
Die Rache des Pietro Supino
Das erstaunliche Schicksal eines Coninx-Neffen aus Italien, der fast ein unauffälliger Wirtschaftsanwalt geworden wäre und heute an der Spitze eines Schweizer Imperiums steht. Er boxte sich in einer Familie durch, die ihn erst verachtete und dann zum Garanten ihres Wohlstands und zum Verleger machte – dem mächtigsten im Land. Tamedia Papers, Kapitel 4.
Von Marc Guéniat (Text), Andreas Bredenfeld (Übersetzung) und Berto Martinez (Illustration), 12.12.2020
Es ist das Ende von Alexandre Dumas’ Roman. Endlich darf sich der Graf von Monte Christo, nachdem er gerächt ist und zu heiterer Gelassenheit findet, im Glanz von Ruhm und Reichtum sonnen. «Nur derjenige, welcher das äusserste Unglück empfunden hat, ist fähig, die höchste Glückseligkeit zu empfinden», ruft er aus.
In diesem Ausruf eines zu Unrecht von der Gesellschaft Ausgestossenen könnte Pietro Supino sich selbst wiedererkennen. Denn in privater Runde erzählt er gern, wie er als Italiener unter der Herablassung des Zürcher Grossbürgertums zu leiden hatte.
Mit 55 Jahren ist Pietro Supino, verheiratet und Vater zweier Kinder, ein gemachter Mann. Seit dreizehn Jahren ist er Präsident der Tamedia, die im Januar 2020 zur TX Group wurde. Seit mehr als einem halben Leben sitzt er im Verwaltungsrat des coninxschen Familienunternehmens. Seinen Einstand hatte er dort 1991 als Vertreter seiner Mutter Rena Maya Coninx Supino, der Tochter von Werner Coninx, dem Bruder des Patriarchen Otto.
Zur Serie: Tamedia Papers – eine Familie, Geld, Macht und Medien
Wem gehört die Zeitung, die Sie morgens zum Kaffee lesen? Das Onlineportal, das Sie in der Mittagspause anklicken? Die Geschichte einer reichen und mächtigen Verlegerfamilie. Und was sie mit ihren Medien macht. Zum Auftakt der Serie.
Pietro Supinos Weg dorthin war alles andere als leicht. Es wäre geradezu kühn gewesen, ihm ein so erlauchtes Schicksal vorherzusagen.
Die Zürcher Schulkinder, die 1971 den jungen Pietro in ihre Klasse eintreten sahen, würden dies wohl bestätigen. Sicher hätten sie nicht geahnt, dass ihr Schulkollege eines Tages zum Herrscher über die Schweizer Medienwelt aufsteigen würde. Es war die Zeit, als die Schwarzenbach-Initiative der fremdenfeindlichen Einstellung gegenüber den Italienern Auftrieb gab, die scharenweise in die Schweiz kamen, um hier am Wohlstand der dreissig goldenen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mitzubauen.
Im familiären Abseits
1971 war das Jahr, in dem Pietro Supinos Mutter mitsamt Sohn und Tochter der Hauptstadt der Lombardei den Rücken kehrte. Kurz zuvor hatte sie sich von ihrem Ehemann Ugo Supino getrennt. Als sie den deutlich älteren Mann ehelichte und am 10. November 1965 Pietro in Mailand zur Welt brachte, war sie noch keine zwanzig gewesen. Über den Geschäftsmann Ugo Supino ist wenig bekannt – nur dass er für den Reifenhersteller Pirelli und die Automobilfirma Alfa Romeo gearbeitet hat und im Zweiten Weltkrieg wegen seiner Aktivitäten im Widerstand in der Schweiz im Gefängnis sass.
Wie es scheint, hatte Pietro in der Folge nur wenig Kontakt zu seinem Vater und sah ihn nur, wenn er während seiner Schulzeit in Bündner Internaten die Ferien in Rom verbrachte.
Rena Maya kam also Anfang der 1970er-Jahre als junge Alleinerziehende nach Zürich zurück, wo sie und ihre Kinder viel einstecken mussten. In der Familie Coninx, die bei aller Kunstbegeisterung vom Stolz auf ihre Zürcher Wurzeln und ihren Konservatismus erfüllt war, genoss Pietro Supino kein hohes Ansehen und wurde mit Spitznamen bedacht, die auf seine geringe Körpergrösse und seine Herkunft Bezug nahmen.
Beobachter berichten – aus psychologischer Laiensicht – von einer Kindheit im familiären Abseits, das bei ihm ein grosses Bedürfnis nach Anerkennung habe entstehen lassen, und sie sprechen von tiefgreifenden Nachwirkungen dieser narzisstischen Urverletzung. Diese Verletzung habe allerdings auch Pietro Supinos Ehrgeiz angestachelt und ihm die Rolle eines Aussenseiters zugewiesen, der sich am Rande hielt und dort weiterentwickelte, um schliesslich gestärkt daraus hervorzugehen und die Welt in Erstaunen zu versetzen.
Wie der Graf von Monte Christo verlegte Pietro Supino sich aufs Warten und Hoffen. «Er nahm Revanche, indem er plötzlich als der aufgeklärte Herrscher über die Schweizer Presse in Erscheinung trat», vermutet Eric Hoesli, der in seinen verschiedenen leitenden Funktionen bei Medien von Tamedia oft mit ihm zu tun hatte.
Die Mutter, das «Torpedoboot»
Dieser im Abseits verlaufende Werdegang weist so manche Parallele zum Lebensweg der eigenen Mutter auf. Rena Maya Coninx Supino war ein Kind aus zweiter Ehe und wuchs fernab der Familie auf – im Engadin, erinnert sich Margrit Sprecher, «Grande Dame» des Schweizer Journalismus und enge Freundin von Madame Coninx Supino.
Obwohl Rena Maya Coninx Supino 18 Prozent der Aktien des Familienunternehmens hielt (heute sind es noch 12,95 Prozent), verweigerten die Coninx ihr in den 1980er-Jahren einstimmig einen Sitz im Verwaltungsrat.
Auch ihr Halbbruder Severin, der ebenso viele Anteile besass und im Unterschied zu ihr sehr wohl im Verwaltungsrat sass, war ihr nicht freundlich gesinnt. Sie war ein Störfaktor. Sie wurde als lebhaft und intelligent beschrieben und stellte kritische Fragen, die ihr vom damaligen Generaldirektor Heinrich Hächler den wenig schmeichelhaften Spitznamen «Torpedoboot» eintrugen.
«Rena Coninx Supino war mit vielen Entscheidungen, die der Verwaltungsrat und Heinrich Hächler trafen, nicht einverstanden», erinnert sich Werner Catrina, einer der Autoren des Buches «Medien zwischen Geld und Geist» zum 100. Jubiläum des «Tages-Anzeigers» 1993. Das war auch der Grund, warum sie sich erst nach langem Zögern zu einem Gespräch für das Buch bereit erklärte; ihr bescheidener Beitrag ist von Zurückhaltung geprägt.
Trotz alledem kam es für Pietro Supino schliesslich zum Ritterschlag – und zwar nicht zufällig durch jemanden, der nicht zur Familie gehörte, der jedoch einen entscheidenden Einfluss auf seine Karriere haben sollte: Charles von Graffenried (1925–2012).
Die Hilfe des Berner Patriarchen
Der Berner stand der Familie Coninx in mehrfacher Hinsicht sehr nahe. Als Rechtsanwalt und Chef einer der einflussreichsten Kanzleien in der Hauptstadt beriet er sie bei ihrer Vermögensverwaltung und insbesondere in Erbschaftsfragen. Er schlichtete Familienstreitigkeiten, und einer seiner Kanzleipartner verwaltete die Stiftungen, die einige Mitglieder der Familie Coninx in Liechtenstein gegründet hatten, um die Dividenden auf ihre Aktien anzulegen.
Zugleich war Charles von Graffenried Verleger der «Berner Zeitung» und schmiedete in dieser Funktion eine Allianz, die ihm 1991 – zeitgleich mit Pietro Supino – den Weg in den Verwaltungsrat des Zürcher TA-Konzerns eröffnete.
«Charles von Graffenried redete mit den Coninx», erzählt uns ein Mitglied der Familie. «Er drängte sie, den als illegitimes Kind betrachteten Pietro Supino zu akzeptieren.» So sieht es auch Margrit Sprecher: «Er hatte schlechte Startbedingungen, aber dank der Protektion durch von Graffenried machte er seinen Weg. Pietro Supino seinerseits begegnete der Berner Patriarchengestalt mit Ehrerbietung. Und beide hatten dasselbe Ziel: Sie wollten die Medien in der Deutschschweiz vereinen.»
Margrit Sprecher brachte in einem Porträt des Berners, das 2010 und somit drei Jahre nach Supinos Aufstieg zum Tamedia-Präsidenten veröffentlicht wurde, das Verhältnis der beiden so auf den Punkt: «Jetzt steht mit dem Präsidenten und Coninx-Enkel Pietro Supino ein vierzig Jahre jüngerer Mann an der Spitze des Konzerns, mit dem ihn herzliche Freundschaft, ja fast ein Vater-Sohn-Verhältnis, verbindet.»
Charles von Graffenried, der als hoher Militär in der Schweizer Armee gedient hatte, führte seine Geschäfte nüchtern wie ein Schlachtenlenker, so berichtet es ein Mitglied seiner Familie. Daran mag Pietro Supino sich ein Beispiel genommen haben, wenn er in seiner Laufbahn Fusionen und Übernahmen aus rein finanziellen Erwägungen in die Wege leitete. Er zögerte nicht lange, wenn es darum ging, Entscheidungen zum Vorteil seines Konzerns zu treffen, auch wenn sie eine Schwächung der Schweizer Presse bedeuteten.
Kurt W. Zimmermann, Medienchronist der «Weltwoche» und lange in wichtigen Funktionen für Tamedia tätig, formuliert es so: «Beide haben dieselbe profitorientierte Mentalität. Charles von Graffenried hat niemals akzeptiert, dass eine Zeitung nur die bescheidene Profitabilität eines gewöhnlichen Unternehmens erreicht.» An dieser Einstellung orientierte sich Supino, als er 2013 von jedem einzelnen seiner Pressetitel eine operative Gewinnmarge von 15 Prozent forderte.
Michel Favre, in den 1990er-Jahren CEO des Tamedia-Konzerns, erinnert sich an Pietro Supinos erste Gehversuche im Verwaltungsrat: «Er war sehr jung, als er anfing. Er gab sich aggressiv. Das war normal: Er war von seinen Onkeln umringt und musste sich einen Platz erkämpfen.»
«In Supino we trust»
Favre war es auch, der den künftigen Verlagschef in das Räderwerk des TA-Unternehmens einweihte. «Ich stellte fest, dass die Familie das Metier schlecht beherrschte – vor allem die junge Generation, die wie Pietro Supino und Claudia Coninx eine wichtige Rolle übernehmen sollte», sagt Favre. «Einmal im Jahr lud ich sie zu zwei Tagesschichten und einer Nachtschicht ein. Für 100 Franken pro Tag wurden sie zu Konzernangestellten: als Redakteur, Anzeigenverkäufer, Drucker usw.»
Zu jener Zeit galt Pietro Supinos Interesse allerdings in erster Linie seinem Jura- und Wirtschaftsstudium in London und in St. Gallen, wo er 1994 mit einer Doktorarbeit über die «Rechtsgestaltung mit Trust aus Schweizer Sicht» promovierte. Die Doktorarbeit war ein Plädoyer für eine legitime Nutzung des angelsächsischen Trusts, den es damals in der Schweizer Rechtsordnung nicht gab.
Der junge Jurist konnte damals noch nicht ahnen, dass der später von ihm geleitete Konzern an den gross angelegten Aufdeckungsarbeiten des Internationalen Netzwerks investigativer Journalisten (ICIJ) mitwirken würde, die mit Aktionen wie «Swiss Leaks» oder den «Panama Papers» die Steuerparadiese (und ihre Trusts) an den Pranger stellen sollten.
Sehr viel später verpasste die WOZ einem investigativen Artikel über Pietro Supino und die Familie Coninx den süffisanten Titel «In Supino we trust».
Nach seiner Promotion heuerte er als Consultant bei der renommierten Unternehmensberatung McKinsey an. Im Anschluss arbeitete er zwei Jahre als Wirtschaftsanwalt für Bär & Karrer, eine der wichtigsten Schweizer Kanzleien für Steuerangelegenheiten, Fusionen, Übernahmen und Wirtschaftskriminalität. 1998 gründet er seine eigene Kanzlei Limburg & Supino sowie ein Family-Office namens Private Client Partners AG, aus dem er sich 2007 zurückzog, als er die Leitung des Tamedia-Konzerns übernahm.
Verleger Nr. 4: Pietro Supino, der Geldvermehrer
Im Laufe der 1990er-Jahre profilierte Pietro Supino sich im Verwaltungsrat nach und nach als starker Mann der fünften Coninx-Generation.
«Es stimmt, dass er zu Beginn kaum akzeptiert wurde. Doch im Jahr 2000 legte die Familie den Börsengang – bis heute eines der grössten Projekte der Konzerngeschichte – vertrauensvoll in seine Hände», sagt Kurt W. Zimmermann. Die durch diesen Schritt bewirkte erhebliche Mehrung ihres Reichtums dankte die Familie Coninx ihm zwei Jahre später mit der Ernennung zum Vizepräsidenten.
Supino indes hatte den Spitzenposten im Visier. Vielleicht seit eh und je.
Um dieses Ziel zu erreichen, besuchte er sechs Monate die Columbia Journalism School in New York und studierte dort Journalismus, seine «Leidenschaft». Die Krönung folgte 2007: Pietro Supino wurde Präsident des Tamedia-Verwaltungsrates, mit Vollzeitvergütung und dem Nimbus des Titels «Verleger».
Zu diesem Zeitpunkt sass auf dem CEO-Posten noch der Deutsche Martin Kall, eine starke Persönlichkeit, deren Strategie sich in vier Worten zusammenfassen lässt: Dominanz der Schweizer Presselandschaft. Eine Strategie nach dem Geschmack des neuen Präsidenten, der jetzt erleben durfte, wie sein Imperium immer weiterwuchs, besonders als 2011 die Edipresse Suisse mit ihren Westschweizer Titeln integriert wurde.
Pietro Supino musste dem Konzern allerdings erst noch seinen Stempel aufdrücken. Die Gelegenheit dazu ergab sich Ende des darauffolgenden Jahres, als Martin Kall den CEO-Posten räumte (und in den Verwaltungsrat wechselte). Pietro Supino machte Christoph Tonini zu Kalls Nachfolger. Das hatte durchaus eine schicksalhafte Komponente: Die Stabübergabe wurde in dem Jahr vollzogen, in dem Charles von Graffenried verstarb. Beim Beerdigungsgottesdienst im Juli 2012 im Berner Münster hielt Pietro Supino eine Trauerrede. Fühlte er sich damals gerüstet, allein zu regieren – ohne seinen Mentor? Und welcher Regierungsstil schwebte ihm vor?
Erfolg und Geld, egal womit
«Pietro Supino hat sein Metier erstaunlich schnell gelernt», sagt der Kommunikationsberater Iwan Rickenbacher, der von 1996 bis 2018 dem Tamedia-Verwaltungsrat angehörte. «Er besitzt die Fähigkeit, gedanklich neue Wege zu gehen und über den Tellerrand zu schauen.» Alle Gesprächspartner, die wir befragt haben, halten ihn für einen brillanten Kopf. «Er hat mit den Jahren sehr an Format gewonnen», sagt auch Eric Hoesli, der ehemalige publizistische Direktor aller Edipresse-Titel.
Von diesem Zeitpunkt an sorgte Pietro Supino mit weiteren Übernahmen für einen Entwicklungsschub. Tamedia, so die Marschrichtung, sollte ein auf die digitalen Technologien ausgerichteter Konzern werden. Da die Operationen sich als gewinnträchtig erwiesen, genoss er weiterhin das Vertrauen der Familie Coninx, ohne das nach wie vor nichts ging.
«Er muss eine ganze Familie versorgen. Ob er das Geld dafür mit Presseprodukten oder Onlinewerbung erwirtschaftet, spielt keine Rolle. Er ist zum Erfolg verdammt», sagt Hansi Voigt, der früher Chefredaktor von «20 Minuten» war und heute als Herausgeber für das neue Basler Onlinemedium «Bajour» tätig ist. Dass auf Supino ein hoher Erfolgsdruck laste, hörten wir von vielen, die wir für diese Artikelserie befragt haben.
Pietro Supino sei «immer ausgesucht freundlich, höflich und leutselig», sagt Matthias Aebischer, der ihn bei den Debatten über die Medienförderung des Bundes aus der Nähe erlebte. Zugleich fügt der SP-Nationalrat und frühere SRF-Moderator hinzu: «Er will Geld machen, und das gelingt ihm sehr gut.»
Einige seiner Bekannten vergleichen ihn mit Adrian, der Hauptfigur im Roman «Der letzte Weynfeldt» des Zürcher Schriftstellers Martin Suter: «Adrian war das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein, dermassen in Fleisch und Blut übergegangen, dass er mit übertriebener Höflichkeit jeden Verdacht der Überheblichkeit von vornherein zerstreuen wollte.»
Wenn er seine Journalismusphilosophie darlegt, zitiert Pietro Supino gern den britischen Verleger Lord Northcliffe (1865–1922), den Gründer von «Daily Mail» und «Daily Mirror»: «Information ist etwas, was irgendjemand nicht gedruckt sehen möchte; alles andere ist Werbung.» Mitunter setzt er noch hinzu, er habe «das vornehme Privileg, die Journalisten zu unterstützen».
Lord Northcliffes unternehmerische Praktiken erwähnt Supino hingegen nie. Sie bestanden darin, in Schwierigkeiten geratene Titel aufzukaufen und wieder auf die Beine zu bringen. In weiteren Kapiteln dieser Serie werden wir sehen, dass Supinos Entscheidungen die Presse tendenziell eher geschwächt und dazu geführt haben, dass der Konzern sich von seinem Kerngeschäft entfernt.
Positiv ist ihm anzurechnen, dass die befragten – zumeist Westschweizer – Chefredaktoren zu Protokoll gaben, der Verlagschef mische sich inhaltlich kaum in das ein, was seine Redaktionen produzieren; auch wissen sie seine Unterstützung in juristischen Auseinandersetzungen zu schätzen. Zu Polemik und Zensurvorwürfen kommt es, wenn seine Redaktionen sich mit den Tamedia-Konkurrenten beschäftigen.
Der Romantiker
Pietro Supino schätzt und fördert besonders den Datenjournalismus und hat ein zweisprachiges Investigativteam gegründet, das seinen Medientiteln bereits mehrere Scoops geliefert hat. Seine Rentabilitätsversessenheit sorgt allerdings dafür, dass in den Redaktionen die Angst vor Einschnitten und Umstrukturierungen umgeht.
«Er findet beschwichtigende Worte, wenn es um die Qualität der Presse geht, und hat sogar ein Weissbuch des Journalismus geschrieben», sagt Mark Dittli, ehemaliger Chefredaktor des Tamedia-Titels «Finanz und Wirtschaft». «Doch wenn er sich zwischen Dividende und Presse entscheiden muss, zögert er keine Sekunde.»
Dieser Meinung ist auch Pierre Ruetschi, bis 2018 Chefredaktor der «Tribune de Genève»: «Supino hat eine sehr romantische Vorstellung von Journalismus. Er ist zu Recht stolz auf seine Kurse an der Columbia University. Jeden Sommer schickt er einige der besten Journalistinnen und Journalisten aus dem Konzern dorthin. Gleichzeitig aber schwächt er seine Medientitel, indem er sie eindampft und ihre redaktionelle Leistungsfähigkeit erbarmungslos beschneidet.»
Eines jedoch gibt es, was Pietro Supino nicht auf dem Altar des Profits opfern würde: das Prestige, das ihm seine Eigenschaft als Verleger verleiht. «Supino liebt es, sich in der Welt der Verleger zu bewegen», sagt ein Chefredaktor. Und spöttelt: «Das ist ja auch allemal besser, als mit einem Online-Gebrauchtwagenhändler in einen Topf geworfen zu werden, oder?»
Der Präsident des Verwaltungsrates der TX Group, der inzwischen de facto auch ihr CEO ist, nimmt an den Bilderberg-Treffen teil – sozusagen eine selektivere Variante des Davoser Weltwirtschaftsforums. Dort verkehrt Supino mit dem früheren US-Aussenminister Henry Kissinger, Ex-CS-Chef Tidjane Thiam oder dem französischen Wirtschaftsminister Bruno Le Maire. Ausserdem gehört er dem «Board of Visitors» der Columbia Journalism School und dem Verwaltungsrat der Italienischen Handelskammer für die Schweiz an.
2015 verlieh Ernst & Young ihm die Auszeichnung «Entrepreneur of the Year» in der Kategorie «Family Business». Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hob die Neuausrichtung des Konzerns positiv hervor, der auf die Presse setze und sich zugleich diversifiziere, und lobte seine «weit über dem Branchendurchschnitt liegende Ertragskraft». Im Jahr darauf machte sich Tamedia an den personellen Kahlschlag in seinen Redaktionen.
Hans-Peter Rohner – Ex-Präsident der Publigroupe AG, die lange Zeit als Nummer eins der Schweizer Werbewirtschaft rangierte – stuft Pietro Supino als «kalten Analytiker» ein. Inzwischen investiere er privat in digitale Start-ups. «Ich meine das nicht abwertend», so Rohner weiter. «Das beweist einen hellsichtigen Blick. Von allen Verlegern, die ich kennengelernt habe, ist er mit Abstand der cleverste. Intern nennen wir ihn ‹the smiling knife› (das lächelnde Messer).» Wie es zu diesem Spitznamen kam, werden wir in einer der folgenden Episoden dieser Serie noch erfahren.
Mark Dittli pflichtet Rohner bei und spricht noch eine weitere Facette an: «Er hat auch eine emotionale Seite, die ihn beherrscht.» Und die ihn mitunter zu fast schon kleinlichen Entscheidungen verleitet, obwohl er unangefochten die Schweizer Medienlandschaft beherrscht. Ein Beispiel lieferte er 2016 – zwei Jahre bevor der «Tages-Anzeiger» sein 125-Jahr-Jubiläum feierte.
Übermannt vom Instinkt
Wie in jedem Frühjahr verschickte Charles’ Sohn Michael von Graffenried auch 2016 an die Medien im Land eine Anzeige, in der die Nominierten für die Swiss Press Awards bekannt gegeben wurden, die die Stiftung Reinhardt von Graffenried vergibt. Die Familie Reinhardt hält 3,94 Prozent der Tamedia-Aktien. Mit den Preisen werden Journalistinnen und Fotografen ausgezeichnet, die sich in verschiedenen Medien und journalistischen Genres besonders verdient gemacht haben.
Zur allgemeinen Verwunderung verlangte Tamedia, dass die Kategorien Fernsehen und Radio aus der Anzeige entfernt werden, die alle Zeitungen des Konzerns traditionell alle zeitgleich veröffentlichen. Das Branchenportal «Medienwoche» vermutete als Grund, dass Tamedia keine audiovisuellen Inhalte produziere. «Das ist bei Pietro Supino etwas Instinktives, das ihn übermannt», folgert ein Beobachter im Gespräch mit Republik und «Heidi News». «Er kann sich nicht damit abfinden, dass die SRG so stark vertreten ist – was in den Kategorien Rundfunk und TV doch ganz normal ist. Sein Standpunkt ist ganz einfach: Ich besitze 50 Prozent der Schweizer Presse – also stehen mir 50 Prozent der Nominierten zu.»
2020 ging der Schweizer Pressezar noch einen Schritt weiter: Er lehnte ab, dass die Anzeige der Swiss Press Awards überhaupt irgendwo auf den Seiten seiner Medien erscheint, obwohl mehrere für den Konzern tätige Journalistinnen nominiert waren. Offenbar waren es nicht genug.
Vielleicht war für Pietro Supino, der sagte, er wolle unsere Fragen erst nach der Veröffentlichung unserer Serie beantworten, damals auch anderes wichtiger. Zeitgleich wurde er nämlich Mitglied im Verwaltungsrat des führenden italienischen Pressekonzerns Gruppo Editoriale. Damit machte er kurzerhand einen früheren Schwachpunkt – den Umstand, in Mailand geboren worden zu sein – zum Pluspunkt. Und befriedigte damit sein Prestigebedürfnis.
Max Frisch, der mit Pietro Supinos Grossvater befreundet war, hat einmal gesagt, die italienischen Einwanderer hätten sich als Männer und Frauen erwiesen, die eine Verbindung zwischen hier und dort, zwischen ihrem Aufnahmeland und ihrem Heimatland, stiften könnten.
Dies hier ist die Geschichte einer Revanche. Pietro Supino dürfte die höchste Glückseligkeit eines Rächers verspürt haben.