krauer, Monique Ligtenberg, Stephanie Willi, Harald Fischer-Tiné, Nur Ahmad, Tom Hoogervorst, Brigitte Flüeler, Ana und André Holenstein.

Louis Wyrsch erwähnt Sie zum ersten Mal am 27. Juli 1827. Er berichtet über ein Testament für Ihre beiden Kinder, Alois und Constantia, in dem er verfügte, dass die beiden im Fall seines vorzeitigen Todes in ein Waisenhaus geschickt würden. Ihnen selber, liebe Ibu Silla, wollte er eine Abfindung von 500 Gulden überlassen. Aus den anderen Teilen des Tagebuches weiss ich, dass Louis Wyrsch damals bereits seit über zehn Jahren in nieder­ländischem Kolonial­dienst stand. Im Sommer 1824 hatte ihn die Armee­leitung von Java nach Südost­borneo entsandt, wo er das Militär- und Zivil­kommando des kleinen Aussen­postens in Banjarmasin übernahm.

Kaufmann, Militär, Politiker: Louis Wyrsch (1793–1858). Staatsarchiv Nidwalden

In dieser Zeit stieg er vom Unteroffizier zum Captain auf, was mit verschiedenen Privilegien einherging. Er durfte mit einer eigenen «Haus­hälterin» zusammen­leben, also mit Ihnen. Zwar verboten die Niederlande Heiraten zwischen europäischen Männern und nicht europäischen Frauen. Da sie jedoch noch bis weit ins 19. Jahrhundert europäischen Frauen die Reise in ihr Kolonialreich untersagten, hatten sie schon seit dem 17. Jahr­hundert die Angewohnheit entwickelt, eheähnliche Verbindungen mit «Haushälterinnen» zu tolerieren.

Was mit Kindern aus solchen Verbindungen zu geschehen habe, regelten die niederländischen Kolonial­gesetze klar. Ihr Schicksal hing alleine vom Mann ab. Akzeptierten sie ihre Kinder als ihre eigenen, konnten sie europäisch geführte Schulen besuchen. Söhne erhielten Zugang zu privilegierten Positionen in der Armee oder der Kolonial­verwaltung; Töchter konnten Männer mit europäischem Rechts­status heiraten.

Hätte Louis Wyrsch Ihre gemeinsamen Kinder nicht anerkannt, hätten sie als «indische Eingeborene» ohne europäische Rechte im Dorf bei Ihnen aufwachsen müssen. Louis Wyrsch sah für Ihre gemeinsamen Kinder offenbar ein europäisches Leben vor. Er nannte sie Alois, nach seinem Vater, und Constantia, nach seiner Mutter in Nidwalden. Wie Sie die beiden auf Malaiisch nannten, weiss ich leider nicht.

Dass Louis Wyrsch mit Ihnen auch eine sexuelle Beziehung oder – wie er es selber formulierte: «die menschliche Bestimmung» – ausleben konnte, schien er sehr geschätzt zu haben. Ich glaube auch, dass er eine gewisse Zuneigung für Sie empfand. In einem Brief an einen Freund nannte er Sie einmal «belle», was Schönheit auf Französisch bedeutet. Freilich erzählt er im selben Brief auch, dass er Sie aus seinem Haushalt verbannt habe. Ihre Anwesenheit würde es ihm erschweren, seinen Entschluss umzusetzen, nach Europa zurückzukehren.

Ich habe mich oft gefragt, wie Sie wohl Ihre Beziehung zu Ihrem Herrn erlebt haben, muss aber zugeben: Ich kann es mir nicht vorstellen. Zu gross ist die soziale, kulturelle und historische Distanz zwischen uns.

Aus anderen Quellen und der Forschungs­literatur weiss ich aber, dass Frauen wie Sie zu jener Zeit meist Sklavinnen waren. So schrieb etwa ein Zürcher Kollege Ihres Herrn, der zeitgleich auf der Nachbarinsel Sumatra für die Niederländer als Söldner diente, dass er gleich drei Sklavinnen besessen habe. Eine davon habe «des Nachts den Platz einer Frau» und «zu meinem Bedürfnis» eingenommen.

Ich gehe daher davon aus, dass auch Sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft, womöglich aus einer versklavten Familie, sicher aber aufgrund Ihres Ausschlusses aus der kolonial­rassistischen, privilegierten Kategorie der «Europäerinnen» keine nach europäischen Massstäben «legitime» Beziehung mit Louis Wyrsch leben konnten. Sie hatten somit auch keine Rechte, weshalb es für Wyrsch gesetzlich kein Problem war, Ihnen 1832 ihre beiden gemeinsamen ältesten Kinder zu entziehen, sie katholisch taufen zu lassen und in die Schweiz zu bringen.

Sie haben sich nach Kräften dagegen gewehrt, nicht wahr?

Ich vermute dies, weil Louis Wyrsch Ihre Reaktion auf einer ganzen Seite und in mehreren ausführlichen Passagen in seinem Tagebuch geschildert zu haben scheint, die jedoch nachträglich heraus­geschnitten wurden. Es handelt sich dabei um die grössten zusammen­hängenden Lücken in seinem Tagebuch. Mit Sicherheit weiss ich, dass Sie als Mutter seiner Kinder bereits früher etliche weitere Schicksals­schläge erdulden mussten.

Vielsagende Lücken: Im Tagebuch von Louis Wyrsch sind viele Passagen über Ibu Silla unleserlich. Staatsarchiv Nidwalden

So sehe ich, dass am 10. Mai 1828 Ihre erste Tochter im Alter von nur 14 Monaten einen qualvollen Tod starb. Sie litt offenbar an Pocken und hatte hohes Fieber mit Krämpfen. Gegen Ende ihres Lebens erblindete sie und konnte keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Louis Wyrsch, der ansonsten fast nur Dienstliches festhielt, notierte in seinem Tagebuch: «Meine Constantia geduldig mit Milch gewaschen, was ihr gutzutun schien. Gegen Mittag konnte sie gar ihre Augen ein wenig öffnen.» Zwei Tage später starb Ihr Kind an Erschöpfung. Acht Monate später waren Sie wieder schwanger. Als das Kind, Ihr Drittes, am 18. Oktober 1829 zur Welt kam, litt es offenbar so stark unter Krämpfen, dass Sie es nicht stillen konnten. Es verstarb einen Tag später, und Louis Wyrsch begrub es neben Constantia im Garten.

Über diesen Garten musste ich lange nachdenken. Wyrsch erwähnt ihn in seinem Tagebuch mehrmals. Da er aber häufig abwesend war, vermute ich, dass Sie diesen Garten pflegten. Sie zogen darin nebst Gemüse auch Heil­kräuter und, so stelle ich es mir vor, verbrachten somit auch viel Zeit an den Gräbern ihrer beiden früh verstorbenen Kinder. Daneben versorgten Sie nicht nur den Haushalt und, mit den Jahren, drei Kinder. Sie schienen sich auch um Louis Wyrsch gekümmert zu haben, wenn er krank wurde. So beschreibt er etwa, wie er eine hartnäckige Grippe mit einer Mixtur aus Tamarinden­salz, Essig, Senf und Lombok­pfeffer bekämpfte.

Haben Sie diese Medikamente hergestellt und die Stirn und den Nacken Ihres Herrn damit eingerieben?

Ich vermute es. Denn wir wissen heute dank Historikerinnen wie Jean Gelman Taylor und Hans Pols, dass die europäische Medizin in den Tropen bis weit ins 19. Jahrhundert nutzlos blieb. Europäische Kolonisten und Soldaten setzten daher auf Heilwissen von asiatischen Frauen. Dass europäische Kolonial­armeen die Pflege ihrer Soldaten in die Hände kolonisierter Frauen wie Ihnen legte, liebe Ibu Silla, ist eine der vielen Ironien der Kolonialgeschichte.

Wie Sie mir vermutlich erwidern würden, spielte dies auch für die Schweizer Geschichte eine wesentliche Rolle. Schliesslich bezog die niederländische Kolonial­armee fast jeden zehnten ihrer rund 70’000 europäischen Söldner aus der Schweiz. In Banjarmasin waren dies nebst Louis Wyrsch auch Soldat Appenzeller aus St. Gallen und Soldat Pfeiffer aus Disentis. Sie unterstanden direkt Ihrem Herrn, und vermutlich haben auch Sie sie gekannt. Wie wichtig das Heil- und Pflegewissen von Frauen wie Ihnen, Ibu Silla, für die Schweiz war, zeigt die Geschichte Ihrer Familie exemplarisch.

Ich habe gesehen, dass Louis Wyrsch am 10. Februar 1825, nur wenige Monate nach seinem Dienstantritt, schwer verletzt wurde. Er führte den Feldzug gegen einen rebellischen Fürsten an. Wochenlang jagten Wyrsch und seine Soldaten die Rebellen, die sich immer weiter ins Hinterland zurückzogen, durch Flüsse, Sümpfe und unwegsames Gelände. Die Strategie der niederländischen Armeeleitung hiess damals: Angst und Terror verbreiten, indem sie Dörfer nieder­brannten, die sich auf die Seite von Rebellen stellten. Louis Wyrsch setzte diese Strategie loyal um, bis seine Truppen den Anführer der Rebellion endlich in einem Fort entdeckten.

Wyrsch führte die entscheidende Schlacht an, wurde jedoch bald von einer Gewehrkugel niedergestreckt. Die Verhaftung und öffentliche Erhängung des Rebellen­führers erlebte er daher nicht mehr persönlich. Er wurde mit anderen Verwundeten in die Residenz des niederländischen Gesandten gebracht und gepflegt. Danach folgte eine längere Erholungsphase zu Hause – bei Ihnen. Die Gewehrkugel hatte ein Loch in seinen Gaumen gerissen, was sehr schmerzhaft war und ihm oftmals auch das Schlucken erschwerte. Unter Ihrer Pflege erholte er sich aber so weit, dass er seinen Dienst noch fast sieben Jahre fortführen konnte.

Ihre Pflege und diese Wunde hatten in Europa weitreichende Folgen für Louis Wyrsch und indirekt auch für Ihre gemeinsamen Kinder, liebe Ibu Silla. Denn Louis Wyrschs Kriegsverletzung qualifizierte ihn nach seiner Rückkehr 1832 für einen Ritterorden des niederländischen Königs. Geadelte Militär­offiziere erhielten zusätzlich zu ihrer regulären Pension eine weitere Entschädigung. Louis Wyrsch bezog auf diese Weise jedes Jahr rund 1000 Gulden vom niederländischen Kolonialstaat. Das sind etwa 170’000 Franken nach heutigem Wert. Solche Pensionen bildeten damals in der Schweiz eine wichtige Einnahme­quelle für die Herrschafts­familien in kleinen Kantonen, die vom Söldner­wesen lebten. Dies galt auch für Nidwalden.

Der erste Schweizer Parlamentarier «of color»: Alois (oder manchmal Louis), Sohn von Ibu Silla. Staatsarchiv Nidwalden
Schauspielerin und bestens im Nidwaldner Bürgertum integriert: Constantia, Tochter von Ibu Silla. Staatsarchiv Nidwalden

Kaum hatte Wyrsch seine erste Pension erhalten, offerierte man ihm einen Sitz in der Regierung. Bis zu seinem Tod 1858 absolvierte «Ritter Louis Wyrsch», wie er sich fortan nannte, eine lange Karriere als Landammann, Tagsatzungs­abgeordneter, Militär­kommandant im Sonderbunds­krieg sowie als Nidwaldner Vertreter der Revisions­kommission, die 1848 die neue Schweizer Bundes­verfassung redigierte. Die ganze Zeit über wurde er vom niederländischen Kolonial­ministerium finanziert und wohnte gemeinsam mit den Kindern in einem «gemütlichen Haus» in Buochs, das er mit seinen «bescheidenen Ersparnissen aus Indien» gekauft hatte.

Sie sehen also, liebe Ibu Silla: Ihr Heilwissen und Ihre vielfältige Pflegearbeit für Louis Wyrsch in Borneo haben sich für ihn in der Schweiz ökonomisch und politisch enorm gut ausgezahlt.

Zu gerne wüsste ich, wie es mit Ihnen und Ihrem Sohn in Borneo weiterging. Ich weiss nur, dass Louis Wyrsch vor seiner Abreise nach Europa einem Freund 1500 Gulden übermachte, damit er Sie und Ihr Kind in seinen Haushalt aufnahm. Wie Sie sicherlich mitgekriegt haben, haderte Louis Wyrsch lange mit dieser Entscheidung. Einem Freund schrieb er kurz vor der Abreise: «Ich kann Ihnen nicht genug sagen, ich schlug mir oft selbst vor den Kopf, so sehr verwunderte es mich, dass ich so beschlusslos blieb.»

Auf der einen Seite schwebte Ihrem Herrn offenbar «der Geist meiner alten Mutter» vor Augen. Wie Sie sicherlich wissen, Ibu Silla, hatte ihn seine Mutter zusammen mit seinem Onkel, Landammann Von Flüh, bereits 1829 aufgefordert, «unverzüglich» nach Hause zu kommen. Louis Wyrschs Mutter, Constantia, unterstrich ihren Wunsch in einem langen Schreiben im Sommer 1831 erneut: «Ach mein Sohn! Mein lieber Sohn! […] Nochmahl, ergreiffe ich die Feder, nochmahl bitte ich mit mütterlichem Herzen […] kehre doch in dein Vaterland zurück, kehre zurück zu deiner Mutter, um sie zu trösten. Sohn! […] Deine Mutter erwartet Dich mit Sehnsucht; deine Geschwisterten, deine Verwandten, die ganze Gemeinde erwartet dich, alles sehnt sich nach dir.»

Wenn Louis Wyrsch nun die Briefe seiner Mutter las, die für ihn «unaufhörlich die innigsten Gebete für meine Rückkehr an Gott richtete», dann schien ihm der Fall klar: «[I]ch nahm mir fest vor, zu repatriieren.» Allerdings: «Wendete ich mich dann wieder meinen Kindern zu sowie [hier ist nun eine längere Passage aus der Quelle herausgeschnitten worden, die vermutlich von Ihnen handelt, Ibu Silla], dann begann ich an meinem Plan wieder zu zweifeln. Ich dachte, meine Kinder seien mir doch näher und ich müsse hier bleiben und durch [hier wurde wieder eine Passage herausgeschnitten].»

Nach Monaten des Grübelns, die für Sie sicherlich auch nervenaufreibend gewesen sein mussten, Ibu Silla, glaubte Wyrsch schliesslich einen Ausweg aus seinem Dilemma gefunden zu haben: zwei Jahre Urlaub in Europa, die Kinder mitnehmen, damit sie eine europäische Ausbildung erhielten, und dann wieder alleine zurück nach «Indien» zu seinem dritten Kind reisen und – eventuell – zu Ihnen.

Sie werden sich fragen, weshalb Louis Wyrsch nie zurückkehrte. Nun, das hatte mit Ihrer Quasi-Schwiegermutter und Quasi-Schwägerin zu tun. Beide bearbeiteten Louis Wyrsch unerlässlich, sich aus der Armee ausmustern zu lassen und eine Pension zu beantragen. Auch mit dieser Entscheidung rang er lange. Er schrieb beispielsweise:

«[S]chwer musste nun der Kampf zwischen weggehen oder bleiben werden – für beides war vieles dafür u dawieder. Mama [und] Schwester wiedersetzen sich auf das kraftvollste […] die Kinder zu verlassen war auch ein schweres Hinderniss […]. Dagegen riefen mich Natur­anhänglichkeit nach Indien – vielmahls wandte ich meinen Geist zum Allerhöchsten Urheber mich aus dem verzweifelvollen Kampf, der mich schon lange Tag u Nacht bewältigte, zu reissen.»

Es kam noch zu etlichen Auseinandersetzungen «mit der Mama und Sch[wester] Const[antia] […] von hier oder nicht hier bleiben», bis er schliesslich «die Crisis geendigt und beschloss also dem Willen des Himmels nachzuggeben. Alles hat sich nun dahin gelenkt, dass ich bleyben solle.»

Von nun an tröstete sich Louis Wyrsch mit dem Gedanken, dass einst Ihr gemeinsamer Sohn, Alois, zurück nach Borneo zu Ihnen und seinem kleinen Bruder reisen könnte. Ich hoffe, es lindert Ihren Schmerz etwas, dass ich Ihnen berichten kann, dass Ihre beiden Kinder in der Familie Wyrsch offenbar sehr geliebt wurden. Eine Cousine von Louis Wyrsch schrieb ihm kurz nach seiner Rückkehr in die Schweiz 1832: «[N]un bin ich gottlob wieder wohl, und hoffe sie werden es auch sein, und die lieben kleinen Indianno wieder munter und lustig angetroffen haben, geben sie selben so viele herzliche Küsse für mich als sie nur wollen.»

Das «exotische» Aussehen der dunkelhäutigen Kinder wird in den Quellen immer mal wieder erwähnt. Zum einen verhinderte jedoch die mächtige Position ihres Vaters, dass sie denselben Demütigungen ausgesetzt wurden, die nicht weisse Menschen in der Schweiz über sich ergehen lassen mussten, wenn sie etwa im Rahmen von sogenannten Völker­schauen durch Europa tourten. Zum anderen sorgte Louis Wyrsch aber auch dafür, dass die Tatsache der unehelichen Geburt der beiden Kinder und dass ihre Mutter, also Sie, liebe Ibu Silla, womöglich keine Christin geschweige denn eine Katholikin waren, in Nidwalden bis heute ein Geheimnis blieb.

Wie erwähnt, fehlen nicht nur wichtige Passagen im Tagebuch zu seinem Leben mit Ihnen in Borneo. Im späteren Teil des Tagebuchs, das von Louis Wyrschs Leben in der Schweiz handelt, verwendete er oftmals das arabische Alphabet, mit dem damals Malaiisch geschrieben wurde, als Geheimsprache, wenn er über Alois und Constantia und ihre Herkunft schrieb.

Arabische Schriftzeichen als Geheimschrift: Louis Wyrschs Tagebuch. Staatsarchiv Nidwalden

Die Schrift nennt sich Jawi, und es gibt nur noch wenige Menschen, die sie lesen können. Dieses Alphabet benutzte er aber nicht für Malaiisch, sondern für Holländisch. Ich benötigte die vereinte Expertise von Freunden in Indonesien und den Niederlanden, um diese Passagen zu entziffern. In einem Briefentwurf an einen Freund in Borneo kündigte er an, dass Alois bald «nach Indien fahren kann, um seiner Mutter und seinem Bruder zu helfen». Er erkundigt sich, ob Sie und Ihr Sohn weiterhin von der Pension leben konnten, die er Ihnen hinterlassen hat.

Er habe viel an Sie denken müssen. In den schwer entzifferbaren Teilen scheint er dann über Ihre Kinder Alois und Constantia zu schreiben, dass man in Nidwalden ihre Legitimität anzweifle. Sie seien so lange sicher, wie er noch am Leben sei. Der Glücksstern könne sich aber schnell ändern, und dann würde es noch schlimmer als in den Niederlanden. Denn in Nidwalden habe das Volk das Sagen, und dieses sei wie überall fanatisch.

Ich kann Sie beruhigen, Ibu Silla, Wyrschs Glücksstern blieb stabil. Unter seiner schützenden Hand erhielt Ihre Tochter Constantia eine gute Ausbildung und heiratete standesgemäss einen Mann aus einer anderen Familie der Nidwaldner Elite. Sie spielte Theater auf einer der Laienbühnen, die damals im regionalen Bürgertum populär waren und Frauen zwar nicht als Mitglieder der Theatergesellschaft, aber als Darstellerinnen zuliessen.

Louis Wyrschs Lieblingskind blieb Ihr Ältester, Alois. Über ihn schrieb er weitaus am meisten. Alois heiratete offenbar sehr zum Missfallen des Vaters jung, mit zwanzig Jahren. «Ich hatte ihn nach Indien bestimmt», notierte Louis Wyrsch dazu: «[S]ein Caracter stand diesem Clima viel mehr verwandt und hätte noch viel gutes [be-]wirken können.» Die Ehe scheint allerdings schnell in eine Krise geschlittert zu sein. Alois verdächtigte seine Frau, ihn mit jemand anderem betrogen zu haben.

Er entschied dann, zur Freude seines Vaters, doch noch nach Borneo zu reisen. Louis Wyrsch schrieb seinen Veteranen­freunden in den Niederlanden sowie Freunden, die inzwischen hohe Funktionen in der Kolonial­verwaltung auf Java einnahmen, seinen Sohn Alois, «der eigentlich ein Indian von Borneo ist und eine besondere Vorliebe nach Indien fühlt», gleich als Unteroffizier in die Kolonial­armee eintreten zu lassen.

Tatsächlich reiste Alois in die Niederlande. Dort scheint ihn allerdings sein Mut verlassen zu haben. In mehreren Briefen an seinen Vater erklärte er, weshalb er sich noch nicht beim Armeedepot gemeldet habe. Louis Wyrsch versicherte seinem Sohn, jede seiner Entscheidungen zu akzeptieren. Allmählich verlor aber selbst er die Geduld, und er forderte Alois auf: «[V]erstelle dich nicht länger, sei aufrichtig u willst du lieber zurückkehren, so geschehe es.»

Nach neun Monaten war Alois Wyrsch im April 1847 wieder zurück in Nidwalden, wo sein Vater ihm eine wirtschaftliche Existenz als Besitzer einer Mühle aufbaute. In jenem Jahr 1847 entluden sich die Konflikte zwischen den konservativen, katholischen Kantonen der Schweiz, zu welchen auch Nidwalden zählte, und den mehrheitlich protestantischen liberalen Kantonen. Es kam zu einem kurzen Bürgerkrieg, dem sogenannten Sonderbunds­krieg. Er war nicht vergleichbar mit den Kolonial­kriegen in Borneo und Java, die zu Ihren Lebzeiten wüteten, liebe Ibu Silla. Der Sonderbunds­krieg dauerte nur kurz, und die Katholiken verloren.

Ihr Sohn Alois schien sich aber als Offizier unter dem Kommando seines Vaters, der das Nidwaldner Bataillon befehligte, bewährt zu haben. Auch Louis Wyrschs Ansehen stieg noch einmal stark an. Er hatte bereits im Vorfeld des Krieges keinen Hehl aus seiner Ablehnung des katholischen Fanatismus gemacht.

Er selber verstand sich blendend mit den Führern der protestantischen, liberalen Schweiz und vertrat bemerkenswert liberale, fast kultur­relativistische Ansichten. Den katholischen Gottesdienst an seinem Wohnort Buochs beschrieb er kurz vor Weihnachten 1836 etwa als «Jahrmarkt»: «[U]nter den Reformierten und Mohamedanen sah ich niemals so schlecht u unandächtig Gottesdienst halten wie bey uns. Wie kann so etwas Gott gefallen, im Gegenteil muss ihn … so etwas mehr zum Zorn reizen.»

Inwiefern sein Respekt vor dem protestantischen und islamischen Glauben auch von Ihnen geprägt war, liebe Ibu Silla, ist leider eine pure Spekulation. Da er im Dienst einer mehrheitlich protestantischen Kolonial­macht immerhin mindestens sieben Jahre mit Ihnen im muslimischen Banjarmasin auf Borneo zusammenlebte, möchte ich es nicht ausschliessen.

Auf jeden Fall scheint dieser vergleichsweise liberale und welterfahrene Katholik 1848 der geeignete Mann gewesen zu sein, um den katholischen Kanton Nidwalden in jener mehrheitlich von protestantischen Köpfen dominierten Kommission zu vertreten, welche die neue Bundes­verfassung für die Schweiz redigierte. Nach Abschluss der Arbeit setzte sich Louis Wyrsch in Nidwalden selber sehr für die Sache der Liberalen und des Bundes­staates ein. Die Nidwaldner Männer konnte er zwar nicht überzeugen. Sie lehnten die neue Bundes­verfassung ab. Sie hielten jedoch an Louis Wyrsch als ihrem Landammann fest.

Nach dessen Tod trat Ihr Sohn Alois in die Fussstapfen seines Vaters. Die Nidwaldner Männer wählten ihn bis 1886 zwölf Mal zum Landammann. 1860 wählten sie ihn auch in die grosse Kammer des Bundes­parlaments, in den Nationalrat. Anstatt zu Ihnen nach Borneo zurückzukehren, wurde Alois Wyrsch also einer der ersten Regenten und Parlamentarier of color in Europa.

Voilà, liebe Ibu Silla. So sehe ich also Ihre Rolle in unserer Geschichte. Sie haben als (sehr wahrscheinlich versklavte) «Haushälterin» Louis Wyrsch umsorgt und gepflegt, als er schwer verwundet war, und ihm damit später eine lukrative Rente des niederländischen Kolonialstaats und eine steile Karriere als Gründervater der modernen Schweiz ermöglicht. Sie haben ihm ausserdem mehrere Kinder auf die Welt gebracht. Ihr Ältester Alois wurde zum am längsten regierenden Landammann im Kanton Nidwalden und zu einem der ersten indoeuropäischen Parlamentarier der Welt.

Viele Menschen in der Schweiz, denen ich in den vergangenen Monaten von Ihnen erzählt habe, finden Ihre Geschichte unheimlich interessant. Sie widerspricht so vielem, was wir in der Schule und teilweise auch an den Universitäten über die Geschichte unseres Landes lernten. Nämlich, dass sich die Schweiz relativ isoliert vom Rest der Welt oder bestenfalls in einem vorwiegend westeuropäischen Kontext entwickelt habe.

Es gibt allerdings auch Stimmen, die sagen: Das sei alles schön und gut, aber letztlich nur eine Marginalie. Die überraschende Tatsache, dass einer von 25 «Gründungsvätern» der Schweiz sein Handwerk als Spezialist für die blutige Nieder­schlagung von antikolonialen Rebellionen in Niederländisch-Indien lernte, ändere nichts Grundsätzliches an unserer Geschichte. Auch dass einer von circa 100 Parlamentariern um 1860 eine Mutter in Borneo hatte, die möglicherweise eine Sklavin war, sei lediglich eine Ergänzung, nicht aber eine Heraus­forderung für unser Geschichtsbild.

Kolonialismus mit Schweizer Prägung: Fort Tabanio bei Banjarmasin (1865). W.A. van Rees

Ich und sehr viele andere in der Schweiz sehen das anders. Wir glauben, die Frage, wie statistisch «repräsentativ» Ihre Geschichte für die Schweiz sei, führe in die Irre. Speziell ist an Ihrer Geschichte vielmehr, dass sie – wenn auch mehrheitlich in Form von Löchern und Geheimnissen – in den Quellen überliefert und somit sichtbar geblieben ist. Wir sehen die europäische und schweizerische Geschichte als einen Teppich. Die heraus­geschnittenen Passagen aus dem Tagebuch von Louis Wyrsch sind für uns kleine Fransen, die am Rand dieses Teppichs hervorlugen. Zieht man daran, merkt man schnell, dass sie im ganzen Teppich eingewoben sind und ihn erst zu dem machen, was er ist.

Die Fransen in Louis Wyrschs Tagebuch führen etwa zu rund 1600 weiteren Schweizer Söldnern, die mit ihm zusammen in der niederländischen Kolonial­armee auf verschiedenen Inseln dienten. Die zwitsers blieben das gesamte 19. Jahrhundert eine feste Kategorie in der niederländischen Kolonialbürokratie, die jedes Jahr minutiös auflistete, wie viele «fremde Europäer» in ihren Kolonien im Dienst standen. Hinter den Deutschen und Belgiern waren die Schweizer stets die drittgrösste Gruppe. Wie viele von ihnen überlebten und nach ihrer Rückkehr in die Schweiz eine ähnlich generöse Pension des niederländischen Königs erhielten, wissen wir nicht.

Gewiss ist nur, dass Louis Wyrsch in der Schweiz mit etlichen zu tun hatte, die ähnlich wie er in ihren Kantonen und im jungen Bundesstaat heraus­gehobene Karrieren absolvierten. Während dieser Zeit spannen sie die Fäden zwischen der Schweiz und der kolonialen Welt ausserhalb Europas stetig weiter, teilweise gar im wörtlichen Sinn. So gründete Louis Wyrsch etwa die erste Seiden­fabrik in Nidwalden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter verspannen Abfallgarn aus Italien zu Textilien, die nach Basel an die grossen Seiden­handels­familien Burckhardt oder Sarasin verkauft wurden, die ihrerseits nicht nur durch Sklaven- und Zwangsarbeit hergestellte Kolonial­waren aus Asien und den Amerikas importierten, sondern auch Textilien in die ganze Welt exportierten.

Im Sommer empfingen Wyrsch und weitere ehemalige Schweizer Söldner ihre niederländischen Veteranen­freunde bei sich zu Hause. Das tiefblaue Wasser des Vierwaldstätter­sees und die vielerorts schroff empor­steigenden Waldhänge schien sie an die Inselwelt des malaiischen Archipels erinnert zu haben. So begleitete Louis Wyrsch im Sommer 1836 einen Luzerner und einen holländischen Veteranen­freund nach Meggen am Vierwaldstätter­see. Dort schwelgten die drei Männer «in angenehmen Erinnerungen über Oost Indien». Vor einem Denkmal für Wilhelm Tell rezitierten sie Passagen aus Schiller und hissten dabei sowohl die niederländische als auch die Schweizer Fahne. Die kleine Insel bei Meggen im See tauften sie «Poelo tiga Orang Java», die «Insel der drei Javaner».

Diese Assemblage von niederländisch-kolonialer Nostalgie und eidgenössischer Mythologie vor der Kulisse des Vierwaldstätter­sees zeigt also sinnbildlich, wie sich die Kolonial- und die Schweizer Geschichte miteinander verwoben. Das Territorium des schweizerischen Bundes­staates wie bereits jenes der Alten Eidgenossenschaft bildete ein beständiges Ressourcen­reservoir für sämtliche europäischen Kolonial­mächte. Die Niederlande alleine bezogen zwischen etwa 1600 und 1900 aus der Schweiz Kapital, Expertise und mehrere tausend Matrosen, Soldaten und Handwerker für ihre kolonialen Unter­nehmungen in Südostasien und anderswo.

Umgekehrt fanden die Gewürze, die Rohstoffe, die Gewinne und das Wissen aus dem nieder­ländischen und den anderen Kolonial­reichen auch immer Abnehmerinnen und Weiter­verwerter in der Schweiz. Jeder Faden der Schweizer Geschichte ist also auch mit dem Wissen, dem Handeln und dem Schicksal von Frauen wie Ihnen in der kolonialen Welt in Übersee verwoben.

Und all diese Fäden führen auch immer wieder zurück ins Zentrum des Schweizer Geschichts­teppichs. Noch kennen wir allerdings erst wenige dieser Fäden. Ich kann Ihnen aber versichern, liebe Ibu Silla, dass immer mehr Menschen in der Schweiz diese Fäden aufgreifen. In Zukunft dürften also immer mehr Frauen wie Sie aus unserer verdrängten Erinnerung geholt und als zwar unfreie, aber dennoch aktive Mitgestalterinnen unserer kolonialen Vergangenheit erkennbar werden. Ich und sehr viele meiner Landsleute brennen darauf!

Bis dahin grüssen wir Sie sehr herzlich,

Bernhard C. Schär

In einer früheren Version hatten wir bei der ersten Zeichnung eine falsche Jahreszahl genannt. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

Zum Autor

Bernhard C. Schär arbeitet an der ETH Zürich am Lehrstuhl für die Geschichte der modernen Welt. 2015 erschien von ihm das Buch «Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900». Es gilt als Grundlagen­werk für die neuere global­geschichtliche Analyse der Schweiz.

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