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Pestimismus

09.12.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Nach der ganzen Aufregung gestern ist es Zeit für eine kleine Pause. Haben Sie Lust auf ein klassisches Drama?

Constantin Seibt hat eins ausgegraben:

1798 schrieb der englische Pfarrer Thomas Malthus sein Essay «Das Bevölkerungsgesetz». Und widersprach den Optimisten, die sagten, dass die Lage der Menschheit sich je verbessern würde.

Und zwar, weil der Grossteil der Menschheit immer in Armut verbleiben würde: «Es zeigt sich, dass nach den unentrinnbaren Gesetzen der Natur stets Menschen an Mangel leiden werden: die Unglücklichen, die in der Lotterie des Lebens eine Niete gezogen haben.»

Malthus’ Begründung war revolutionär: Mathematik. Er schrieb, dass jede Steigerung der Lebensmittelproduktion sofort vom Bevölkerungswachstum aufgefressen würde.

Denn: Die Produktivität steige linear, die Vermehrung der Menschen aber exponentiell. So, dass nicht nur jeder Fortschritt neutralisiert würde. Sondern auch die Natur die überflüssigen Mäuler wieder schliessen würde: durch Krankheit, Krieg, Hungersnot.

Das Ergebnis war die Malthusianische Falle: Nur massenhafter Tod bringt Wohlstand; während Geburten die Ursache von Slums, Sterben und Elend sind.

So traurig Malthus’ Theorie war, so zutreffend war sie damals: Der Statistiker Max Roser berechnete das durchschnittliche Jahreseinkommen im vorindustriellen England: Von 1270 bis 1350 stagnierte es um 800 Pfund – bis es plötzlich bis Ende Jahrhundert auf 1200 Pfund stieg. In nur 50 Jahren wuchs es also enorm.

Der Preis dafür war jedoch brutal: Massengräber.

Die Pest von 1348 bis 1351 löschte in England die Hälfte der Bevölkerung aus. Doch für die Überlebenden gab es in den Städten plötzlich Arbeit plus steigende Löhne – und auf dem Land gaben die dezimierten Bauern die Bearbeitung der schlechten Äcker auf und konzentrierten sich auf die ertragreichen.

Doch der Boom hielt nur kurz an: 1450 war die Bevölkerung wieder nachgewachsen und die Ausweglosigkeit zurück: Das Bruttosozialprodukt stieg zwar, aber im Tandem mit der Bevölkerung. Das Durchschnittseinkommen stagnierte für weitere 200 Jahre.

Doch dann, etwa ab 1750, passierte langsam, aber unaufhaltsam etwas, das Herr Malthus für komplett ausgeschlossen hielt: England entkam als erstes Land Europas (nach dem römischen Imperium) aus der Malthusianischen Falle.

Die industrielle Revolution begann. Und mit ihr kamen neue Technik, mehr Arbeitsteilung, mehr Handel.

Diese Revolution wäre aber wohl ihrerseits ausgeblieben, wenn nicht Jahrhunderte zuvor – nach der grossen Pest 1348 bis 1351 in Norditalien – plötzlich Kapital vorhanden gewesen wäre. Das Massensterben dort ermöglichte eine winzige Insel des Reichtums mit blühenden Handelsstädten: mit Schifffahrtsunternehmen, Manufakturen, Banken. Dem Grauen folgte das Geld – und diesem Protz und Verschwendung: Prunkbauten, Kunstwerke und Orgien, aber auch Wissenschaft, Philosophie und Mathematik.

In Norditalien entstanden die Ideen, die 400 Jahre später eine neue Welt ermöglichten. Erst in England, heute überall. Eine Welt der Forschung, des Handels, der Technik und des nie gekannten Wachstums.

Kurz: Das Zusammentreffen der beiden grössten Geisseln der Menschheit – Armut und Seuche – endete mit einem verblüffenden Happy End. Und einem Kind, das ebenfalls oft als Geissel der Menschheit beschrieben wurde: dem Kapitalismus.

Doch dieser hat eine erstaunliche Bilanz: Im Jahr 1800, zur Zeit von Malthus, existierten 1 Milliarde Menschen, 96 Prozent davon in bitterer Armut, die Lebenserwartung betrug nirgendwo mehr als 29 Jahre. Heute leben 7,8-mal mehr Menschen, nur noch 10 Prozent davon in Armut, im Schnitt für 73 Jahre.

Das führt zur nächsten grossen Frage: War das Wunder des Kapitalismus nur möglich, weil die Menschheit die natürlichen Ressourcen ausbeutete wie nie zuvor in der Geschichte? Und funktioniert es auch anders?

Wir werden auch noch nach der Antwort suchen, wenn die gegenwärtige Seuche nur noch eine blasse Erinnerung ist.

Und damit zurück zur Gegenwart.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Der Ständerat will die Corona-Hilfen für Kitas nun doch ausweiten. Von den Corona-Finanzhilfen für die familienergänzende Kinderbetreuung sollen mehr Institutionen profitieren. Ja gesagt hatte bereits der Nationalrat. Der Bundesrat muss nun die Mitte September ausgelaufene Covid-19-Verordnung über familienergänzende Kinderbetreuung rückwirkend anpassen.

Die Covid-19-Impfung wird für die Schweizer Bevölkerung gratis sein. Das Eidgenössische Departement des Innern EDI hat die Krankenpflege-Leistungsverordnung angepasst. So wird die Impfung von der obligatorischen Krankenkasse übernommen. Auch der Bund und die Kantone tragen einen Teil der Kosten. Sowohl der Impfstoff wie auch die ärztliche Konsultation sollen so für Patientinnen kostenlos sein.

Roche ist eine Partnerschaft mit dem Impfstoffhersteller Moderna eingegangen. Das Schweizer Pharmaunternehmen, das bereits verschiedene Corona-Tests hergestellt hatte, wird einen Antikörpertest in den Impfstoff-Forschungsversuchen von Moderna einsetzen.

Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) lassen einen chinesischen Impfstoff zu. Der Impfstoff des Herstellers Sinopharm soll für die breite Verwendung in der Bevölkerung erhältlich sein. Er war zuvor bereits für den Gebrauch bei Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen zugelassen.

Im Zoo von Barcelona haben sich vier Löwen mit dem Coronavirus infiziert. Sie hätten jedoch nur leichte Symptome gezeigt, sagte Zoodirektor Juli Mauri. Bereits im April war ein Tiger in einem New Yorker Zoo positiv getestet worden. Auch ganz normale Katzen kann es erwischen. (Was das für Sie und Ihren Stubentiger heisst, haben wir hier aufgeschrieben.)

Und zum Schluss: Warum so schnell?

Viele unserer Republik-Verlegerinnen haben uns mit einer sehr ähnlichen Frage zur Impfung geschrieben: Sie würden sich, wenn sie denn mal in der Schweiz verfügbar sei, gerne impfen lassen. Nur sei ihnen die Geschwindigkeit, mit der die Covid-19-Impfstoffe plötzlich in greifbarer Nähe sind, nicht geheuer.

Warum also geht alles bei diesen Impfstoffen viel schneller als sonst?

Das wollten wir auch nochmals genauer wissen. Also haben wir Peter Berchtold angerufen. Der Mediziner ist Vizepräsident der Schweizerischen Patientenorganisation und befasst sich eingehend mit der Gesundheitsversorgung in der Schweiz.

«Überall auf der Welt tut man alles dafür, dass das jetzt schnell geht. Es ist klar, dass das auch Unsicherheit auslöst», sagt er.

Es gibt beim Thema Impfstoff zwei Bereiche, die bei der Schnelligkeit entscheidend sind: das Zulassungsverfahren sowie die eigentliche Forschung und Entwicklung im Labor.

«Bei einer normalen Zulassung wird eins nach dem anderen überprüft. Was jetzt in den meisten Ländern passiert: Es wird parallel geprüft», so Berchtold. Zwar würden Notfallzulassungen (oder auch das rollende Verfahren in der Schweiz) je nach Land anders aussehen, weil die formellen Vorgaben von Behördenseite unterschiedlich seien. «Aber die Zulassungsverfahren werden weltweit beschleunigt.»

Er versteht die Skepsis. «Diese Art der Impfung ist recht neu und wenig erforscht – insbesondere fehlen Langzeitstudien.» Auch Fachleute würden dies diskutieren. «Wir haben diesbezüglich noch eher eine beschränkte Datenlage.» Bei Impfungen ist natürlich auch eine Nebenwirkung immer denkbar. «Eine schwere Ausprägung einer Nebenwirkung wäre zum Beispiel, wenn der Körper nicht nur erwünschte Antikörper auf das geimpfte Protein entwickelt – sondern zusätzlich unerwünschte Antikörper auf diese erwünschten Antikörper, weil er die ja auch nicht erkennt.»

Allerdings habe sich in den Testphasen gezeigt: Schwere Nebenwirkungen kamen praktisch nicht vor, nur mittlere und leichte. «Die Unsicherheit ist natürlich da, das Risiko ist aber eher klein», schätzt Berchtold.

Und auf der Forschungsseite gab es ebenfalls einen Faktor, das alles schneller gemacht habe: die Effizienz in der Entwicklung. «Was man jetzt sieht, ist, dass die Impfstoffe häufig von zwei Firmen gemeinsam entwickelt werden.» Die kleine Firma weiss, wie man den Impfstoff herstellt. Die grosse Firma kann grosse Studien durchführen: «Das sind nämlich logistische Monsterübungen.» Also wie bei Biontech und Pfizer. «So eine Kooperationswelle wie jetzt hat es bei den Pharmafirmen noch nie gegeben.»

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Marguerite Meyer und Constantin Seibt

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Sind Sie eher der Typ «Desinfektionsmittel selber machen»? Oder doch lieber «Hefe selber machen»? Haben Sie dieses Jahr eher nach «Daniel Koch» gegoogelt oder nach «Zoom»? Jedes Jahr zeigen die Google Trends im Jahresrückblick, welche Suchbegriffe, welche Persönlichkeiten und welche Fragen das Jahr über gesucht werden. 2020 – Überraschung! – dominierte ein Thema. Und der ganze Rattenschwanz, der mit ihm zusammenhängt. Aber nicht nur!

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