Kiyaks Exil

Wahnsinn und Wunschdenken

Weil es auf dem AfD-Parteitag Streit gab, heisst es nun landauf, landab, die Partei erledige sich gerade selbst. Unsere Kolumnistin findet: Bisschen naiv.

Von Mely Kiyak, 08.12.2020

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Schluss, aus, Ende, total am Ende sei die AfD. Sie «zerlege sich» gerade selbst. Solche Texte lese ich gerade im Dutzend. Und zwischen den Zeilen schwingt da immer mit, dass sich das Problem mit den Faschisten im Deutschen Bundestag so gut wie erledigt haben werden wird, hoffentlich, inşallah, wenn es einen Gott gibt.

Sobald die AfD in Umfragen um ein paar Prozent­punkte zurückfällt, kommt regelmässig dieses publizistische «Puh!». Ein riesiges kollektives Aufatmen weht durch die Republik. Denn nichts verkünden die Kolleginnen in Deutschland so gerne wie den Niedergang, den jetzt aber wirklich finalen Untergang, den endgültigen Endgültigkeitsuntergang der Partei.

Wie ein gigantischer Erleichterungs­seufzer las sich die Bericht­erstattung nach dem elften Parteitag der AfD, den die Partei Ende November im nordrhein-westfälischen Kalkar abhielt. 500 Delegierte trafen sich, ganz nach ihrer reaktionären Art, natürlich analog und nicht digital, alle in einem Raum. Und auch nur deshalb mit Masken, stosslüftend und Abstand wahrend, weil das Ordnungs­amt daneben­stand und sie wie Kinder beaufsichtigte und damit in Schach hielt.

Im Bundestag tragen die AfD-Abgeordneten ebenfalls nur Maske, weil sie es müssen. Doch selbst dort schieben sie sich die Stoff­teile mal nur über den Mund oder nur über die Nase und geben ein lächerliches Bild ab: Im Rahmen der parlamentarischen Haus­ordnung leisten sie durch ihr Hin- und Hergeschiebe des Textils symbolisch Widerstand gegen die Corona-Schutz­massnahmen. In Kalkar aber machten sie alles brav mit, weil sonst der Abbruch der Veranstaltung und der Raus­schmiss aus der Halle gedroht hätten.

Bevor ich erzähle, was auf der Versammlung geschah und weshalb etliche Medien mal wieder den endgültigen Unter­gang aufgrund vermeintlich ultimativer Zerstrittenheit kommen sehen, möchte ich kurz die gesellschaftliche Atmosphäre schildern, in der dieser Parteitag stattfand.

Seit Monaten protestieren die sogenannten «Querdenker» in allen möglichen deutschen Städten. Querdenken ist eine drollige Selbst­etikettierung einer radikalisierten Gruppe von Leuten, die mit der Bezeichnung suggerieren wollen, sie seien um die Ecke denkende Pfiffikusse. Sie protestieren gegen die von der Regierung beschlossenen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Gemessen an den sehr hohen Infektions­zahlen und der hohen Todes­rate kann man die Massnahmen (Maske tragen, Abstand halten, geschlossene Kultur- und Sport­einrichtungen) als sehr moderat bezeichnen, aber manche Corona-Leugnerin meint offenbar, ihre Situation ähnele jener der Juden in den Konzentrationslagern.

Kein Witz, das sind hier die Vergleiche, über die wir seit Wochen sprechen. Und weil man hier in Deutschland traditionell wenig Gespür für Contenance und Élégance hat, ist innerhalb weniger Wochen alles komplett aus dem Ruder gelaufen.

Wasserwerfer und Pfeffer­spray vonseiten der Polizei. Bundes­tag stürmen, in den Bundes­tag eindringen und Abgeordnete belästigen vonseiten der Demonstranten, jede Woche ist irgendwas. Und irgendwo auf der Redner­bühne einer Demonstration sagte ein elfjähriges Mädchen, sie fühle sich «wie Anne Frank», weil sie ihren Geburtstag fünfmal feiern musste, und das sei ja doch eine sehr grosse Einschränkung, und auf einer anderen Bühne einer anderen Stadt erzählt eine junge Erwachsene, sie melde seit Wochen Demonstrationen an, sei also «im aktiven Widerstand», und damit, na klar, wir ahnen es, sei sie «wie Sophie Scholl».

«Corona-Diktatur» wird die derzeitige Lage in Deutschland von den alten Bekannten genannt: Neonazis, Rechts­extremistinnen, völkische Ökonazis, Evangelikale. Was sie eint, ist ihr Hass gegen die Regierung. Ihr selbst­bezogenes und weinerliches Ich-Ich-Ich. Und dass sie offenbar in ihrem ganzen Leben noch nie die Erfahrung gemacht haben, sich für ein paar Wochen im Jahr am Riemen zu reissen. Keine Ahnung, woher das kommt. Vielleicht vom Vollkornbrot.

Die AfD geriert sich nicht nur als Sprach­rohr dieser grossen und mobilen Szene, nein, sie war es auch, die Demonstranten als Gäste tarnte und in den Bundestag liess, wo sie Abgeordnete belästigten.

Und genau das war auch Thema auf dem Parteitag in Kalkar.

AfD-Parteichef Jörg Meuthen kritisierte das Wort «Corona-Diktatur», womit er sich auf Alexander Gauland bezog, der den Propaganda­begriff im Bundes­tag verwendet hatte. Er kritisierte auch die Gleich­setzung des Infektions­schutz­gesetzes mit dem Ermächtigungs­gesetz von 1933, als die Parteien Adolf Hitler alle Macht übertrugen und das Parlament damit de facto auflösten. Ausserdem missbilligte er die eben erwähnte Aktion im Bundestag, mit den eingeschleusten Ruhestörern.

Die Reaktion auf seinen Rede­beitrag waren Buh-Rufe, ein bisschen Rumgemaule, und einige Abgeordnete hielten ihre «Nein»-Abstimmungs­karten hoch. Nachdem Meuthen endete, bekam er stehenden Applaus von einem Teil der Delegierten, ein paar andere blieben demonstrativ sitzen und klatschten nicht. Also alles nicht allzu aufregend, man hat in Deutschland schon anderes gesehen. In Kalkar gab es keine Farb­beutel (einen solchen bekam Joschka Fischer von den Grünen mal ans Ohr geklatscht), keine Torten (wie sie Sahra Wagenknecht einst beim Linken­parteitag ins Gesicht bekam), keine Tränen, keine Prügelei.

Jedenfalls meldete sich der Delegierte Norbert Kleinwächter, rief aufgeregt «Seid ihr denn des Wahnsinns?» ins Mikrofon – und bezog sich damit auf einen Antrag, dass man Meuthen für seinen Beitrag disziplinieren solle. Was Kleinwächter meinte, war: Man solle lieber über Konzepte sprechen als über den Partei­chef. That’s it. In manchen Artikeln aber wurde das Zitat als Überschrift verwendet und machte den Eindruck, als hätte Meuthen diese Worte gesprochen, als sei das jetzt die ganz grosse Wende.

Es gibt in der AfD diese zwei Lager: die Gruppe um Björn Höcke, der bei Versammlungen erst zwei Fackel­träger vor sich herlaufen lässt, bevor er wie ein Führer in die johlende Menge winkt. Richtig düster sieht das aus, aber auch strunz­peinlich, weil so ganz ohne Panzer und zu Fuss, das ist ja doch arg läppisch. Das sehen einige in der Partei offenbar ähnlich, nämlich als kolossal symbol­überladen und maybe a bit too much.

Und dann gibt es Leute wie Meuthen, die gestackselt dahersprechen, als hätte sich ein Topf gekochter Spaghetti um ihr Sprach­zentrum verheddert («Wohlan denn», beginnt er gerne seine langatmigen Sätze, und man denkt: In welchem Jahrzehnt ist der denn hängen geblieben?).

Aber ob mit oder ohne Perlen­ketten, ob in gebügelten Jeans­hosen oder mit Deutschland­hütchen: Zur Währung der AfD gehören Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus, völkisch begründete Überlegenheit. Hass­zerfressen sind sie zudem. Nie geht es darum, den Faschismus in der national­sozialistischen Ausprägung und Tradition infrage zu stellen, sondern immer nur um Geschmacks- und Stilfragen. Um diese oder jene rhetorische Ummantelung.

Ich kann keinen Niedergang und Absturz erkennen, keine tiefe Zerrissenheit, die den Zusammenhalt innerhalb der Partei tatsächlich gefährden würde. Ich sehe Macht- und Flügel­kämpfe, aber ist das was Ungewöhnliches?

Was mich beunruhigt, ist eine verdächtig schnelle Annäherung der Ost-CDU an die AfD, und es ist eine Frage der Zeit, wann da Koalitionen eingegangen werden. Ich spreche hier nicht über eine Zukunft in Jahrzehnten, sondern eher von Monaten, Minuten, Sekunden.

Das sehe ich.

«Seid ihr denn des Wahnsinns?», dachte ich jedenfalls, als ich die Texte mancher Kolleginnen las, deren Wunsch­denken und Projektion über das nahende Ende der AfD grösser sind als die eigene politische Urteils­kraft. Sie haben immer die Hoffnung, die AfD werde sich mässigen oder regulieren oder die Real­politik werde aus der Faschisten­partei lauter muster­gültige Demokraten hervorbringen. Das wird nicht geschehen, schönen Gruss an Ungarn, Polen, die halbe Welt.

Und was genau ist denn bitte die mässige Variante von Rassismus?

Der Faschismus hat keinen moderaten Flügel, schrieb ich vor einigen Jahren, und dabei bliebe ich. Und nein, der Faschismus lässt sich nicht mit Kolumnen und Kommentaren nieder­schreiben, Politik wird mit Politik gemacht und mit nichts sonst.

Bis hierher gilt: Man lässt die Rechts­radikalen Plakate durch die Strassen tragen, auf denen sie Politikerinnen in KZ-Kleidung zeigen, sie tragen Haken­kreuze mit sich und Galgen (daran wollen sie die Kanzlerin baumeln sehen), sie zeigen den Hitler­gruss, die Reichskriegs­flagge, sie rufen Angela Merkel «Fotze» entgegen. Ich sehe, dass etwas Totgeglaubtes wieder­aufersteht. Vom Unter­gang sind allenfalls Leute wie ich betroffen, nicht die.

Selam
Ihre Kiyak

Illustration: Alex Solman

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