Die Immunität des Mario Fehr
Darf gegen den Zürcher Sicherheitsdirektor eine Strafuntersuchung geführt werden? Die Geschäftsleitung des Kantonsrats wischt die Frage vom Tisch. Ob das zulässig war, wird nun das Bundesgericht entscheiden.
Von Brigitte Hürlimann, 14.12.2020
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!
Es sind merkwürdige Vorgänge, die sich im bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz ereignen, und die Auffälligkeiten wollen kein Ende nehmen. Vergleichbares habe er während seiner langen Anwaltskarriere in der Schweiz noch nie erlebt, sagt Marcel Bosonnet. Das kenne er höchstens aus den Erzählungen türkischer Berufskollegen.
Bosonnet ist einer von zwei Anwälten, die Ende Mai eine Strafanzeige gegen Regierungsrat Mario Fehr und weitere Personen eingereicht haben; im Namen von zwei Organisationen und im Namen von sechs direkt Betroffenen. Auf gut siebzig Seiten legen die beiden renommierten Anwälte dar, warum sich unter anderem der Sicherheitsdirektor diverser Strafdelikte schuldig gemacht haben könnte – wegen Aussetzung, Nötigung, Körperverletzung, aber auch wegen Widerhandlungen gegen die Covid-19-Verordnung und gegen das Epidemiengesetz.
Bei den direkt Betroffenen handelt es sich um Frauen, Männer und Kinder. Um Bewohnerinnen von Rückkehrzentren im Kanton Zürich, um Menschen, die in die Schweiz geflohen waren, deren Asylgesuche jedoch abgelehnt wurden. Sie lebten schon vor der Pandemie in prekären Verhältnissen. Die Anzeigeerstatter machen geltend, es sei ihnen die Möglichkeit verwehrt worden, sich vor dem Coronavirus zu schützen. In der Strafanzeige ist die Rede davon, dass die vom Bund vorgegebenen Schutzkonzepte in den Rückkehrzentren nicht eingehalten wurden; konkret geht es um den Zeitraum von Ende Februar bis Anfang April.
Bis zu zehn Leute mussten damals in engen Räumen und auf Kajütenbetten übernachten. Distanz halten war unmöglich, es fehlte an Seifen, Desinfektionsmittel, Hygienemasken und -handschuhen, an Informationen und an Aufklärung. Risikopatienten wurden nicht adäquat versorgt, angesteckte Menschen von den anderen Bewohnerinnen nicht separiert. Man teilte sich Küchen, Toilette und Duschen. Und es herrschte ein Anwesenheitszwang.
Die dicke Anzeige ging also Ende Mai an die Zürcher Staatsanwaltschaft – und dann geschah monatelang nichts. Anfang Oktober doppelte Bosonnet mit einem Schreiben nach und berichtete neu von einer Covid-Masseninfektion im unterirdischen Rückkehrzentrum Urdorf. Ein weiteres Indiz dafür, dass es in den Unterkünften womöglich nicht mit rechten Dingen zu und her geht. Könnte man meinen.
Doch dann erfährt Rechtsanwalt Bosonnet am 11. November aus der Zeitung, dass die Immunität von Regierungsrat Mario Fehr nicht aufgehoben werden soll. Sprich: Dass es zu keinem Strafverfahren kommt – dass die Vorfälle und Zustände in den Rückkehrzentren nicht untersucht werden sollen.
Dazu muss man wissen, dass es im Kanton Zürich die Besonderheit des sogenannten Ermächtigungsverfahrens gibt, das ausser Zürich nur noch die Kantone St. Gallen und Appenzell Innerrhoden kennen. Es bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft erst dann gegen Beamtinnen und Magistraten untersuchen darf, wenn dies gerichtlich genehmigt wird. Bei Magistratspersonen ist es sogar das kantonale Parlament, das über die Aufhebung der Immunität befindet. Sinn und Zweck dieses vorgelagerten Verfahrens ist, zu verhindern, dass der Staatsbetrieb durch querulatorische Anzeigen lahmgelegt wird.
Doch die Strafanzeige gegen Mario Fehr kommt nicht einmal vors Parlament.
Es ist die Geschäftsleitung des Zürcher Kantonsrats, die Anfang November die Sache vom Tisch wischt. Per Mehrheitsentscheid beschliesst sie Nichteintreten – obwohl Mitglieder aus drei Parteien dafür votieren, die Frage einer allfälligen Aufhebung der Immunität dem Parlament beziehungsweise in einem ersten Schritt dessen Justizkommission zu übertragen.
Die Geschäftsleitung schaltet das Parlament aus und beruft sich dabei auf einen brandneuen Paragrafen (§ 132) im Kantonsratsgesetz: «Kommt die Oberstaatsanwaltschaft in ihrem Antrag zum Schluss, das angezeigte Verhalten erfülle keinen Straftatbestand, kann die Geschäftsleitung Nichteintreten beschliessen.» Auch dieser Paragraf hat die Funktion, den Ratsbetrieb vor offensichtlich querulatorischen Eingaben zu schützen.
Im Fall von Mario Fehr liegt allerdings eine siebzigseitige Klageschrift vor, gespickt mit Beweisofferten, verfasst von zwei erfahrenen Rechtsanwälten.
Offenbar stützt sich die Mehrheit der Geschäftsleitung einzig auf das Schreiben der Staatsanwaltschaft, die keine Hinweise auf die Verantwortlichkeit des Sicherheitsdirektors gefunden haben will. Rechtsanwalt Marcel Bosonnet kennt diese Eingabe der Staatsanwaltschaft nicht. Er hat vor Wochen schon Akteneinsicht verlangt, abwechselnd bei der Staatsanwaltschaft und beim Parlament, und bisher keine Aktenstücke erhalten. Im ganzen Verfahren, sagt Bosonnet, habe er stets vergeblich um Akteneinsicht gebeten. Bis heute kenne er beispielsweise auch das angeblich vorhandene Covid-Schutzkonzept für die Rückkehrzentren nicht.
Der Anwalt vermutet, dass die Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme bei Mario Fehr eingeholt hat, bevor sie ihr Ermächtigungsschreiben an die Geschäftsleitung des Kantonsrats abschickte – mit der Schlussfolgerung, es sei gegen den Regierungsrat nicht zu untersuchen. Auch diese Stellungnahme von Fehr kennt der Anwalt nicht. Er hätte jedoch zwingend die Möglichkeit erhalten müssen, darauf zu reagieren. Das sind die Spielregeln eines fairen Verfahrens.
Marcel Bosonnet hat den Nichteintretensentscheid der Geschäftsleitung vor Bundesgericht gezogen. Er verlangt vom höchsten Gericht, dass die Frage einer allfälligen Aufhebung der Immunität von Mario Fehr dem Parlament unterbreitet wird. Er macht zudem die Verletzung des rechtlichen Gehörs sowie die verweigerte Akteneinsicht geltend.
Und er sagt, der neue Paragraf im Kantonsratsgesetz, welcher der Geschäftsleitung diesen Handstreich überhaupt ermöglichte, verletze in mehrfacher Hinsicht die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention – weil er eine Untersuchung verhindert. Den Anzeigeerstattern wird es verwehrt, dass ihre Vorwürfe unter die Lupe genommen werden; was im Übrigen noch weit weg ist von einem Prozess, einem Schuld- oder Freispruch. Einziges Thema ist: Geht man der Sache nach? Wird untersucht?
Darüber oder zumindest über einen Zwischenschritt wird nun das Bundesgericht entscheiden.
Aus der Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich werden derweil folgende Medienmitteilungen verschickt – als Erfolgsmeldungen, wie es der Anschein macht:
3. Dezember 2020: «Umsetzung des geltenden Rechts – Rückschaffungen sind möglich.» Für den Kanton Zürich habe die Verlässlichkeit des Rechtsstaates höchste Priorität. Auch in anspruchsvollen Zeiten müsse das Ausländer- und Asylrecht korrekt und konsequent umgesetzt werden. Vier abgewiesene Asylsuchende aus Tunesien seien in ihre Heimatländer «zurückgeführt» worden. Mario Fehr gibt Auskunft.
9. Dezember 2020: «Rückschaffungen sind möglich.» Es sei ein Ziel des neuen Asylrechts, den Vollzug von abgewiesenen Personen raschmöglichst umzusetzen. Der Kanton Zürich komme diesem Vollzugsauftrag konsequent nach. Drei rechtskräftig abgewiesene Asylsuchende seien nach Georgien «zurückgeführt» worden. Mario Fehr gibt Auskunft.