Auf lange Sicht

Wie deckt die Statistik Wahlfälschung auf?

Wahlen unentdeckt zu manipulieren, wird immer schwieriger. Denn die Forschung kommt Wahlbetrügern mit aufwendigen mathematischen Methoden zunehmend auf die Schliche.

Von Daniel Bochsler, 14.12.2020

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Bei der jüngsten Wahl in den USA sei betrogen worden, behauptet der abgewählte Präsident Donald Trump – und bleibt bislang Beweise schuldig. Seinen Verdacht schöpft er unter anderem aus der Tatsache, dass er bei der Auszählung zunächst vorne lag und Konkurrent Joe Biden ihn später aufgrund der ausgezählten brieflichen Stimmen doch noch überholte.

Ein solcher Sprung lässt sich allerdings in der Regel gut erklären. Im Fall der USA damit, dass vorwiegend Demokratinnen brieflich abstimmten, während republikanische Wähler öfter in persona ihre Stimmzettel einlegten.

Wahlfälschungen anhand des zeitlichen Musters der gemeldeten Stimmen erkennen zu wollen, führt also vielfach nicht zum Ziel. Doch in der Statistik gibt es andere Verfahren, die tatsächlich Hinweise auf Betrug geben können.

Bevor wir dazu kommen, wenden wir uns jedoch noch einem zweiten Fall zu, bei dem von einem zeitlichen Muster ein vermeintlicher Wahl­betrug abgeleitet wurde – den Präsidenten­wahlen vom Oktober 2019 in Bolivien.

Bolivien, 2019: Zeitliche Muster

Die Rechte warf dem linken Staats­präsidenten Evo Morales damals Wahlbetrug vor. Sie stützte sich dabei auf die Wahlbeobachtungsmission der Organisation Amerikanischer Staaten. Diese argumentierte mit einem angeblich verdächtigen Zeit­sprung. Gemäss ersten Resultaten hatte Morales im ersten Wahl­gang das notwendige Mehr verpasst. Doch im Verlauf des Abends trafen neue Resultate ein, und das Blatt wendete sich allmählich zu seinen Gunsten. Dann aber unterbrach die Wahl­kommission die Bericht­erstattung, gab erst 23 Stunden später die Resultate aus den verbleibenden Wahl­lokalen frei – und verkündete den Sieg Morales’.

Die Organisation Amerikanischer Staaten führte den Sprung in den Stimmen­zahlen als Beweis für gross angelegten Wahl­betrug an. Polizei und Militär verweigerten Morales daraufhin den Gehorsam, er floh auf Umwegen nach Argentinien, und die rechte Vize­präsidentin des Senats übernahm interimistisch die Präsident­schaft. Erst nach den wieder­holten Wahlen im Oktober 2020 ging die bolivianische Präsidentschaft offiziell zurück an die Linke.

In Bolivien kommen immer wieder Unregelmässigkeiten bei Wahlen vor. Ein auffälliger Sprung in der Auszählung reicht als Beweis dafür aber nicht aus, wie kürzlich auch drei Politologen der Universität Pennsylvania feststellten. Sie zeigen auf, was im Moment auch für die USA relevant ist: In vielen Staaten verändern sich die Resultate im Laufe der Auszählung.

So werden etwa in der Schweiz tendenziell rechts stehende Land­gemeinden zuerst ausgezählt. Der Ausgang von Wahlen oder Abstimmungen entscheidet sich oft erst am späteren Nachmittag, wenn auch die Städte ausgezählt sind.

In Bolivien sind es die Resultate aus den Zentren, die zuerst eintreffen. Die Resultate aus peripheren Gebieten, wo viele indigene Supporterinnen von Evo Morales wohnen, treffen zuletzt ein. Dies erklärt, warum Morales bei den Wahlen von 2019 nach 23-stündigem Unterbruch als Wahl­sieger dastand.

Andere Methoden jedoch können durchaus Hinweise auf Betrug geben.

Thurgau, 2020: Lokale Ausreisser

Ein eher zuverlässiges Indiz auf Betrug kann ein unerklärlich heraus­ragendes Ergebnis sein – ein lokaler Ausreisser. In Frauenfeld sass jüngst ein SVP-Grossrat für kurze Zeit auf einem der GLP gestohlenen Sitz, bis aufflog, dass ein Wahlhelfer Dutzende GLP-Wahlzettel der SVP zugeschlagen hatte.

Ein Strafverfahren läuft. Der Betrug wurde aufgedeckt, als die GLP über den lokalen Einbruch an Wähler­anteilen rätselte – im Rest­kanton hatte sie kräftig zugelegt. Dabei stach der Partei ins Auge, dass sich das Verhältnis zwischen den unverändert eingelegten Wahl­listen und den Listen, auf denen Namen durch Kumulierung oder Panaschierung ersetzt worden waren, merklich verändert hatte.

Normalerweise liegt dieses Verhältnis im Bereich von 1 bis 2. Das heisst, auf eine unveränderte Liste kommen 1 bis 2 Wahl­listen mit hand­schriftlichen Modifikationen. Bei der GLP schnellte dieser Wert in Frauenfeld auf 10 hoch, und zwar nur deshalb, weil die Zahl unveränderter Listen seltsamer­weise einbrach.

Faktor 10 statt 1

Verhältnis der veränderten zu den unverändert eingelegten Wahllisten

BDP
CVP
EDU
EVP
FDP
GLP
Grüne
Junge EVP
SP
SVP
201601,8 00,5 01,6 01,6 01,3 00,8 01,0 01,1 00,9 00,9 202002,0 00,3 02,4 01,9 010,5 00,8 00,8 01,1 01,2 00,8

Ergebnisse aus der Stadt Frauenfeld. Quelle: «Thurgauer Zeitung» vom 18. März 2020.

Solche lokalen Auffälligkeiten können tatsächlich auf Betrug hinweisen. Der Kanton St. Gallen prüft darum nach dieser Methode seit Jahren seine Abstimmungs­resultate. Er vergleicht mithilfe eines Prognose­modells allfällige Ausreisser vom kantons­weiten Trend. Dem Kanton geht es dabei in erster Linie um Übermittlungs­fehler, etwa verwechselte Ja- und Nein-Stimmen, während die Resultate von den Gemeinden übermittelt werden.

Manchmal bringen Wahlen polit­geografisch überraschende Resultate. Ein Beispiel dafür ist die Wahl in Serbien im Juni, bei der sowohl das nationale Parlament als auch lokale Parlamente neu gewählt wurden. Hier sorgte die Stadt Vranje für Aufregung. Gemäss Volkszählung wohnen dort vor allem ethnische Serbinnen und Roma sowie fünf ethnische Ungarn. Darum erschien es Wahl­beobachtern seltsam, dass im Städtchen 1265 Bürger für die nationale Liste Nummer 4 stimmten – die ungarische Minderheitspartei.

Deren Wählerinnen leben vor allem in der teilweise ungarisch­sprachigen Region Vojvodina. Ein lokaler Journalist begab sich auf die Spur der Stimmen und fand sie im Ortsteil Neradovac. Die Stimmen waren wohl gekauft, für 20 bis 50 Euro pro Stimme. Allerdings hatte sie nicht die Ungarn­partei in Auftrag geben. Vielmehr handelte es sich um ein Missverständnis: Die Verkäufer sollten die Liste 4 lediglich bei den Gemeinde­wahlen einlegen, wo sie für den lokalen Ableger der nationalen Regierungs­partei reserviert war. Die Wählerinnen setzten stattdessen auch bei den nationalen Wahlen auf die Liste 4 – und produzierten einen Ausreisser, der aufmerksamen Beobachtern auffiel.

Aserbaidschan, 2008: Benfordsches Gesetz

Ganz egal, ob es um den Saldo auf dem Bank­konto oder zurück­gelegte Weg­strecken geht: Viele natürliche Zahlen folgen einem Muster, das sich benfordsches Gesetz nennt. Sie beginnen nämlich etwas häufiger mit der Ziffer 1 als mit darauffolgenden Ziffern. Am seltensten steht eine 9 an erster Stelle.

Der Soziologe Andreas Diekmann von der ETH Zürich macht sich dies zunutze, um Umfrage­daten zu über­prüfen. Sobald Menschen Zahlen frei erfinden, verfehlen sie nämlich die Benford-Verteilung, und in grösseren Zahlen­mengen lässt sich diese Abweichung messen. Auf diese Weise identifiziert Diekmann Angaben, die Mitarbeiterinnen von Umfrage­instituten gefälscht statt tatsächlich abgefragt hatten.

Die Methode lässt sich auch auf Wahlen anwenden. Beispiel Baku, Aserbaidschan: Im Jahr 2008 wollte der amtierende Präsident Ilham Alijew sich als ehrlicher Demokrat inszenieren und Vertrauen schaffen. Darum liess er die Präsidenten­wahl in 624 von 4515 Wahllokalen über Webcams ins Internet übertragen. Praktiken wie das klassische ballot-box stuffing, also das Auffüllen der Wahl­urnen mit falschen Wahl­zetteln, sollten so schneller auffliegen. In den Wahlen erhielt Alijew schliesslich 89 Prozent der Stimmen.

Der New Yorker Wahl­forensiker Fredrik Sjoberg hat dieses Resultat jedoch als Farce entlarvt. Und zwar mittels Diekmanns Ziffern­methode. Sjoberg analysierte dabei Wahl­lokale mit und solche ohne Video­kamera getrennt:

  • In den unbeobachteten Wahl­lokalen fand er mit dem Benford-Test nichts Verdächtiges. Dort hatten die lokalen Wahl­helferinnen den ganzen Tag über Zugriff auf die Wahl­urne. Ballot-box stuffing, solange es in moderatem Mass passiert, hinter­lässt keine eindeutigen Spuren in der Statistik.

  • Demgegenüber waren den Wahl­helfern unter Video­beobachtung die Hände gebunden – sie mussten sich mit anderen Methoden behelfen. Der Benford-Zahlentest zeigte eine unnatürliche Zahlen­verteilung an. Mindestens ein Teil der von dort übermittelten Resultate war also nicht gezählt, sondern frei erfunden.

Mit anderen Worten: Alijews Helferinnen hatten ihren Betrug angesichts der Video­übertragung nicht eingestellt, sondern nur verlagert. Sie fälschten statt der Wahl­zettel in den Urnen jetzt die Wahlprotokolle.

Russland, 2011: Die gausssche Normverteilung

Ein weiteres mathematisches Gesetz, das beim Entdecken von Wahl­fälschungen helfen kann, ist die statistische Normal­verteilung, die auf den Mathematiker Carl Friedrich Gauss zurück­geht. Weichen Ergebnisse auf auffallende Weise davon ab, kann dies ein Hinweis auf Manipulation sein.

Ein Beispiel dafür waren die Parlaments­wahlen von 2011 in Russland, die Moskau grosse Proteste bescherten. Hier zeigte eine grafische Auswertung aus Zehn­tausenden von Wahl­lokalen, dass die Wähler­anteile von Wladimir Putins Partei «Einiges Russland» einem auffallenden Muster folgten.

Wie Stacheln ragten aus der gaussschen Normal­verteilung dabei Spitzen heraus – und zwar in 5-Prozent-Schritten: bei 65 Prozent, 70 Prozent, 75 Prozent, 80 Prozent, 85 Prozent, 90 Prozent, 95 Prozent und 100 Prozent. Auffällig viele Wahllokale hatten genau diese Wähler­anteile für die Partei «Einiges Russland» an die Zentrale nach Moskau gemeldet.

Peaks bei runden Zahlen

Stimmen für «Einiges Russland» an den Wahlen 2011

0 %50 %100 %Stimmenanteil im Wahlbüro0300’000600’000 Stimmen95%65%75%85%100%

Quelle: Dmitry Kobak

Resultate von 66 Prozent, 67 Prozent etc. waren in der Verteilung dagegen viel seltener. Die deutlichen Abweichungen von der natürlichen Verteilung brachten die drei Wissenschaftler Dmitry Kobak, Sergey Schpilkin und Maxim Pschenichnikow auf die Spur eines gross angelegten Wahlbetrugs.

Offensichtlich wurden den lokalen Wahl­leiterinnen Mindest­quoten an Partei­stimmen vorgegeben, die sie an die Wahl­kommission zurückzumelden hatten. Viel zu viele von ihnen haben die Ziel­werte punkt­genau erreicht. Ähnliche Muster zeigten sich auch im Verfassungsreferendum von 2020.

Trotz einer wachsenden Auswahl an Methoden und der zusätzlichen Hilfe von Computer­programmen wird aber immer gelten: Viele Formen des Wahl­betrugs lassen sich fast unmöglich mittels Mathematik nachweisen.

Fazit

Das gilt etwa für die klassischste Form des Wahl­betrugs – den gross­flächigen Stimmen­kauf. Parteien und Politikerinnen bezahlen marginalisierte, bildungs­ferne Bürger dafür, dass sie ihnen ihre Stimme geben.

Ein deutliches Indiz für Stimmen­kauf ist etwa, wenn Wahl­beobachterinnen auffällig unauffällige Menschen bemerken, die vor Wahl­lokalen patrouillieren. Natürlich liessen sich auch in solchen Fällen statistische Methoden einsetzen: Sie würden dann beispiels­weise aufzeigen, dass Bürger aus Armuts­vierteln sich in grossem Ausmass für eine bestimmte Partei oder eine bestimmte Politikerin aussprechen.

Doch daraus gleich einen Wähler­kauf abzuleiten, könnte zu Unrecht auch Parteien in Verruf bringen, die sich vielleicht tatsächlich um eine Verbesserung der Lebens­verhältnisse bemühen oder aus anderen Gründen Rückhalt geniessen und darum auf grosse Unter­stützung zählen können.

Die Statistik muss also stets auf der Hut sein. Vermeintliche Auffälligkeiten sind manchmal nur ein Spiegel der Wahlgeografie.

Zum Autor

Daniel Bochsler ist Politikwissenschaftler an der Central European University, der Universität Belgrad und am Zentrum für Demokratie Aarau. Er hat im Auftrag der «Venice Commission» des Europarats einen inter­disziplinären Bericht zur Wahl­forensik mitverfasst.

In einer ersten Version dieses Beitrags waren die Werte in der Grafik zum Kanton Thurgau fälschlicherweise als Prozentzahlen dargestellt. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

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