«In dieser Stadt fehlt ein bisschen der Teufel»: Clarice Lispector über Bern, wo sie einige Zeit lebte (August 1969). Maureen Bisilliat/lnstituto Moreira Salles

Sie schrieb einfach

Meisterin der Dunkelheit, Inbegriff der Coolness. Zu Lebzeiten war Clarice Lispector eine Aussenseiterin, heute wird sie frenetisch verehrt. Im Jahr ihres 100. Geburtstages gehört die brasilianische Autorin endlich in den Olymp der Weltliteratur.

Von Jan Wilm, 10.12.2020

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Vor hundert Jahren, am 10. Dezember 1920, wurde die bedeutendste brasilianische Schrift­stellerin geboren – in der Ukraine.

Im kleinen Dorf Tschetschelnik in der damaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjet­republik lebte das Mädchen mit dem Namen Chaja nur etwa ein Jahr, bevor ihre jüdische Familie aufgrund wieder­kehrender Pogrome nach Brasilien auswanderte und sich in neue Namen kleidete. Aus der kleinen Chaja wurde Clarice und aus der kleinen Clarice bald die grosse Autorin, die von dem Maler Giorgio de Chirico porträtiert wurde und von der die Dichterin Elizabeth Bishop meinte, sie schreibe «besser als Jorge Luis Borges».

Später erwähnte Lispector mit der ihr eigenen Abgebrühtheit, sie habe nie einen Fuss auf russischen Boden gesetzt – als Kleinkind habe man sie ja immer getragen. Wie ihr Biograf Benjamin Moser schreibt, fabulierte sie mitunter sogar, die Familie sei ausgewandert, als sie «erst zwei Monate alt» war.

Warum das sanfte Ausschmücken der eigenen Frühzeit und Herkunft?

Die Beweggründe sind vielgestaltig. Sie rühren auch an Lispectors radikale Betrachtung des Lebens und der Wirklichkeit als formbares Material sowie an ihre unverbesserliche Erfindungs­freude, selbst bei der eigenen Biografie.

In der rückwärtigen Verkürzung der ukrainischen Zeit schwingt jedoch vor allem Lispectors Selbst­mythologisierung als Brasilianerin mit. In Brasilien nämlich galt sie zeit­lebens als Aussen­seiterin, auch weil sie durch ihren Ehemann – einen brasilianischen Diplomaten – über lange Zeit im Ausland lebte. In Washington etwa – und in Bern, wo sie Heimweh nach Brasilien hatte, doch beharrlich an ihrem Roman «Die belagerte Stadt» (1949) schrieb. Und über ihr helvetisches Domizil festhielt: «In dieser Stadt fehlt ein bisschen der Teufel.»

Ob in der Schweiz oder in ihrem brasilianischen Zuhause: Bis zu ihrem frühen Tod am 9. Dezember 1977 wurde sie häufig als Ausländerin angesehen – und nicht selten abgelehnt.

Literarisch kommt ihr in einem ganz anderen Sinn tatsächlich eine Sonder­stellung zu: Alles, was sie schrieb, verhexte sie mit unbändiger Fabulier­lust und würzte es mit mystischen und meta­physischen Gedanken. Ihre Handlungs­stränge verdrehte sie ins Surrealistische und verflocht sie zu ebenso rasanten wie nachdenklichen Erzählungen und Romanen.

Die grosse Lispector mit ihrem Mann Maury Gurgel Valente. Nao identificade/Acervo Clarice Lispector/lnstituto Moreira Salles
Die kleine Clarice im Jahr 1934. Nao identificade/Acervo Clarice Lispector/lnstituto Moreira Salles

Doch bedeutete die literatur­betriebliche Rand­position für Lispector immer auch Enttäuschungen. Fast mit jedem neuen Buch war die grosse Autorin auf Verlags­suche. Acht ihrer neun Romane erschienen in unterschiedlichen Häusern, viele ihrer Erzählungen entstanden nur aus finanzieller Not. Dennoch ermöglichte ihr das Outsidertum die grösstmögliche künstlerische Freiheit und machte sie zu einer der ästhetisch mutigsten und heute meist­geschätzten Schreibenden ihres Landes.

Kaum möglich, dies zu überspitzen: Um die grosse Lispector herrscht in Brasilien heute ein Starkult, der mitunter religiöse oder sektenhafte Züge trägt.

Die Solitärin Clarice

Als Lispector am 9. Dezember 1977, einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag, in Rio de Janeiro verstarb, war sie eine landes­weit bekannte Diva, und ihr inter­nationales Ansehen ist seit ihrem frühen Krebstod (nach langen Leidens­jahren infolge eines Unfalls) unablässig gestiegen. Ihr Biograf Benjamin Moser schreibt: «Im heutigen Brasilien schmückt ihr eindrucks­volles Gesicht Brief­marken. Ihr Name verleiht Luxus­appartements einen besonderen Glanz. Ihre Werke, die zu ihren Lebzeiten häufig als undurchsichtig oder unverständlich abgetan wurden, werden in U-Bahn-Stationen am Automaten verkauft.»

Seit ihrem Tod ist klar, dass es – mit Ausnahme des modernen Weg­bereiters Machado de Assis – beinahe Lispectors alleiniges Verdienst war, den literarischen Modernismus in Brasilien zu verwurzeln. Sie war es, die Brasiliens National­literatur von einer provinziellen Nabel­schau befreite – nicht indem sie von aussen auf Brasilien linste, sondern indem sie ihre Literatur den universellen menschlichen Elementar­themen widmete. Lispector saugte alle Welt nach innen, filterte scheinbar die gesamte Menschen­existenz durch ihre eigen­sinnige Sprache. Und entdeckte so Wahrheiten über Wesen und Wirren des Daseins, die nur in den grössten Werken der modernistischen Literatur ihres­gleichen haben: bei Franz Kafka, Virginia Woolf, James Joyce, Gertrude Stein.

Einige von Lispectors bedeutendsten Werken sind so köstlich seltsam, dass sie auch im deutsch­sprachigen Raum von Verlag zu Verlag gereicht wurde und lange zu Unrecht als komplizierte Autorin galt.

Pünktlich zum 100. Geburtstag ist nun, unter dem Titel «Aber es wird regnen», die zweite Hälfte ihrer gesammelten Erzählungen auf Deutsch erschienen, und man darf hoffen, dass mit den vitalen Übersetzungen von Luis Ruby auch hierzulande endgültig erkannt wird, welche Wucht ihre Prosa besitzt. Lispector schildert Figuren, die kein ereignis­reiches Leben besitzen, würdigt sie aber dennoch – oder gerade deshalb – mit einer schimmernden Innen­sicht. Das macht die Autorin zu einer Sprecherin aller Entwürdigten, aller an den Rand Gedrückten und Gedrängten.

Und dennoch: Jeder Versuch, die Faszination ihrer Literatur auf eine einfache Formel zu bringen, muss scheitern. Lispector ist ein stilistisches Chamäleon, ihre Geschichten sind ein flimmernd febriles Sammel­werk. Es scheint, als wolle Lispector in ihren Erzählungen hemmungslos alle gängigen Schreib­verfahren ausweiden.

«Bericht vom Ding» etwa ist eine halluzinatorische Fantasie, in der ein unbeseelter Wecker der Marke Sveglia für nichts weniger steht als die Zeit an sich. In der Logik dieser Erzählung heisst das auch: Der Wecker ist Statt­halter für alles Glück und alles Verfliessen der Welt. Und so heisst es zum Abschluss lakonisch:

Sterben ist Sveglia. Und jetzt – jetzt leb wohl.

Genreschubladen waren Lispector stets suspekt. Und so provoziert sie in «Bericht vom Ding» augenzwinkernd:

Ich sage gleich, was ich zu sagen habe, ohne literarische Mätzchen. Dieser Bericht ist die Antiliteratur des Dings.

Lispector liebte das Direkte und Einfache der Erzählungen von Anton Tschechow. Und sie suchte in ihrem eigenen Schreiben die nüchterne Erzähl­wucht Franz Kafkas. In ihrem letzten und einzigen Fernsehinterview sagte sie: «Aber ich schreibe einfach. Ich schmücke nicht aus.»

In ihren wilderen Erzählungen wird die Verwandtschaft mit Kafka besonders deutlich. Wenn sie zum Beispiel eine Frau ziellos durch das labyrinthische Maracanã-Fussball­stadion irren lässt («Auf der Suche nach einer Würde»). Oder wenn sie in ihre Werke Religion und Mystik einwebt, ohne dabei einer bestimmten religiösen Tradition zu folgen oder gar als «religiöse Autorin» aufzutreten.

Nichts an Lispector ist erbaulich. Wie Kafka funkelt sie durch ihre Dunkelheit.

«Schund» und Schelmerei

Wer von Dunkelheit und Leid und Tod schreibt, muss die Fähigkeit besitzen, sprachlich zu feiern. Jeder Roman von Lispector ist ein sprachlicher Buden­zauber. Ihre Werke sind lyrisch und detail­besessen, drollig und wahn­witzig, voller Coolness und Finsternis.

Was im Jubiläums­jahr nun für ein deutsch­sprachiges Publikum besonders deutlich wird: wie sehr dies alles auch für ihre Erzählungen gilt. Und welch gewichtige Rolle die kleine Erzähl­form für die Autorin spielte.

Noch bevor sie 23-jährig mit ihrem ersten auto­biografisch getönten Roman «Nahe dem wilden Herzen» (1943) über Nacht bekannt wurde, schrieb Lispector Kurz­prosa. Und auch die letzten Texte vor ihrem Tod sind Erzählungen, unvollendete, eigen­sinnige Gebilde mit den Titeln «Die Schöne und das Biest oder Die Wunde, die allzu gross war» und «Ein Tag weniger».

Clarice Lispector (zweite von links) auf einem Gruppenbild anlässlich eines Essens, das der brasilianische Minister Mário Moreira da Silva in Bern gab. Nao identificade/Acervo Clarice Lispector/lnstituto Moreira Salles
Zwei brasilianische Schriftstellerinnen: Clarice Lispector und Carolina Maria de Jesus (Bild: 1960).Nao identificade/Acervo Clarice Lispector/lnstituto Moreira Salles

Die zerstückelte, unfertige Art ihrer letzten Arbeiten – in Wirklichkeit sind dies nur Merkmale, die von Anfang an ihr Schreiben prägten. Lispector liebte das Raue, nicht das Geschliffene, das Rohe, nicht das Gekochte.

«Aber es soll regnen» beinhaltet vier Erzählungs­sammlungen aus der Zeit zwischen 1971 und 1977. Darunter sind auch die Texte aus der Sammlung «Der Kreuzweg des Leibes» (1974), die nach Lispectors Selbst­auskunft grossen­teils an einem einzigen Wochen­ende verfasst worden sein sollen. Dem Band ist eine Erklärung vorangestellt, in der Lispector einen häufig geäusserten Kritik­punkt pariert:

Jemand, der meine Geschichten gelesen hat, sagte, das sei keine Literatur, das sei Schund. Ich stimme dem zu. Aber alles hat seine Zeit. Es gibt auch eine Zeit für Schund.

Doch in derselben Erklärung heisst es eben auch:

Alle Geschichten in diesem Buch sind von durchschlagender Kraft.

Sie hat recht.

Und ihr Satz macht auf den strukturellen Sexismus der Literatur­geschichte aufmerksam. Denn lange Zeit galt: Sagte eine schreibende Frau nicht von sich selbst, wie gross­artig ihre Literatur sei, sagte es niemand. Und war sie selbst es, die sich lobte, war sie arrogant.

Weil diese Zeit noch immer nicht vollends vorbei ist, sei es hier unmissverständlich betont: Clarice Lispector ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten Schreibenden des 20. Jahr­hunderts. Und jedes Jahrhunderts.

Doch es ist auch literarisch eine hinter­gründige Wort­wahl, wenn sie ihre Texte ironisch als «Schund» bezeichnet. Denn Lispectors Literatur porträtiert oft die sogenannten einfachen Leute, ohne irgend­welchen Dünkel, aber auch ohne künstliche Verklärung. Wenn sie einen Einblick in Denken und Fühlen ihrer Figuren eröffnet, streut sie philosophische Wahrheiten mit beinahe sorgloser Beiläufigkeit ein. Anders als eine offensiv intellektuelle Autorin wie Virginia Woolf zeigt sie, dass tief­schürfende Gedanken nicht allein kunst­schaffenden und gebildeten Menschen vorbehalten sind.

Immer wieder umkreisen die Erzählungen gesellschaftlich gering geschätzte Leben: vermeintlich unbedeutende Eintönigkeits­existenzen, Lebens­läufe wie jenen der Titel­heldin «Miss Algrave».

Lispector beginnt Miss Algraves Geschichte gewohnt niederschmetternd:

Sie wusste, dass über sie gerichtet werden würde.

Die Heldin ist eine einfache Schreib­kraft in London, eine fromme Jungfrau, die «sich von der Menschheit gekränkt» fühlt. Sie arbeitet, betet und gibt «sich der Einsamkeit hin». Realistisch und knapp widmet Lispector die Hälfte der Erzählung Miss Algraves Daseins­monotonie – bis sie das Ruder radikal rumreisst:

Da geschah es. Sie spürte etwas durchs Fenster hereinkommen, das keine Taube war.

Und das, was keine göttliche Taube ist, ist vielleicht ein teuflischer Dämon oder ein heil­bringender Geist. Zumindest trägt es den Namen Ixtlan, sagt von sich: «Ich bin ein Ich», und entjungfert Miss Algrave. Fortan kommt Ixtlan regel­mässig zum Sex vorbei, und ist er nicht da, lernt die junge Frau die Masturbation kennen – bis sie schliesslich zur Prostituierten wird.

Entwaffnend und schockierend schlägt Lispector einen Haken zwischen zwei gesellschaftlichen Rollen­klischees: dem der Jungfrau und dem der Hure. Und sie weigert sich, über ihre Figur auch nur ansatz­weise zu urteilen.

Lispector liebt all ihre Figuren, auch wenn sie am Boden sind; und immer lieben ihre Figuren das Leben:

Wie gut war es doch, zu leben. Wie gut war es, blutiges Fleisch zu essen. Wie gut war es, italienischen Wein zu trinken, so einen herben, dieses leicht bittere, pelzige Gefühl auf der Zunge. Sie war jetzt nicht jugendfrei. Und sie kostete es aus, sie genoss es unsäglich.

Schmunzeln und Schrecken

Miss Algrave ist schliesslich der Prototyp für Macabéa, Lispectors vielleicht bedeutendste Frauen­figur in ihrem letzten und wichtigsten Roman «Der grosse Augenblick» (1977). Darin ist es der Schrift­steller Rodrigo S. M., der die bescheidene Macabéa erfindet, ebenfalls eine frömmlerische Schreib­kraft, die in Lispectors Œuvre am reinsten das Ideal der Autorin verkörpert: ein Wesen, das innerlich frei ist, das Leben bejaht, ohne um die eigene Existenz zu kreisen und sie mit philosophischen Gedanken aufzuladen.

Sie wollte einfach nur leben. Sie wusste nicht, wozu, der Frage ging sie nicht nach.

«Der grosse Augenblick» ist auch ein dramatisches Dilemma über die Paradoxie des Schreibens. Indem Lispector den Autor Rodrigo S. M. erfindet und sich in dieser Figur spiegelt, kann sie sich selbst als Autorin beobachten: Sie ist es, die verantwortlich ist für die widrigen Umstände ihrer literarischen Geschöpfe – und sie ist es auch, die mit mitleidvoller Bewunderung dem Leben ihrer Figuren zuschaut, als würde es sich ihrer Macht entziehen.

Die bescheidene Macabéa treibt auf ihr tragisches Schicksal zu, und nicht einmal ihr Autor Rodrigo kann sie retten, so sehr er sich das wünscht. Einmal sagt er: «Ich werde tun, was ich kann, damit sie nicht stirbt.» Und doch ist er machtlos gegen das Eigen­leben des erzählten Schicksals und fragt verzweifelt: «Ist jede Geschichte, die jemals geschrieben wurde, eine Geschichte der Leiden?»

Diese Paradoxie, dass da Eigenes erschaffen wird und dann eine magische Eigen­dynamik erfährt, sodass die Autorin dem Schicksal ihrer Figuren nur zuschauen, es beobachtend protokollieren kann – diese Paradoxie zeichnet auch Lispectors grösste Kurz­geschichten aus.

Clarice Lispector (rechts) und ihre Söhne Paulo und Pedro mit dem Schriftsteller Érico Veríssimo und seiner Frau Mafalda (März 1955). Nao identificade/Acervo Clarice Lispector/lnstituto Moreira Salles
«Alles hat seine Zeit. Es gibt auch eine Zeit für Schund»: Clarice Lispector in ihrer Wohnung. Nao identificade/Acervo Clarice Lispector/lnstituto Moreira Salles

Zum Beispiel «Die kleinste Frau der Welt» aus dem Band «Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau», vielleicht Lispectors gross­artigste Erzählung. Darin entdeckt ein französischer Forscher «das kleinste menschliche Etwas, das es gibt». Zwischen dem Forscher und seinem Forschungs­objekt besteht eine hierarchische Bindung – und Lispector leuchtet damit den langen, finsteren Schatten des kolonialen Imperialismus auf höchst unterhaltsame Weise aus. Der Forscher betrachtet die kleinste Frau der Welt als etwas unerreichbar Fremdes, etwas Bewundertes – und doch ihm Untergebenes.

Wieder aber reisst Lispector die Kulissen ein: Als die kleinste Frau einmal den Forscher anlacht, ist dieser peinlich berührt, weil er trotz seiner Gelehrsamkeit dieses Lachen nicht zu deuten weiss. Sie ist das ganz andere, das Rätsel, das Verhüllte, das sich nicht entdecken lässt.

Doch Lispector geht noch einen Schritt weiter. Denn uns, die Lesenden, lässt sie sehr wohl ins Bewusstsein der Frau eintauchen, sodass wir entdecken, was der Forscher niemals wissen wird, den Grund ihres Lachens:

Sie lachte hitzig, sehr hitzig. (…) Die Besonderheit war erfüllt vom unsagbaren Gefühl, noch nicht gefressen worden zu sein.

Ein typischer Lispector-Satz bringt meist beides: Schmunzeln und Schrecken.

Die Autorin gesteht der winzigen Frau einen unermesslichen inneren Gefühls- und Gedanken­kosmos zu. Gleichzeitig hält sie daran fest, dass das unermessliche Gewinkel der Innerlichkeit für ein anderes Wesen niemals ergründbar ist – sondern allenfalls mithilfe der Vorstellungs­kraft imaginiert werden kann.

Immer wieder wird in Lispectors Texten dieselbe tiefe Sehn­sucht sichtbar: nach einer Los­lösung von den Zwängen des Denkens, des Verstandes. Der tiefe Wunsch nach einem Leben ohne das permanente Bewusst­sein vom eigenen Bewusst­sein – und ohne das Wissen um die eigene Endlichkeit.

Doch die Bewusstseins­ströme von Lispectors Figuren kommen immer freier und beschwingter daher als jene von Woolf oder Joyce oder Faulkner.

Denn für Lispector ist Sprechen, ist Sprache zuallererst: Spiel. Wenn auch immer ein Spiel gegen den Tod. Reden, Schreiben heisst, die letzte Stille brabbelnd aufzuschieben. Lispectors Literatur plappert unentwegt – und fängt dabei Augen­blicke elysischer Ruhe ein. Ihre Aufmerksamkeit gilt den Pausen im chronischen Zufliessen auf den Tod; den Momenten, in denen ihre literarischen Figuren befreit sind von den Zwängen der Wirklichkeit, selbst wenn sie vor den Augen der Lesenden den Verstand verlieren oder sterben.

Darin liegt Lispectors Grösse: Ihren tief­gründigen Figuren macht sie das Geschenk, nicht über ihr Leben nach­denken zu müssen. Und uns macht sie das Geschenk, tief­gründig über unser Leben nach­denken zu dürfen, während wir lesen.

Zu den Büchern

Clarice Lispector: «Aber es wird regnen». Aus dem Portugiesischen von Luis Ruby. Penguin, München 2020. 288 Seiten, ca. 31 Franken.

Clarice Lispector: «Der grosse Augenblick». Aus dem Portugiesischen von Luis Ruby. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 128 Seiten, ca. 27 Franken.

Clarice Lispector: «Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau». Aus dem Portugiesischen von Luis Ruby. Penguin, München 2019, 416 Seiten, ca. 34 Franken.

Benjamin Moser: «Clarice Lispector: Eine Biographie». Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 568 Seiten, ca. 15 Franken.

Zum Autor

Jan Wilm ist Schriftsteller, Übersetzer und Literatur­kritiker. Seine Rezensionen und Essays erscheinen unter anderem im «Volltext», in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und der «Los Angeles Review of Books». 2019 erschien sein erster Roman «Winterjahrbuch» im Verlag Schöffling & Co.

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