Anbiedernd oder einfach regierungsfähig? Grünen-Chef Werner Kogler (rechts) mit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Joe Klamar/AFP/Getty Images

Dasselbe in Grün

Seit knapp einem Jahr sitzen die Grünen als Junior­partner der rechts­konservativen ÖVP in der österreichischen Regierung. Und stossen mit ihrer Politik die eigene Basis zunehmend vor den Kopf. Wie viel darf die Beteiligung an der Macht kosten?

Von Solmaz Khorsand, 08.12.2020

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Hätten Sie in der Opposition auch so gestimmt? Wäre das Ihre Haltung gewesen? Seit Anfang Jahr müssen sich grüne Politikerinnen in Österreich diese Fragen anhören. Von der Presse, von Gemeinde­räten, von Sympathisantinnen.

Seit dem 7. Januar 2020 wird das Land von den Grünen mitregiert. Seither stehen sie gemeinsam mit Sebastian Kurz’ türkiser ÖVP in der Verantwortung. Und müssen beweisen, wie viel besser es für Österreich ist, wenn der Junior­partner einer rechts­konservativen Partei nicht eine rechts­populistische Partei ist. Nicht die FPÖ.

Die Verschiebung in «die linke Reichs­hälfte» ist der Auftrag. So hat es Grünen-Chef Werner Kogler vor den Delegierten formuliert, als er ihnen das Regierungs­programm Anfang des Jahres zur Abstimmung vorlegte. Schon im Vorfeld appellierte er an seine Partei­freunde, Kompromisse nicht zu «denunzieren». Fast alle folgten ihm. Nur 15 der 276 Delegierten haben gegen den Regierungs­pakt gestimmt.

Und das trotz aller «Grauslichkeiten» wie etwa einer angedachten Präventiv­haft für unbescholtene Asyl­bewerber und einer Art koalitions­freier Raum, der es nach einem mehrstufigen Prozess ermöglicht, mit anderen Parteien als dem Koalitions­partner abzustimmen, wenn dieser im Bereich Asyl und Migration die eigenen roten Linien überschreitet.

Egal. Alles ist besser als das, womit Österreich davor gepeinigt war. Besser als die FPÖ. Besser als die Rechts­extremen. Das ist das Mantra, das nach einem Jahr noch immer zu hören ist. Aber vielen Grünen-Anhängern hängt es mittlerweile zum Hals raus.

Zu oft mussten die Grünen 2020 über ihren Schatten springen, etwa als es im Herbst um die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria ging und sie mit dem Koalitions­partner gegen entsprechende Anträge stimmten. Oder als sie nach dem Terror­anschlag in Wien an der Seite von Kurz ein populistisches Anti­terrorpaket präsentierten, das lebens­lange Haft für potenzielle Terroristen forderte. Oder als sie, die einstige Transparenz­partei, versuchten, einen Untersuchungs­ausschuss rund um die Ibiza-Affäre in genau jenen Punkten abzuklemmen, die den ÖVP-Koalitions­partner in Bedrängnis bringen könnten.

Jüngst wurden ihre Wählerinnen wieder enttäuscht, dieses Mal mit der Novelle des Universitäts­gesetzes. In Zukunft sollen Studierende innerhalb von zwei Jahren eine Mindest­leistung von 24 ECTS-Punkten erbringen müssen. Schafft man das nicht, erlischt die Zulassung für dieses Studium. Wieder ein «Kompromiss», der die grüne Kern­klientel vor den Kopf stösst. Wieder ein Domino­stein, der zugunsten des Koalitions­friedens gefallen zu sein scheint.

Sieht so die Verschiebung in die linke Reichs­hälfte aus? Oder hat sich vielmehr mit dem neuen Standort der eigene Stand­punkt verschoben?

Auch eine Menschenrechtspartei

«Vor drei Monaten war ich kurz davor auszutreten, weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe, wie sich die Grünen verkaufen und was sie verkaufen», erzählt Dejan Lukovic. Er ist grüner Gemeinde­rat in Innsbruck, Österreichs erster Landes­hauptstadt mit einem grünen Bürger­meister. Seit zehn Jahren ist der 26-jährige Lukovic bei der Partei.

Aufgewachsen in Tirol, in der Klein­stadt Landeck, als Sohn zweier Geflüchteter aus dem Jugoslawien­krieg, waren die Grünen für den Jungen, der in der Schule wegen seiner Herkunft diskriminiert wurde, «ein safe haven», wie er sagt. Es sei die einzige Partei gewesen, die sich immer für Menschen­rechte eingesetzt habe, auch wenn es unpopulär und schwierig war «in einer rassistischen Mehrheitsgesellschaft».

Die Grünen, die Menschenrechts­partei. Das sagt kaum noch jemand im Jahr 2020. Im besten Fall lautet die Formel: Nicht nur Umwelt­partei, auch Menschenrechts­partei. Es ist ein schwaches Auch.

«Das Beste aus beiden Welten.» Unter diesem Motto präsentierten ÖVP und Grüne nach geschlagener Wahl ihr Regierungs­programm am Anfang des Jahres. «Ihr Kompromiss besteht darin, an bestimmten Stellen auf Kompromiss zu verzichten», kommentierte der deutsche Soziologe Armin Nassehi das Papier. Statt nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, wird auf die «Illusion des Gemeinsamen» verzichtet, was es ermöglicht, sich in der Differenz auszutoben.

Jeder hat seinen eigenen Garten und darf dort umpflügen, wie er will, ohne dass sich der andere einmischt. Die Grünen im Klima, die ÖVP im Rest. Oder um bei der Garten­analogie zu bleiben: Die Grünen dürfen mit ihren 13,9 Prozent das Terrassen­beet umjäten, während die ÖVP mit 37,5 Prozent den Central Park bepflanzen kann.

Lukovic missfällt das. Er ist einer der 15 Delegierten, die im Januar gegen den Regierungs­pakt gestimmt haben, den er vor allem im Migrations-, Asyl- und Menschenrechts­bereich als eine Fortsetzung der Politik der Vorgänger­regierung kritisierte, so etwa die Sicherungs­haft für Asyl­bewerber oder spezielle Deutsch­förderklassen für ausländische Kinder.

Damals sah die Partei kulant über sein Nein hinweg. Monate später schon weniger, als er begann, auf Facebook und Twitter die Tages­politik zu kommentieren – und die Performance seiner Partei­freundinnen in Wien zu kritisieren. Plötzlich weigerten sich Parlaments­abgeordnete, mit ihm zu sprechen, weil er sie in einem Tweet angepatzt habe. Sie hielten ihm Stand­pauken über Loyalität und das grosse Ganze. Kindisch fand er es, wie ihm von grünen Granden die Leviten gelesen wurden.

Mit dem Gedanken auszutreten hat er zum ersten Mal im Herbst gespielt. Als im September, nach dem Brand im Flüchtlings­lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, wieder einmal die Frage im Raum stand, ob die dort gestrandeten Männer, Frauen und Kinder nach Europa gebracht werden sollen, war für Lukovic klar: Die grüne Position ist, sie zu holen.

So war es auch. Grüne Abgeordnete hielten im Parlament feurige Plädoyers für die Aufnahme. Dennoch. Als es dann zur Abstimmung der Anträge der Opposition ging, stimmte die Partei mit ihrem Koalitions­partner ÖVP dagegen.

Happy Peppy Marketingpartei

In Interviews stellten die grünen Abgeordneten klar, dass sie gegen ihre Linie gehandelt hätten, dass die ÖVP blockieren würde, dass sie die Rhetorik eines ÖVP-Aussenministers als unwürdig erachteten, wenn er bei der Verteilung von Flüchtlingen in Europa von «Geschrei» spreche. Doch die Mehrheits­verhältnisse liessen nun einmal nicht mehr zu. Als Regierungs­partner konnte man der ÖVP zumindest ein wenig Geld abluchsen, und Österreichs Auslands­katastrophenfonds von 25 auf 50 Millionen erhöhen, so der grüne Erfolgsspin aus dem Moria-Debakel. Besser als nix. Und getreu dem Mantra: Besser als das, was mit der FPÖ herausgekommen wäre, wäre sie noch an der Macht.

Dejan Lukovic schüttelt vor der Skype-Kamera den Kopf. Gebracht hätten die Anträge im Parlament nichts, ja, das stimme. Dann macht er eine Pause: «Ausser, dass man für seine Grund­werte einsteht.»

Ausgetreten ist Lukovic nicht aus der Partei. Jene, die es bereits getan haben, rieten ihm davon ab. Ein paar Monate würde man sich vielleicht gut fühlen, es der Partei so richtig gezeigt zu haben. Ändern würde sich dadurch aber nichts. «Es bleibt ja trotzdem scheisse», so die Conclusio.

Dejan Lukovic bleibt – und warnt aus dem Inneren. Er fürchtet, dass die Grünen mit all den Kompromissen zu einer verwässerten «Happy Peppy Marketing­partei» werden, die sie schon einmal waren, vor 2017, als sie danach den Einzug in den National­rat verpassten. «Wenn wir dahin kommen, sind wir wieder bald draussen und haben alles verraten und alles aufgegeben, wofür wir jemals gestanden sind.»

Das grosse Trauma

2017 war das Horror­jahr der österreichischen Grünen. Das grosse Trauma – das heute durch zwei Brillen betrachtet wird. Die einen werten jeden Fehl­tritt als Vorboten dafür, dass die grosse Katastrophe sich wiederholt. Zuletzt im Oktober, als nach einer erfolgreich geschlagenen Wien-Wahl der bisherige Regierungs­partner, die SPÖ mit Bürger­meister Michael Ludwig, sich weigerte, nach zehn Jahren Zusammen­arbeit weiterhin mit den Grünen zu koalieren. Lieber holte er sich die kleineren liberalen Neos ins Regierungsboot.

Birgit Hebein, die grüne Vize­bürgermeisterin, die als Spitzen­kandidatin für die Wiener Grünen das beste Ergebnis ihrer Geschichte holte, wurde daraufhin intern demontiert. Ein Riss gehe durch die Partei, hat sie bei ihrem Abschied noch gesagt. Die Panik aus 2017 kochte hoch.

Die anderen, welche die zweite Brille tragen, sind da entspannter. Für sie ist jeder Fauxpas nur eine Frage des richtigen «Framings» und «Wordings». Die ÖVP sei da mit ihrer Message-Control geübter, da müsse man als Junior noch nachholen. Aber letztlich erscheint der Fraktion der Entspannten jedes Malheur als Kinder­geburtstag im Vergleich zu den Ereignissen aus dem Horror­jahr. Nach dem Motto: Wer durch den Monsun gewatet ist, dem kann der Niesel­regen nichts anhaben. Nichts kommt an die Katastrophe von 2017 heran.

Damals, nach der Präsidentschafts­wahl 2016 rund um den ehemaligen Grünen-Chef Alexander Van der Bellen, war die Partei nach elf Monaten Wahl­kampf ausgezehrt. Persönlich, finanziell und auch ideologisch ging das an die Substanz. Als «Happy Peppy Wahl­verein» hatte man Van der Bellen nicht als grünen, sondern als unabhängigen Kandidaten positioniert, ohne Ecken und Kanten, möglichst patriotisch in Landes­tracht und mit Dialekt. Die Strategie ging auf. Das halbe Land gab dem Wirtschafts­professor beim dritten Antritt seine Stimme beziehungs­weise entschied sich gegen den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer.

Doch statt an den Erfolg anzuknüpfen, begann die grüne Selbst­zerfleischung. Ein Streit mit den Jungen Grünen endete mit deren Rauswurf aus der Partei. Die Jugend­organisation hielt sich nicht an Order von oben und wurde kurzerhand in der autoritären Manier von Gross­parteien ausgeschlossen. Kurz darauf zog sich Eva Glawischnig, die langjährige Grünen-Partei­chefin, aus gesundheitlichen Gründen aus der Politik zurück. Und nur wenige Monate vor dem Wahl­termin im Jahr 2017 kündigte der Abgeordnete Peter Pilz an, mit seiner eigenen Liste antreten zu wollen.

Goutiert wurde das von den Wählerinnen nicht. Die eigene Kern­klientel sah sich anderweitig um. Um 0,2 Prozent verpassten die Grünen damals den Einzug ins Parlament. Sie waren raus nach 31 Jahren. Keine Mandate, keine Jobs, keine Parteien­förderung, keine Referentinnen, keine Büros.

Last Green Standing

«Alle waren unter Schock», erinnert sich die stellvertretende Parlaments­klub­obfrau, also stellvertretende Fraktions­präsidentin, Ewa Ernst-Dziedzic. Tagelang war sie damals damit beschäftigt, den grünen Klub, wie die Österreicher die Fraktion nennen, in der Löwelstrasse unmittelbar hinter dem Wiener Burgtheater auszuräumen. Ernst-Dziedzic zählte als Mitglied des Bundesrats damals zu den wenigen Grünen, die auf nationaler Ebene noch ein Mandat hatten. Es gab kein Back-up. Die Ex-Parlamentarier waren auf Job­suche, die grünen Kolleginnen in den Bundes­ländern waren mit sich selbst und ihren Koalitions­partnern beschäftigt, und Neu-Chef Werner Kogler arbeitete im Allein­gang am Phönix-aus-der-Asche-Moment, während er nebenbei die Partei vor dem finanziellen Konkurs bewahrte.

Diese Zeit hat Ernst-Dziedzic geprägt. Das Multi­tasken und Freestylen, ohne Mutter­partei im Hintergrund. Beim Verhandeln des heutigen Koalitions­vertrages kam ihr das zugute. Ernst-Dziedzic, verankert in der NGO-und LGTBQI-Szene, gehörte zu jenen Grünen, die das Regierungs­abkommen mit der ÖVP bis in die frühen Morgen­stunden mitverhandelt haben. Sie war in der berühmten «Horror­gruppe». So nannte der Boulevard die Bereiche Asyl, Integration, Migration, Landes­verteidigung, innere Sicherheit, Europa und Aussenpolitik.

«Vieles in diesem Abkommen ist nicht in meinem Sinne und trägt mir zu wenig die grüne Hand­schrift, darüber brauchen wir gar nicht reden. Aber ich weiss, was heraus­gekommen wäre, wenn wir nicht verhandelt hätten», sagt sie. Wenn nicht sie verhandelt hätte, hätten es andere getan: jene, die in ausgeleierten T-Shirts auf Ibiza die Republik verscherbeln wollten.

Da ist es wieder, das Mantra. Reicht das, um den Diskurs nach links zu verschieben, wie es Kogler versprochen hatte? Ist man links, nur weil man nicht rechts­extrem ist? «Ob uns eine Diskurs­verschiebung gelungen ist oder nicht, werden wir erst im Nachhinein beantworten können», gesteht Ernst-Dziedzic. Das werde sich erst in den kommenden Jahren zeigen, obwohl sie schon heute auf grüne Erfolge verweisen möchte – von der baldigen Einführung eines landes­weiten Jahres­tickets, das für alle öffentlichen Verkehrs­mittel gilt und nur drei Euro täglich kostet, bis hin zu den insgesamt sechs Möglichkeiten eines Geschlechts­eintrags bei österreichischen Behörden.

Grüne Entfremdungserfolge

Der österreichischen Öffentlichkeit ist Ewa Ernst-Dziedzic in diesem Jahr mit ihrer Reise nach Moria aufgefallen. Bereits im März 2020 hat sie das Flüchtlings­lager besucht, im September nach dem Brand noch einmal. Berichtet hat sie von dort, Fotos an Medien geschickt. Einige feierten die Parlamentarierin für ihr Engagement, andere waren irritiert von einem Touch «White Saviourism»: eine europäische Politikerin inmitten verdreckter Flüchtlings­kinder. Reine Polit-PR, so die Kritik.

Warum muss sie sich als Aktivistin und Reporterin inszenieren, wenn sie als Teil der österreichischen Regierung doch andere Hebel in Bewegung setzen könnte? «Das eine schliesst das andere nicht aus», verteidigt sich Ernst-Dziedzic. «Zu dem Zeit­punkt sind keine Journalisten und Aktivistinnen ins Lager hinein­gekommen. Ich als Politikerin schon. Das habe ich genutzt.» So habe sie das Thema nach Österreich geholt – und Druck auf den Koalitions­partner ÖVP aufbauen können.

Wer mit Grünen spricht, hört oft von diesem grünen Druck. Wie viel vermieden und verhindert werden konnte, von dem die Öffentlichkeit gar nichts weiss. Und was noch viel wichtiger scheint: Wie sehr die Koalition mit den Grünen die ÖVP von der FPÖ entfremdet hat.

Plötzlich sind die Partner von einst, mit denen man so gut konnte und nur wegen dieser «besoffenen Geschichte» in Ibiza brechen musste, ganz und gar nicht mehr so attraktiv. Wenn die FPÖ dem österreichischen Innen­ministerium nach Wiens Terror­anschlag Unfähigkeit vorwirft, zögert ÖVP-Innen­minister Karl Nehammer nicht, den wahren Schuldigen für die Dysfunktionalität seiner Behörden öffentlich anzuklagen: seinen Vor-Vorgänger, FPÖ-Mann Herbert Kickl.

Doch ist das den Grünen-Anhängern genug? Reicht es, wenn sich die einstigen Busen­freunde rechts der Mitte nicht mehr riechen können?

Wenn den Wohlwollendsten der Kragen platzt

«Nun sind die Grünen endgültig angerannt», sagt der Asyl­rechts­experte am Telefon. Wenige Tage zuvor hat die österreichische Regierung ihr neues Anti­terrorpaket vorgestellt. Namentlich will der Asyl­rechts­experte nicht in einem Artikel auftauchen. Nur so viel: Er ist Teil jener Branche, die manche gerne als «Gutmenschen» und «Willkommens­klatscher» schlechtreden.

Bis jetzt hat er sich in seiner Kritik an den Grünen zurück­gehalten. Wer sie kritisiert, so sagt er, projiziere viel zu viel in die Partei hinein: Die Unschulds­zeit in der ausser­parlamentarischen Opposition sei nun mal vorbei. In der Zeit konnte man alles Mögliche in sie reinfantasieren. Klar sei man dann jetzt enttäuscht. Er nicht. Er sei dankbar, dass die Kanäle zu Abgeordneten und Ministerinnen wieder offen sind. Es klingt nach einer Kleinigkeit, aber wer eineinhalb Jahre von einer Regierung mit FPÖ-Ministern geschnitten und gemobbt wurde, freut sich über das Mindeste an Zusammen­arbeit: Kommunikation.

Aber dann kam das Anti­terrorpaket, und selbst ihm ist der Kragen geplatzt.

Am 2. November hat ein islamistischer Attentäter in der Wiener Innen­stadt vier Menschen ermordet. Neun Tage später trat die Regierung vor die Presse, um Massnahmen vorzustellen, die derartige Anschläge in Zukunft verhindern sollten.

Neben einer längst überfälligen Reform des Verfassungs­schutzes (BVT), der wichtigen Hinweisen aus dem Ausland nicht nachgegangen war, sollte es in Zukunft möglich sein, bereits verurteilte Straf­täter via Fuss­fessel elektronisch zu überwachen, Gefährder ähnlich wie geistig abnorme und gefährliche Rechts­brecher im Massnahmen­vollzug lebenslang wegzusperren, und «im Kampf gegen den politischen Islam und der ideologischen Grundlage dahinter» sollte die gesetzliche Grundlage für «einen Straf­tatbestand ‹Politscher Islam›» geschaffen werden, wie Bundeskanzler Kurz offiziell erklärte.

Strafrechts-, Opferschutz- und Resozialisierungs­expertinnen schlugen sofort Alarm. Sie warnten, dass derartige «emotionale Schnell­schüsse» die Grund­rechte aushöhlen würden. Leute elektronisch zu überwachen, die ihre Strafe vollständig abgesessen haben, sei verfassungs­rechtlich bedenklich.

Ebenso wenig verfassungs­konform sei wohl die Unterbringung von potenziellen Rückfall­tätern im Massnahmen­vollzug, den die ÖVP als Präventiv­haft bezeichnet. In der Regel könne man terroristische Täterinnen schliesslich nicht als psychisch krank bezeichnen.

Es kommt hinzu, dass der Massnahmen­vollzug zu den grossen Baustellen der österreichischen Justiz gehört. Zu wenig Personal und zu wenig Therapie­möglichkeiten führen dazu, dass die Insassen zu lange weggesperrt werden. Derzeit liegt die Auslastung mit 1264 Personen bei etwa 130 Prozent.

Grüne Feuerlöscher

Und die Grünen? Sie versuchten zu beruhigen. Während Kurz mit markigen Sprüchen den Law-and-Order-Mann gab, bemühte sich sein Vize Werner Kogler, den Populismus des Kanzlers in den richtigen Kontext zu rücken: «Ausdrücklich menschrechts­konform» sei das Gesetzes­paket und fusse auf der «Basis der Verfassung», so Kogler. Die grüne Justiz­ministerin Alma Zadić versicherte, dass eine elektronische Fuss­fessel für Terroristinnen nur bei bedingter Entlassung bis zum Ende der theoretischen Haft­zeit infrage kommen würde.

Die grüne Fraktions­präsidentin Sigrid Maurer stellte klar, dass bereits verurteilte Straftäter nicht im Massnahmen­vollzug landen, sondern analog zu gefährlichen Rückfall­täterinnen in einer Einrichtung unter­gebracht werden sollen, wenn sie weiterhin als radikalisiert und gefährlich betrachtet werden. Zudem soll es keinen Straftat­bestand geben, der nur auf eine einzelne Religion abziele, daher die Formulierung «religiös motivierter politischer Extremismus»: «Es geht um einen Straftat­bestand für eine Tat, nicht für eine Gesinnung.»

Sigrid Maurer ist geübt in der Rolle der Feuerwehr­frau. Wenn es für die Partei schwierig wird, rückt sie aus. In TV-Diskussions­sendungen verteidigt sie dann die grüne Haltung, erklärt, wie das zusammen­geht mit der ÖVP. Es ist eine undankbare Aufgabe. Im Gespräch ist ihr anzumerken, wie sehr sie das nervt.

«Die ständige Forderung der Distanzierung hat etwas Anti­demokratisches»: Sigrid Maurer, einstige Rebellin und heutige Fraktions­präsidentin der Grünen. Robert Jaeger/APA/AFP/Getty Images

Einst hochstilisiert zur feministischen Rebellin, steht Maurer heute für die grüne Anbiederung an die Kurz-ÖVP. Die Öffentlichkeit kennt Maurer als Chefin der österreichischen Studenten­vertretung, der ÖH, die 18 Monate Haus­verbot im Parlament bekam, weil sie mit ihren Kollegen während einer Budget­debatte Flug­zettel von der Besucher­galerie auf die Abgeordneten warf.

Man erinnert sich an das Bild, das sie als ausgeschiedene Parlaments­abgeordnete auf Instagram postete: mit Sektglas und ausgestrecktem Mittel­finger. Es war ihre Reaktion auf all jene, die sie mit Hass­mails eindeckten, nachdem sie unter anderem ihren Ex-Kollegen Peter Pilz, dem dessen ehemalige Assistentin sexuelle Belästigung vorwarf, als «erbärmlichen Sexisten» bezeichnet hatte. Als «Galions­figur gegen sexuelle Belästigung im Netz» wie sie der «Falter» nannte, wurde Sigrid Maurer spätestens im Mai 2018 auch über Österreichs Grenzen hinaus bekannt.

«Es wird oft behauptet, ich würde mich verbiegen. Das ist überhaupt nicht der Fall. Ich bin mit voller Überzeugung in diese Regierung gegangen», sagt Maurer, «und die Aufgabe einer Regierung ist, dass die Regierungs­arbeit funktioniert, daran orientiert sich mein Verhalten heute.»

Wie gut diese Zusammen­arbeit funktioniert, zelebriert sie mit ihrem Pendant, August Wöginger, dem ÖVP-Fraktions­präsidenten. In Interviews treten sie in trauter Eintracht auf, als Gust und Sigi. Sie streuen sich Rosen, loben die gegen­seitige Handschlag­qualität und Intelligenz, nehmen einander gar in Schutz. «Ich finde die Anforderung, sich möglichst viel zu streiten, ein bisschen problematisch», sagt sie. «Die ständige Forderung der Distanzierung hat einen Touch von Gesprächs­verweigerung und etwas Antidemokratisches.»

Kurz, die grüne Hebamme

Während die ÖVP ihren Spin gerne einmal gegen den Junior­partner richtet, zum Beispiel als Innen­minister Nehammer versuchte, die Schuldigen für den Terror­anschlag anfangs im grünen Justiz­ministerium zu lokalisieren, hielten sich die Grünen zurück. Sie bliesen nicht zum Gegen­angriff. Zeigten nicht auf die kaputten Behörden, die nur die Puzzle­teile hätten zusammen­legen müssen.

«Die Bevölkerung erwartet nach einem Terror­anschlag zu Recht kein Polit­hickhack, sondern Aufklärung. Im Bundes­amt für Verfassungs­schutz und Terrorismus­bekämpfung sind gravierende Fehler passiert, die von einer unabhängigen Untersuchungs­kommission aufgearbeitet werden – wir verfolgen hier einen seriösen Zugang», erklärt Maurer.

Fest steht: In den Umfragen halten sich die Grünen stabil. Die Wien-Wahl war keine Denkzettel­wahl, im Gegenteil. Und auch in Persönlichkeits­rankings stösst der eine oder andere Grüne den Umfragekaiser Sebastian Kurz gelegentlich vom Podest.

Geht die Strategie am Ende also auf? Birgt die Fokussierung auf die Nische Klima in Wirklichkeit die paradoxe Chance, über die Kern­klientel hinauszuwachsen? Hat Sebastian Kurz seinen kanten­losen und kompromiss­bereiten Junior­partner schliesslich dorthin gebracht, wohin dieser es aus eigener Kraft nie geschafft hätte: in die Breite?

Rein in die Breite der verwässerten Kompromisse

«So etwas wird es in Deutschland nicht geben», distanzierte sich die deutsche Grünen-Chefin Annalena Baerbock Anfang des Jahres von den österreichischen Partei­freundinnen. Nur in der Klima­politik Akzente zu setzen und beim Rest vor den Konservativen zu kapitulieren, sei für sie keine Blaupause für Deutschland. Heute, knapp ein Jahr später, mit Blick auf die Bundestags­wahl im Herbst 2021 und eine mögliche Regierungs­beteiligung, ist man auch bei den deutschen Grünen flexibler geworden.

«Raus aus einem engen Milieu und ein Angebot an die Breite der Gesellschaft machen» wolle man, umriss Grünen-Chef Robert Habeck am Parteitag Ende November das neue Grundsatz-Programm seiner Partei. Wer die Breite der Gesellschaft erreichen will, müsse weg von Maximalforderungen: Vom Klima­schutz bis zu internationalen Armee­einsätzen ohne Uno-Mandat müsse alles diskutabel sein. So geht eben Volks­partei: raus aus der Nische der reinen Lehre, rein in die Breite der verwässerten Kompromisse.

Wer regieren will, muss seine eigene Welt hinter sich lassen. Damit am Ende das «Beste» von ihr übrig bleibt. Ganz wie in Österreich.

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