Graue Welt: Zu Besuch im Zementwerk von Ciments Vigier nahe Biel.

1450 °C

Zement wird bei gewaltigen Temperaturen produziert und gibt dabei viel Kohlendioxid ab. Seit Jahren versuchen Firmen und Forscher den CO2-Ausstoss zu mindern. Genügt das – oder müssen wir fürs klimafreundliche Bauen komplett umdenken?

Eine Reportage von Norbert Raabe (Text) und Simon Tanner (Bilder), 02.12.2020

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Die Morgensonne lässt die Felsen der Jurakette milde leuchten; die Bäumchen darauf verdichten sich nach unten zu einem sattgrünen Waldstreifen. Ein Adler wäre schön. Doch ich bin nicht auf einer Wanderung, sondern unterwegs zu Ciments Vigier SA, einem der sechs Zementwerke der Schweiz.

Die Verantwortlichen werden mich dort auf einen Rundgang mitnehmen. Und mir erklären, was die Firma gegen das grösste Problem der Branche unternimmt: den enormen Ausstoss an klimaschädlichem Kohlendioxid.

Zwei Absagen und eine Einladung

Alleine hier, in Reuchenette-Péry nahe der Stadt Biel, wird gemäss Zahlen von 2014 jede hundertste Tonne an menschgemachten Treibhaus­gasen in der Schweiz ausgestossen. Nach einem kurzen Fussmarsch erreiche ich das Zementwerk, eine ausgedehnte Anlage mit einem grauen Betonkasten und zwei halbrunden Turmvorbauten, umgeben von Werkstätten und Lagern.

Werksleiter Olivier Barbery (49), leicht ergraut, empfängt mich im Konferenzraum mit seinem Stellvertreter Matthias Bürki (58). Gestandene Fachleute; ohne Corona gäbe es sicher einen festen, freundlichen Händedruck. Der Ausflug beginnt mit einer Präsentation: Was tut Ciments Vigier fürs Klima?

So einiges, erklären Barbery und Bürki:

  • Der Kohleverbrauch des Zementwerks wurde in den vergangenen Jahren stetig gesenkt.

  • Ein Drittel der Brennstoffe, die das Werk braucht, stammt aus Biomasse.

  • Die Firma produziert einen grossen Teil des nötigen Stroms mit eigener Wasserkraft.

  • Die Lastwagen für Zementlieferungen werden fast ausschliesslich mit Biodiesel betankt.

… und vieles mehr. Die Zementbranche steht unter Rechtfertigungsdruck.

Zwar haben die Schweizer Zement­fabrikanten beim Klimaschutz schon einiges erreicht. Seit 1990 hat die Industrie die CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen wie Kohle um rund zwei Drittel gesenkt. Doch das Hauptproblem liegt anderswo: Um Zement herzustellen, müssen die Rohstoffe Kalk und Ton zu sogenanntem Klinker gebrannt werden. Bei dieser chemischen Reaktion wird noch mehr Kohlendioxid freigesetzt als beim Betrieb der Brennöfen.

Ich will es genau wissen: Warum ist Zement klimaschädlich?

Zement wird aus den natürlichen Rohstoffen Kalkstein und Ton hergestellt, die häufig als Gemisch vorliegen und dann als Mergel bezeichnet werden. Sie werden gemahlen und anschliessend auf etwa 1450 Grad Celsius erhitzt, bis sie teilweise verschmelzen und der sogenannte Zementklinker entsteht, der abgekühlt und wiederum gemahlen wird. Bei der Umwandlung von gemahlenem Kalkstein (CaCO3) zu gebranntem Kalk (CaO) wird unweigerlich Kohlendioxid (CO2) freigesetzt. Gemäss dem Bundesamt für Umwelt wurden von den Schweizer Zementwerken im Jahr 2018 so rund 1,7 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr emittiert. Beim Betrieb der Öfen fielen zusätzliche 0,7 Millionen Tonnen CO2 an. Zusammen entspricht das gut 5 Prozent der landesweiten CO2-Emissionen.

Zementhersteller zählen also zu den grössten Klimatreibern. Dass mich Ciments Vigier dennoch ins Werk einlädt, hat mich überrascht. Zuvor hatte Jura Cement, eine andere Produzentin, einen vereinbarten Termin kurzfristig platzen lassen. Und Holcim Schweiz, die grösste Schweizer Fabrikantin, sagte nach einer anfänglichen Zusage wieder ab – mit der Begründung, das Republik-Publikum sei «nicht das Richtige für uns».

Die Werksleiter bei Ciments Vigier haben mit dem Blick in den Betrieb aber kein Problem. «Wir haben umweltmässig das beste Zementwerk in der Schweiz», sagen sie. Und: «Wir haben nichts zu verbergen.»

Zementwerke sind Allesfresser

Endlich geht es los mit der Besichtigung. Wir starten auf den Weg zum nahe gelegenen Steinbruch Tscharner, wo Spezialisten zwei Gesteins­sorten aus dem Jura sprengen: Kalkstein und Mergel, der neben Kalk auch Ton enthält. «Es wird rumplig!», warnt Matthias Bürki, als wir losfahren, ausgerüstet mit Helmen, Staubschutz­brillen und Corona-Masken.

Über steinige Serpentinen geht es hinauf. Ganz oben ein bewaldeter Bereich, darunter grüne Fläche mit Renaturierungs­zonen – und darunter die offene Bergflanke: gelblich-grauer Kalkstein und Mergel in dunklem Grau. Geologische Massenware, doch die wichtigsten Zutaten für Zement.

Lange Tradition in der Zementherstellung:
Seit 1890 produziert Ciments Vigier …
… in der Klus von Reuchenette-Péry …
… wo im Steinbruch Tscharner das Material gewonnen wird.

Sechs Tage die Woche baggert und verlädt hier ein Team von rund zwanzig Leuten die Rohmasse in Mulden­kipper. Einer davon ist auf E-Antrieb umgerüstet: ein Motor zum Kippen und einer für den Antrieb, um die Bremsenergie bei der Abwärtsfahrt zu speichern. Das Gestein gelangt von hier aus in einen unterirdischen Steinbrecher, der es zerkleinert, und dann auf einem Transport­band durch einen Tunnel zum Zementwerk.

Auf dem Weg zurück ins Werk erscheint zur Rechten ein schwarzer Hügel: Steinkohle aus Südafrika. Sie wird zum Beispiel dann benötigt, wenn der Ofen nach einer Revision wieder angefahren wird. Erst wenn er auf Touren läuft, können andere Brennstoffe die CO2-Bilanz aufbessern: Altholz oder Tiermehl, die als klimaneutral gelten, oder auch Altöl, Lösungsmittel, Kunststoffe oder getrockneter Klärschlamm.

«Sie hätten den Berg früher sehen sollen», sagt Werksleiter Barbery, «der war gigantisch!» Über die Jahre ist der Anteil fossiler Brennstoffe wie Kohle, die Vigier bei der Zement­produktion verfeuert, stetig geschrumpft. Kommendes Jahr soll der Kohleberg sogar ganz verschwunden sein. Und der Anteil biogener Brennstoffe soll von heute 30 dereinst auf 50 Prozent steigen.

Einen Steinwurf weiter kippt ein Schwerlaster dunkles Material ab. «Matières premières alternatives» besagt das Schild an diesem Lagerplatz – «alternative Rohstoffe». Gleich daneben lagern bräunliche und graue Haufen, die Eisen- und Aluminium­oxide enthalten – Zutaten, die man dem Gemisch in kleinen Mengen beigibt. «Für den Zement sind sie wie Pfeffer und Salz», erklärt Barbery.

Auch wenn das Gestein gleich vor der Haustür liegt: Viele Rohstoffe werden dem Werk zugeliefert. Die Zementbranche ist über die Jahre immer mehr zum Materialverwerter geworden. Flugasche aus Kohle­kraftwerken, Hüttensand aus der Roheisen-Herstellung und weitere Ersatzstoffe werden in der Produktion verwertet, sowohl aus Kosten­gründen als auch für den Umweltschutz.

Am grundsätzlichen Klimaproblem ändert das aber nichts.

Die fatale Brennreaktion

Zwar werben Hersteller längst mit umwelt­freundlicheren Baustoffen. Jura Cement hat beispielsweise einen «Eco»-Zement im Angebot, und Holcim wirbt mit dem Produkt «Susteno», das auch im «ersten klimaneutralen Beton» des Fabrikanten steckt. Doch diese Rechnung geht nur auf, weil ein wesentlicher Teil der CO2-Belastung durch Klimaprojekte kompensiert wird.

Kurzum: Es ist noch keine klimaneutrale Patentlösung in Sicht.

Im Labyrinth der Rohre.

Im Werk wird es lauter und wärmer, je näher wir dem Zentrum kommen. Und staubiger. Per Aufzug und über Treppen geht es auf und ab durch die gewaltige Fabrik. Die beiden Werksleiter weisen den Weg durch das Labyrinth. Olivier Barbery trägt dem Fotografen, der für die Republik eine Bilderserie schiesst, frohgemut das Stativ hinterher.

Hier: ein grüner Stahlkanal, der bis auf 70 Meter Höhe steigt. Es ist eine neue Zuleitung für Altholz, um die Flamme des Drehofens zu füttern – mit einem grösseren Durchmesser, um nicht mehr nur Holzschnitzel, sondern auch grössere Stücke des Bio-Brennstoffs verbrennen zu können.

Und dort: der sogenannte Vorkalzinator, der die Hitze verstärkt und die Stirn noch feuchter macht. Er treibt dem Gesteinsmehl mit bis zu 1000 Grad vor dem eigentlichen Brennen das Wasser und den grössten Teil des CO2 aus. Dieses «Vorbacken» spart 20 bis 30 Prozent Energie ein. So eine Anlage, sagt Matthias Bürki mit einem Anflug von Berufsstolz, «hat übrigens nicht jeder Hersteller in der Schweiz».

Schliesslich, endlich, der Drehrohr­ofen. Schwerst­industrie: 68 Meter lang, 4,40 Meter im Durchmesser; er rotiert gemächlich, Tag und Nacht. Hier wird es tropisch, die Wangen röten sich, und Matthias Bürki wacht mit Habichts­augen über unsere Sicherheit. Hinter dem Ofen wartet ein wuchtiger Behälter mit Sichtfenstern auf die glühende Masse darin – der Klinkerkühler, der das Material schlagartig abkühlt, um die Reaktion zu stoppen.

Zuletzt wird das Material fein gemahlen, mit Kalk und etwas Gips vermischt und in Silos gefüllt, bereit zum Abtransport. «Wir sind nicht mehr weit entfernt vom Maximum, was wir tun können, um die Emissionen zu mindern», sagt Barbery. Vollständig klimaneutral werde ein Zement aber nie sein.

Eine Frage des Preises

Dass Zement ein Klimatreiber bleiben wird, betonen Umweltverbände seit langem. Auf Zement – beziehungsweise dem CO2, das bei dessen Produktion ausgestossen wird – müssten deshalb höhere Steuern erhoben werden, fordert etwa WWF Schweiz. So, dass der Baustoff in Zukunft mindestens das Doppelte kosten würde. Die Einnahmen aus dieser CO2-Besteuerung liessen sich nutzen, um die Entwicklung klimaverträglicher Sorten voranzutreiben.

Einen Preis auf CO2 gibt es bereits heute. Er kommt im EU-Handel mit CO2-Zertifikaten zustande, dem die Schweiz dieses Jahr beigetreten ist. Doch dieser Preis ist zu niedrig. Das sagen nicht nur Umweltschützer, sondern auch Jan Jenisch, Chef des Zementkonzerns Lafarge-Holcim. 25 Euro pro Tonne Kohlendioxid seien ein zu geringer Ansatz, um in den Klimaschutz zu investieren, meinte er im März in einem Interview. 50 Euro wären besser.

Ganz gleich, wie sich der CO2-Preis im Emissionshandel entwickelt: Auf Hersteller wie Ciments Vigier warten knifflige Aufgaben. Einerseits ein hoher Investitionsbedarf in Sachen Umwelt – vielleicht sogar, um in Zukunft sogenannte Carbon-Capture-Anlagen zu installieren und einen Teil des Kohlendioxids «einzufangen». Und andererseits wohl ein schwieriger Markt.

«Wir müssen nicht denken, dass wir in Zukunft noch so viel Zement produzieren wie heute», sagt Olivier Barbery, als wir von unserer Tour zurück sind, bei Kaffee und Schoggi­täfeli im Konferenzzimmer. «Ich glaube nicht, dass es 2050 noch sechs Zementwerke in der Schweiz gibt.»

Langfristigen Struktur­wandel ist die Branche gewohnt. 1986 gab es laut Industrieverband Cemsuisse in der Schweiz noch 11 Werke, 1965 sogar noch 17. Die Zukunft des Baustoffs ist ungewiss – zumal es auch technologische Alternativen gibt.

Zement aus dem Forschungslabor

An solchen Alternativen wird auch in der Schweiz geforscht. Zum Beispiel an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungs­anstalt (Empa). Chemiker Frank Winnefeld und seine Mitstreiter arbeiten dort an einem aussichtsreichen Material: «Olivin-Zement». Es basiert auf einem grünlichen Mineral, das in Norwegen und anderswo an die Erdoberfläche gelangt ist.

Das Besondere an Olivin ist: Es bindet Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Normalerweise geht dieser Prozess sehr langsam vor sich. Doch er lässt sich beschleunigen, in einem luftdichten Metall­behälter unter Druck und grosser Hitze. Aus dem Rohmaterial plus CO2 entsteht so eine Substanz, die später für den Zement gebrannt wird. Bei diesem Vorgang tritt dann zwar Kohlendioxid aus – aber weniger, als zuvor chemisch gebunden wurde.

Ein CO2-negativer Zement!

Rund dreissig Menschen arbeiten gewöhnlich in Winnefelds Labor, im Nordost-Gebäude der Empa in Dübendorf. Doch coronahalber sind die Räume fast verwaist. Und so muss der Mittfünfziger heute selbst den Kittel anlegen, um Materialien zu mischen. Die wichtigsten Zutaten stehen schon auf dem Stahltisch bereit: zwei Schälchen mit hellen Pulvern und eine genormte Sandmischung.

Mischen, rühren, trocknen, zertrümmern

Um ein Probestück herzustellen, geht Winnefeld nach der gleichen Prozedur vor wie bei herkömmlichem Zement. Mit Absicht, erklärt der Forscher: «Wir wollen ja möglichst nah am Produkt sein, mit dem wir vergleichen.»

Winnefeld hantiert mit einem wuchtigen Gerät, das an die Teig­knetmaschine daheim erinnert. Auch der Vorgang ist ähnlich: Erst die Flüssigkeit hinein, dann die Pulver. Eine halbe Minute rühren auf Stufe 1, dann den Sand hinein. Nochmals eine halbe Minute auf Stufe 2, dann Pause, noch mal rühren.

Fertig.

Ein prüfender Blick auf den Forschungsmörtel im Topf: Vielleicht ein klein wenig flüssig, brummt der Zementwerker, aber gewiss im grünen Bereich. Während er die Masse in stählerne Förmchen giesst und mit einer Stahlleiste glatt zieht, riecht es schon nach Zement. «Er härtet relativ schnell», sagt Winnefeld. «Wir nehmen solche Probekörper schon nach einem Tag heraus.»

CO₂-negativer Zement: Proben aus Olivin-Zement …
… hergestellt in den Versuchswerkstätten der Empa in Dübendorf.

Was der Olivin-Zement in der Praxis kann, zeigt sich zwei Räume weiter in der Prüfanlage. Werkstatt­leiter Janis Justs wiegt eins der Quader, prüft die Grösse, legt die Enden auf zwei Stahllager. Von oben drückt ein Stift exakt auf die Mitte – immer fester. Als es knackt, zeigt der Monitor 6,4 Megapascal an.

«Normaler Zement läge vielleicht bei 8 Megapascal oder so», sagt Winnefeld. Justs führt derweil den zweiten Test durch: Wie viel Druck von oben hält eins der Bruchstücke aus? Das Resultat erscheint nach einigen Sekunden: 24,5 Megapascal. Herkömmlicher Zement muss 32,5 Megapascal aushalten.

Olivin-Zement ist also weniger belastbar – aber doch, sagt Winnefeld, man könne durchaus ein Produkt daraus machen. «Wir zielen ja nicht auf einen hochstabilen Superbeton für Brücken oder schlanke Stützen.» Sondern auf weniger anspruchsvolle Anwendungen. «Zum Beispiel Gehweg­platten, Betonsteine, nichttragende Wände.» Masse statt Klasse, gewissermassen.

Noch ein weiter Weg

Anders als bei herkömmlichem Zement versteht man beim Olivin-Zement noch nicht genau, wie das Material überhaupt erhärtet. Sicher ist: Die Moleküle formen kein regelmässiges Gitter. Der Chemiker zeigt auf meinen Schreibblock: «Da formt sich also keine Struktur so wie bei diesen Kästchen.» Stattdessen seien die Verbindungen eher zufällig verteilt und daher schwieriger zu beschreiben.

An einen echten Beton – also Zement nicht mit Sand, sondern mit einem Kieselgemisch –, daran denken Winnefeld und sein Doktorand Alexander German deshalb noch gar nicht. Dieser Schritt ergibt erst Sinn, wenn das Prinzip verstanden ist. Und bis tatsächlich Olivin-Zement-Produkte im Baumarkt stehen, müsste erst auch ein Prozess für die Massenproduktion entwickelt werden.

Hinaus geht es zum Hintereingang, wo auch die Laborabfälle deponiert sind: ein Container für «Bauschutt», einer für «Recyclingbeton», gut gefüllt mit grauen Würfeln und Zylindern. Ein passender Ort für eine Kaffeepause. Und für einen Ausblick.

Wann wird Olivin-Zement einsatzbereit sein, Herr Winnefeld?
Im Industriemassstab vielleicht so um 2035 bis 2040, schätze ich.

Für die Klimaziele bis 2050 reicht das nicht ganz. Oder?
Nur schon der Schritt aus dem Labor zu einem Pilotprojekt birgt viele Schwierigkeiten. Das braucht einfach viel Zeit.

Und wie sind die wirtschaftlichen Aussichten von Olivin oder anderen alternativen Zementen?
Selbst wenn sich ein smartes Herstellungs­verfahren bewährt: Klassischer Zement ist einfach spottbillig und in grossen Mengen herstellbar. Alternative Zemente würden erst dann attraktiv, wenn sie preisgünstig wären oder wenn die heutigen Produkte deutlich teurer würden.

Depot für Laborabfälle bei der Empa.

Ich will es genauer wissen: Was für Alternativen gibt es?

Forschung und Industrie verfolgen zurzeit verschiedene Ideen.

1. Sogenannte CSA-Zemente («Calcium-Sulfo-Aluminat») könnten den CO2-Ausstoss um bis zu 20 Prozent senken. Versuchsprodukte gibt es schon. Aber es ist noch Forschung nötig. Und für deutliche niedrigere Emissionen braucht es einen grossen Anteil an chemischen Verbindungen namens «Ye’elimit» und damit Rohstoffe wie Bauxit, die viel Aluminium enthalten. Diese braucht es aber auch in der Aluindustrie. Eine Konkurrenz­situation, die den Preis hochtreiben könnte.

2. An der ETH Lausanne wurde vor etwa 10 Jahren ein Zement namens LC3 entwickelt («Limestone Calcined Clay Cement»), der rund 30 Prozent weniger Treibhaus­gas verursachen könnte. Spezielle, gebrannte Tone ersetzen darin bis zur Hälfte des gebrannten Klinkers. Der Zement liesse sich grundsätzlich in heutigen Werken fabrizieren. In Kolumbien wird schon produziert. Offen ist, wie lange er hält und ob er Frost auf Dauer erträgt. Und: Die rötliche Farbe könnte den Einsatz für sichtbare Betonflächen einschränken. Auch Hersteller Vigier untersucht die Möglichkeit, einen solchen Zement zu produzieren. In der Schweiz ist zwar kein grosses Vorkommen geeigneter Tone bekannt – doch in der Nähe von Nancy arbeitet der französische Mutterkonzern Vicat an einem Projekt.

3. Deutsche Wissenschaftler haben «Celitement» auf den Markt gebracht: einen Zement, der in einer Art Schnell­kochtopf hergestellt wird, bei womöglich halb so hohem CO2-Ausstoss wie mit heutigen Verfahren. Und an der ETH Zürich tüfteln Fachleute an einem «Erdbeton» auf der Basis von Lehm – ganz ohne Zement, aber nur begrenzt verwendbar.

4. Daneben gibt es «Alkali-aktivierbare Zemente». Industrie-Reststoffe wie Schlacken oder spezielle Gesteine und eine Aktivierungs­lösung reagieren dabei miteinander und bilden ein steinhartes Material. Der Ausstoss von CO2 wird durch dieses Verfahren um bis zu 70 Prozent reduziert. Aber: Noch müssen Forscher viele Fragen klären. Und das Verfahren ist Massenzement finanziell noch unterlegen.

5. Alternative Zemente könnten statt mit Wasser auch mit Kohlendioxid erhärten – wie beim Ansatz von «Solidia», der schon in der Praxis getestet ist. Aber: Das funktioniert nicht auf Baustellen vor Ort, sondern nur mit Fertigteilen in Fabriken, weil man den Rohstoff begasen muss.

6. Neben neuen Rezepturen und Verfahren arbeiten die Hersteller und Forscher auch daran, den «Sündenfall» rückgängig zu machen: Der Zement im ausgehärteten Beton reagiert mit CO– er will es zurück, wenn man so will. Dieser Vorgang vollzieht sich über viele Jahre, doch Forscher wie jene des ETH-Spin-offs Neustark tüfteln daran, diesen Prozess zu beschleunigen und zu nutzen.

Auf dem Rückweg von Dübendorf gerate ich ins Grübeln. China, Indien, Vietnam … nicht nur in der Schweiz und in den Industrieländern, sondern auf der ganzen Welt ist Beton der wichtigste Baustoff. Mehr als 4 Milliarden Tonnen davon werden jedes Jahr hergestellt. 4 bis 7 Prozent des weltweiten Ausstosses von Treibhausgasen gehen auf das Konto von Zement.

Wie viel davon liesse sich einsparen, mit besseren, alternativen Verfahren? Müsste ich wetten, würde ich sagen: im besten Fall die Hälfte. Das würde auch bedeuten: Die Baubranche muss auf einen Teil des Betons verzichten.

Und ganz andere Materialien einsetzen.

Ein Stadtteil im Baukastensystem

Zum Beispiel nachwachsende Rohstoffe wie Holz. Es bindet Kohlen­dioxid, braucht weniger Energie, um verbaut zu werden, lässt sich recyceln – und ist dank einiger architektonischer Leuchtturm-Projekte schon im Trend.

In Wien bekam zum Beispiel das 2019 fertiggestellte «HoHo» besonders lauten Applaus. Es ist mit 84 Metern das weltweit zweithöchste Holzhochhaus (nach dem Mjøstårnet in Brumunddal, Norwegen, mit 85,4 Metern). In der Schweiz entstanden seit 2015, als die Brandschutz-Bauvorschriften gelockert wurden, Holz­hochhäuser wie «Suurstoffi 22» in Risch-Rotkreuz. Ab Ende 2021 soll in Zug «Projekt Pi» landesrekordhohe 80 Meter in die Höhe wachsen.

Zugleich geht der Holzbau in die Breite. Für die Siedlung «Sue & Til» im Winterthurer Quartier Neuhegi, fertiggestellt im Herbst 2018, verzichteten die Konstrukteure ab dem ersten Stockwerk weitgehend auf Beton. Stattdessen bauten sie mit einer Viertelmillion vorgefertigter Holzteile: eine Stadtsiedlung im Minergie-Standard, mit bis zu fünf Stockwerken.

Im Zentrum steht das Holz: Auf der Baustelle «KIM» in Neuhegi, einem Stadtentwicklungsgebiet in Winterthur.

Erstaunlich: Holz ist dort nirgends zu sehen. Die helle Fassade verbirgt die Bauweise von aussen, und im Innern schützen Brandschutz­platten die Decken, Balken und Stützen. Wie das im Detail funktioniert, zeigt sich ein paar Dutzend Schritte weiter – hier wird gebaut: «KIM», eine gross angelegte Siedlung mit sieben Wohn- und Geschäftshäusern, die Platz für Hunderte Bewohner und Arbeitsplätze bieten wird. Eines davon das «Haus Furrer».

Innerhalb von zehn Monaten soll der Holz­rohbau fertig sein. Beda Weber (32), Bauleiter bei der Firma Implenia, führt über die Baustelle und erklärt das Prinzip. Alles kommt vormontiert: Wand­bausteine, fixfertig mit Brandschutz-Platten und Anschlüssen für Lüftung und Strom, Decken­platten aus Fichtenholz mit Aussparungen für die Stützen.

Das Motto: Hinstellen, befestigen, fertig! Wenn alles perfekt läuft.

Auf der obersten Holzdecke liegt ein Häuflein feiner Späne, vom Sägen oder Fräsen. «Da hat wohl eine Kleinigkeit nicht gepasst», sagt Weber mit Profihumor. Kann passieren. Soll es aber nicht, denn Zeit ist Geld, weil Holz kostspieliger ist als Beton – schon als Rohstoff, aber auch, weil der Schallschutz zwischen zwei Geschossen aufwendiger ist. Auf einer Holzdecke liegt eine zusätzliche Schicht aus dunklen Steinchen und Leim, die nötig ist, um später Trittgeräusche zu dämpfen.

Unter dem Strich liegen die Mehrkosten bei Projekten dieser Art laut Weber zwischen 2 und 4 Prozent. Im Gegenzug soll eine kurze Bauzeit dafür sorgen, dass Mieteinnahmen früher sprudeln. Für Weber und sein Team heisst das: knapp zwei Wochen pro Stockwerk.

Mehr Holz geht noch

Gerade schwebt ein Decken­bauteil am Kran herauf, lang und breit wie ein Lastwagen. Das Team fixiert es mit ellenlangen Schrauben auf den Wänden, x-förmige Holzkeile verbinden sie mit der Nachbar­platte: ein paar Schläge mit dem Vorschlag­hammer darauf; fertig, eine Sache von Minuten.

Beteiligt vor Ort sind sechs Fachleute. «Unter einem Kran reicht der Platz nur für fünf», erklärt Weber. Plus ein Polier, mit viel Erfahrung: Michael Menz (38) hat schon die Siedlung «Sue & Til» errichtet. Menz hat Holzbau auf traditionelle Art gelernt, trägt den Zimmermanns­hammer immer am Hosengurt. Um Nägel einzuschlagen, braucht er ihn freilich kaum noch, weil sich sein Handwerk rasant verändert hat: «Ich habe schon bei ‹Sue & Til› gestaunt, wie schnell wir eine unglaubliche Menge an Holz verbaut haben.»

5500 Kubikmeter Beton wird im «Haus Furrer» durch Holz vermieden. Das entspricht gut 1200 Tonnen an Treibhausgasen oder dem Jahres­ausstoss einer kleinen Siedlung: Die Zahlen sind schnell zur Hand, denn ursprünglich war ein Massivbau aus Beton geplant. Doch dann entschied man sich für Holz, um den anspruchsvollen Minergie-P-Eco-Standard zu erreichen.

Verbesserte Klimabilanz: Durch die Verwendung von Holz …
… werden grosse Mengen Beton gespart:
Auf der Baustelle «KIM» in Neuhegi.

Je stärker Klimaschutz in den Fokus rückt, desto schneller könnte Holz zum Standard werden. Daran glaubt Beda Weber durchaus – vorausgesetzt, die Bauwerke sind ästhetisch und wirtschaftlich. Doch andere Fachleute sind skeptisch. Beim Klima seien alle Faktoren zu berücksichtigen, erklärte die Expertin Karen Scrivener von der EPFL in einem Interview: Bäume fällen, Holztransporte, jede Menge Leim, um die vielen Holzschichten zu komplexen Bauteilen zu verbinden. Und natürlich die Recycling-Frage.

Vorbei an «Sue & Til» zum Baubüro, wo trotz Digitalisierung noch immer papierne Arbeitspläne und Zeichnungen an den Wänden hängen. Ja, das Recycling, überlegt Weber: Am besten wäre natürlich, wenn die Elemente nach Gebrauch nicht als Brennstoff enden, sondern wieder verwendet werden, damit der «eingewachsene» CO2-Anteil gebunden bleibt. Doch alle Bauteile? Kann man sicher nicht verwerten. Immerhin: Bei den heiklen Leimen gebe es schon ökologische Produkte, die ein Recycling erleichtern.

Doch hätte es überhaupt genug Holz? Gerade gestern habe er mit einem Experten darüber gesprochen, erzählt Weber: In den Schweizer Wäldern gebe es pro Jahr ungefähr doppelt so viel nachwachsendes Holz, wie letztes Jahr im Holzbau verbraucht wurde. Das passt zu den Zahlen, die der Interessen­verband der Schweizer Holzwirtschaft liefert: Ein Marktanteil von 30 Prozent für den Holzbau wäre ohne weiteres möglich, meint er.

Und wenn die Nachfrage dieses Mass übersteigt? Weber legt die Stirn in Falten. «Bei einer echten Massenfertigung wären die Ressourcen vielleicht wirklich begrenzt», sagt er nach kurzem Grübeln. «Wenn das auch in Deutschland und Österreich eintritt, könnte es schon knapp werden.»

Sind damit nicht alle Mühen für die Füchse?

Zu Fuss marschiere ich zurück zum Bahnhof, vorbei an einem grauen Fünfstock-Klotz, entlang einer Böschung, die eine trist verwitterte Betonwand sichert – Beton, wohin das Auge blickt. Darin Zement mit all seiner Klimalast, ohne die das Bauen auch in Zukunft schlicht undenkbar ist.

Was tun? Auf der Zementreise durch die Schweiz war das ratlose Schweigen manchmal laut zu hören. Es wird einen langen, langen Atem brauchen. Und unter dem Strich: sauberer machen, schlauer machen, teurer machen, weniger machen. Und nach Gebrauch, bitte sauber machen.

Zwei Präzisierungen: Der Steinbruch von Ciments Vigier heisst nicht «Steinbruch von Tscharner», sondern einfach Steinbruch Tscharner. Und im Bild sind Proben aus Olivin-Zement dargestellt, nicht «aus Olivin». Wir bedanken uns für den Hinweis und haben die Stellen angepasst. Zudem schrieben wir in einer früheren Version, es gebe ungefähr doppelt so viel Vorrat, wie letztes Jahr im Holzbau verbraucht wurde. Richtig ist, dass es sich dabei um doppelt so viel «nachwachsendes Holz» handelt. Wir entschuldigen uns für die Fehler.

Zum Autor

Norbert Raabe ist gelernter Ingenieur und Journalist. Er hat als Redaktor für die «Sonntags­Zeitung», den «Tages-Anzeiger» sowie fürs Schweizer Radio und Fernsehen gearbeitet. Reportagen, Porträts und Berichte von ihm erschienen in «GEO», «Die Zeit» und «Das Magazin». Er lebt als freischaffender Autor in Zürich und schrieb für die Republik zuletzt über den Traum vom sauberen Fliegen.

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