Covid-19-Uhr-Newsletter

Wir wollen doch nur spielen!

15.12.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Aber Kanton X! Aber Kanton Y! Aber die Skifahrer! Aber die Beizerinnen! Aber die Alten! Aber die Jungen! Aber die Hündeler! Aber die Toten! Aber die Wirtschaft! Aber die Spitäler!

Warum dieses Hickhack?
Warum diese Zersplitterung?
Kann sich dieses Land nicht einigen?

So einfach ist das nicht.

Ein Schritt zurück – und ein Blick in die Spieltheorie.

Also in ein mathematisches Modell, in dem das Entscheidungsverhalten mehrerer Mitspieler (in unserem Fall: Mitglieder der Gesellschaft) untersucht wird. Es wird in der Politikwissenschaft auch eingesetzt, um kollektives Handeln zu verstehen.

Vor zwei Tagen stolperte die Autorin dieses Newsletters über einen Tweet von Michelle Beyeler. Darin hatte sie ein Dilemma aus ebendieser Spieltheorie beschrieben: «Man nennt es Gefangenendilemma: Kooperation (= Kontakte einschränken) hilft nur, wenn es alle tun. Dominante Strategie ist Nicht-Kooperation: Wer kooperiert, trägt nur die Kosten der Einschränkung, hat aber keinen Nutzen, solange die anderen nicht kooperieren.»

Gefangenendilemma?

Dazu wollten wir mehr wissen. Also Anruf bei Beyeler. Wenn jemand mehr weiss, dann sie: Die Politikwissenschaftlerin ist Professorin an der Berner Fachhochschule und doziert an der Universität Zürich. Sie setzt sich mit genau solchen Fragen auseinander.

«Es beschreibt eine brutale Entscheidungssituation, in der man sich nicht absprechen kann (wie zwei gefangene Komplizen, die einzeln verhört werden, aber nicht wissen, was der andere ausplappert). Man weiss: Wenn sich alle für ein kooperatives Verhalten entscheiden, haben wir am Schluss für alle die beste Lage. Doch das Spiel ist so aufgebaut, dass der rationale Entscheid ein nichtkooperativer ist.»

Im Grunde beschreibt dies das Problem der öffentlichen Güter generell sehr gut, so Beyeler. (Über die tragedy of the commons im Zusammenhang mit Eigenverantwortung hatten wir bereits einmal geschrieben.)

Wir nennen dies das Dilemma des kollektiven Handelns.

Was ist ein öffentliches Gut?

Ein öffentliches Gut ist (ganz vereinfacht beschrieben) etwas, von dem wir gemeinsam wollen, dass es allen zur Verfügung steht. Zum Beispiel Bildung oder saubere Luft oder eben im Moment ein tiefes Corona-Ansteckungsrisiko für alle.

Wie stellt man es her?

«Um ein öffentliches Gut herzustellen, müssen wir kooperieren», sagt Politikwissenschaftlerin Beyeler. Aber: Wenn man nicht sicher ist, ob die anderen auch freiwillig mitmachen, dann ist es für den Einzelnen eine rationale Entscheidung, sich nicht an den «Herstellungskosten» (in unserem Fall zum Beispiel: Kontakte einschränken, Maske tragen, aufs Skifahren verzichten) zu beteiligen.

Also ist es zunächst einmal für eine einzelne Person durchaus rational zu sagen: Es bringt eh nichts, wenn ich zu Hause sitze, wenn alle anderen vielleicht Ski fahren gehen. Mein Ansteckungsrisiko ist im Moment ja sowieso hoch, egal ob ich mich einschränke oder nicht.

Aber eben:

«Im Falle von Corona ist ein tiefes Ansteckungsrisiko ein erstrebenswertes öffentliches Gut. Es ist für uns alle gut, wenn wir uns überall bewegen können, ohne die Seuche an jeder Ecke anzutreffen», erklärt Beyeler.

Wie tragen wir zu einem öffentlichen Gut bei?

«Jeder von uns trägt Kosten, um dieses Gut herzustellen. Manche zahlen aber extreme individuelle Kosten – zum Beispiel der Beizer, der sein Restaurant zumachen muss. Die Kosten dieser Einschränkungen sind nicht für alle Leute gleich gross: Deswegen muss das die Politik ausgleichen: mit Regeln für alle und mit Kompensationen für diejenigen, die mehr zur Herstellung dieses öffentlichen Gutes bezahlen», so Beyeler.

Deswegen brauche es gerade in dieser Krise klare und verbindliche Regeln: «Regeln sind auch für den Einzelnen sinnvoll, weil sie eine Garantie geben, dass sich die anderen auch daran halten.»

Fusst das nicht auf einem pessimistischen Menschenbild? Reichen nicht einfach Empfehlungen, Appelle und Freiwilligkeit?

Nein, sagt die Politikwissenschaftlerin und verweist auf das Beispiel der Steuern, die in normalen Zeiten andere öffentliche Güter ermöglichen:

«Wer würde freiwillig Steuern zahlen? Obschon Steuern das Fundament eines funktionierenden Staatswesens sind und wir nur durch das Bezahlen von Steuern ein solches haben können, zahlt sie fast niemand gerne. Zwar profitieren wir von öffentlichen Gütern wie Sicherheit, Infrastruktur, einer gut gebildeten und integrierten Gesellschaft, aber wir würden uns niemals in ausreichendem Masse daran beteiligen, wenn es keinen Zwang zum Steuerzahlen gäbe.»

Und sie fügt an: «Wenn man all unsere gemeinsamen Güter ohne einen gewissen Zwang – also gesetzliche Regeln – herstellen könnte, bräuchte es keinen Staat. Wir sind in der Regel in sehr grossen Gruppen nicht fähig, das alleine hinzubringen, was in unserem gemeinsamen, übergeordneten Interesse wäre.» Das sei die grundlegende Aufgabe eines Staates.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die Tendenz der Zahlen zeigt schweizweit nach oben. Dies sagten an einer Pressekonferenz heute in Bern sowohl das Bundesamt für Gesundheit als auch die transdisziplinäre Covid-Taskforce. Es brauche nun dringend Massnahmen, die zu einem raschen Rückgang der Ansteckungszahlen führten, so Patrick Mathys vom BAG. Und die Taskforce empfiehlt weitgehende, schweizweite Massnahmen, die einheitlich, nachvollziehbar, einfach seien und schnell eingeführt werden.

Die Rückzahlungsfrist für Covid-19-Kredite soll von fünf auf acht Jahre verlängert werden. Dies befand heute eine Mehrheit des Nationalrates. Eine kürzere Rückzahlungsfrist sei nicht zumutbar. Der Ständerat und der Bundesrat wollten die Rückzahlungsfrist bei fünf Jahren belassen. Im Zuge der ersten Welle im Frühling hatten Unternehmen vom Bund verbürgte Bankkredite erhalten. Nun geht der Nationalratsbeschluss zur letzten Differenzbereinigung zurück an den Ständerat.

Flixbus stellt seine Fahrten zwischen dem 17. Dezember 2020 und dem 11. Januar 2021 ein. Kunden, die bereits eine Reise gebucht haben, erhielten ihr Geld zurück sowie einen Gutschein, so der Fernbusanbieter. Bereits im November hatte er Fahrten zwischen Deutschland, der Schweiz und Österreich eingestellt. Man solle auf nicht dringend notwendige Reisen verzichten, hatte Geschäftsführer André Schwämmlein an die Kundinnen appelliert.

Italien plant noch strengere Regeln speziell für Weihnachten. Eine dritte Welle müsse um jeden Preis verhindert werden, so Ministerpräsident Giuseppe Conte. Bereits Anfang Dezember hatte die Regierung starke Massnahmen verkündet, zum Beispiel eine verlängerte Ausgangssperre für die Silvesternacht. Italien wurde in der ersten Welle hart getroffen.

Und zum Schluss: To Ski, or Not to Ski?

Es gibt besonders im Flachland Tage, an denen sehnt man sich in die Berge: Sonne, frischer Schnee, blauer Himmel. Es lockt die Piste, insbesondere jetzt, da vielleicht der Radius eingeschränkter ist als sonst.

Aber auch: Die Spitäler sorgen sich, dass Skiunfälle die sowieso schon schwierige Situation auf den Stationen noch schwieriger machen, und bitten eindringlich, den Pistenspass für einmal zu lassen.

Und die Bündner Regierung verzichtete heute auf die Schliessung ihrer Skigebiete mit der Begründung, das bringe nichts. «Die Leute kommen trotzdem und gehen dann schlitteln oder fahren abseits der Piste und können auch dort verunfallen», so der Bündner Wirtschaftsdirektor Marcus Caduff.

Das erste Clack-Clack der Skischuhe in der Bindung ist ein tolles Geräusch, die erste Nase voll Alpenluft eine wohltuende Abwechslung zum Zürcher Nebel. Dieses Jahr ist alles anders, und die Frage wird zum Gewissensbiss: Ski fahren oder nicht Ski fahren? Als passionierte Skifahrerin (Stil: abe chunnsch immer) steckt die Autorin dieses Newsletters in einem Dilemma. Und hat sich Gedanken gemacht, welche Fragen für sie in die Abwägung kommen:

  • Kann ich die frische Luft und Bewegung auch beim Spaziergang oder beim Joggen bekommen?

  • Gibt es Tage, an denen ich weiss, dass es wenig Leute hat?

  • Weiss ich im Vornherein, ob es ein Gedränge an der Gondelbahn gibt?

  • Weiss ich im Vornherein, ob die Bahnbetreiber die Schutzkonzepte umsetzen?

  • Fühlt es sich gut an, wenn ich das mache?

  • Bin ich fit genug fürs Touren? (Die Antwort ist, so leid es mir tut, stets Nein.)

  • Was mache ich, wenn ich verunfalle und kein Spitalbett mehr bekomme?

  • Hilft es mir bei der Entscheidung, nochmals den ersten Teil dieses Newsletters zu lesen?

Die Autorin hat sich entschieden. Ungern, grummlig und mit Sehnsucht im Herzen.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Altes Handy in neuer Frische! Republik-Journalistin und Tech-Expertin Adrienne Fichter freute sich heute über diese Nachricht: Wer bisher wegen eines zu alten Geräts die Swiss-Covid-App nicht installieren konnte, kann das jetzt – zumindest mit einem iPhone 6 sollte es funktionieren.

PPPPS: Kennen Sie die alte Geschichte der Privatdetektivinnen, die den Müll durchwühlten und Rückschlüsse auf das Verhalten von Personen fanden (drum auch an dieser Stelle Güsel-Gusler genannt)? Das hat heute die NZZ gemacht. Und zwar mit den Stadtzürchern. Beziehungsweise ihrem seit Corona veränderten Abfallverhalten. Diese werfen massiv mehr Karton und mehr Glas weg als letztes Jahr. Online bestellen und mehr saufen? Im Grunde: Ja. Aber diese Erklärung ist dann doch ein bisschen gar zugespitzt – lesen Sie selbst.

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