Auf der Suche nach der Revolution
Ihre Grosseltern schwärmten von sozialistischen Ländern. Die Künstlerin Julia Mensch kombiniert deren Erinnerungen mit eigenen Aufnahmen. Findet sie damit die Utopie, an die ihre Vorfahren glaubten?
Von Vicky Kiefer (Text) und Julia Mensch (Bilder), 12.12.2020
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Den ersten Kontakt mit der sozialistischen Welt hatte die Künstlerin Julia Mensch durch den Diabetrachter ihres Grossvaters Rafael. Der Druckereiarbeiter reiste 1973 als Mitglied der kommunistischen Partei Argentiniens durch sozialistische Länder Europas und die Sowjetunion. Von dieser Reise brachte er Alltagsbilder und den Diabetrachter heim.
Auch Menschs Grossmutter Isabel war Kommunistin. 1961 reiste sie mit einer Delegation nach Kuba, wie ein euphorischer Brief an Rafael zeigt. Darin schildert sie ihre Bereitschaft, wenn nötig zu bleiben, um ihre Ideale und Kuba zu verteidigen.
Jahrzehnte später kehrt Julia Mensch, die 1980 während der Militärdiktatur in Buenos Aires geboren wurde, zu den Ansichten ihrer politisch engagierten Grosseltern zurück. Und damit auch zu deren Traum von der Revolution.
Die Künstlerin arbeitet mit dem Archivmaterial – Fotografien, Postkarten, Briefen, Souvenirs – und den Erzählungen der Grosseltern an ihrem Langzeitprojekt «La vida en rojo» («Das Leben in Rot», 2008 bis heute). Darin spürt sie der persönlichen Familienbiografie nach und macht deren Verwobenheit mit der globalen Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert sichtbar.
Mensch reinszeniert Bilder von Rafael, indem sie sich selbst an seine Stelle setzt. Dafür reiste sie an die Orte, darunter Berlin oder Salashi (heute Ukraine, früher Polen), wo Rafaels jüdische Familie zu Hause war, bevor sie nach Argentinien auswanderte. Stets mit dabei: ihre Zenit-Kamera, und zwar das gleiche Modell, das schon ihr Grossvater benutzt hatte. Wenn es nicht die gewandelte Architektur oder die fehlenden Denkmäler sind, dann ist es die Patina, die den sichtbarsten Unterschied zwischen den Aufnahmen von einst und jetzt ausmacht.
In ihrer Arbeit «Balada tropical» (2019) wiederum erkundet Mensch vor Ort das Bild Kubas, das Isabel in ihrem Brief zeichnete – eine kritische und hoffnungsvolle Auseinandersetzung mit dem versprochenen sozialistischen Paradies.
Julia Mensch verknüpft in ihrer Suche persönliches und politisches durch vorgefundenes und neues Bildmaterial und fragt damit: «Was ist besser oder schlimmer – im realen Sozialismus aufzuwachsen und die Brüche in ihm zu sehen, oder im Kapitalismus aufzuwachsen und sich dabei die Vollkommenheit eines utopischen Sozialismus vorzustellen?»
Sie benennt die patriarchalen Systemfehler, kritisiert die Unsichtbarmachung revolutionärer Frauen wie Celia Sánchez oder Haydée Santamaría und entwickelt feministische und queere Zukunftsperspektiven in einer vom Rechtsextremismus bedrohten Gegenwart. Ihre Arbeiten werfen Fragen auf nach Hierarchien des Erinnerns und Vergessens und nach der Lesbarkeit von Bildern. Aber auch nach dem Verbleib und der Zukunft der Utopie, an der ihre Grosseltern festhielten – trotz der Enttäuschung, sie selbst nie zu erleben.