Wie geht Populismus? Und wie geht es mit dem Meister des Populismus weiter? Leon Neal/Getty Images

Der Brit-Populist

Trump ist gescheitert, ist Boris Johnson der Nächste? Über die Zukunft Grossbritanniens und seines Premiers nach dem Brexit.

Von Helene von Bismarck, 27.11.2020

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Als die Briten 2016 für den Brexit stimmten und Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, begann man, von einer populistischen Welle in der westlichen Welt zu sprechen. Jetzt wurde Trump abgewählt, und das Brexit-Verfahren steuert an Silvester 2020 auf seinen endgültigen Abschluss zu. Wird jetzt also alles wieder gut? Oder zumindest ein Stück weit normal?

Was Grossbritannien angeht, lautet die Antwort klar: Nein.

Man sollte sich von einem Ende der Verhandlungen mit der Europäischen Union nicht das Ende des britischen Populismus erhoffen. Denn dieser ist keine Ideologie oder Glaubens­richtung, die sich mit dem britischen Austritt aus der EU erübrigt hätte. Er ist eine politische Methode, die nicht nur in Brexit-Fragen, sondern auch bei Themen wie Pandemie, Migration, Kultur und dem Umgang mit der britischen Geschichte zur Anwendung kommt.

Die zentralen Elemente dieser Methode sind die Emotionalisierung und die Vereinfachung komplexer Sach­verhalte – und das Beschwören von Feind­bildern im Inneren und Äusseren. Die Grund­prinzipien der Demokratie und des Rechts­staats werden angegriffen. Populistische Politiker profitieren, sei es in der Regierung oder in der Opposition, von bereits bestehenden Spaltungen in der Gesellschaft – zugleich treiben sie diese weiter voran. Die Aggressivität und die Ober­flächlichkeit ihrer Rhetorik lenken dabei von ihrer Inkompetenz in vielen Sachfragen ab.

Prominentester Vertreter des britischen Populismus ist Premier­minister Boris Johnson. Über ihn ist viel geschrieben worden. Johnson habe eine schlimme Kindheit gehabt, heisst es etwa in einer kürzlich erschienenen Biografie. Dieser psychologische Ansatz ist unzureichend, um zu verstehen, wie sich das Vereinigte Königreich seit dem Referendum verändert hat und wo der Premier­minister sein Land nach dem Brexit hinsteuern wird.

Denn das hängt nicht so sehr von Johnsons Charakter ab und auch nicht von seinen tief liegenden Überzeugungen zum Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU (soweit er überhaupt welche hat). Entscheidend ist vielmehr die Art und Weise, wie in Gross­britannien heute Politik betrieben wird. Es hängt vom Politstil ab, den Boris Johnson pflegt, und von der Mentalität jener Kräfte, die seinen Aufstieg ermöglicht haben.

Der Lieblingsfeind: EU

Der Populismus ist auf Feind­bilder angewiesen – er braucht sie, um sich selbst zu legitimieren und von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.

Was die äusseren Feinde angeht, so bot die EU in Gross­britannien bislang das beliebteste Ziel. Der euro­skeptische Flügel der Tory-Partei hat bereits Jahrzehnte vor Johnsons Einzug in der Downing Street gegen sie Stimmung gemacht. Johnsons Vorvorgänger David Cameron sah das Referendum ursprünglich als Mittel, um die inneren Kämpfe bei den Tories zu beenden und das Land hinter einer Entscheidung für den EU-Verbleib zu einigen.

Erreicht hat er das Gegenteil: Seit 2016 wurde die inner­britische Debatte um den Austritt zunehmend hysterischer geführt. Kriegs­rhetorik und absurde historische Analogien, ein bevorzugtes Stilmittel von Boris Johnson und anderen Vertreterinnen des härtesten Brexit-Lagers, taten dabei ihr Übriges. Das krasseste Beispiel hierfür war die Unterstellung, die europäische Integration sei nur die Fortsetzung von Hitlers Expansions­politik mit anderen Mitteln. Unvergessen ist aber auch der Vergleich, den Jeremy Hunt zwischen der EU und der totalitären Sowjetunion herstellte; er war damals Aussenminister.

Bald ist die Brexit-Übergangs­phase jedoch abgeschlossen, die im Januar 2020 in Kraft trat und über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs hinaus Kontinuität garantiert hatte. An ihre Stelle soll ein Handels­abkommen treten, das die EU und Gross­britannien in diesen Tagen fertig aushandeln wollen.

Über Nacht verschwinden wird die Anti-EU-Rhetorik, die sich Johnson in den letzten Jahren zu eigen gemacht hat, danach sicher nicht. Aber der Zeitpunkt wird kommen, wo es innenpolitisch immer schwieriger wird, die eigenen Probleme weiterhin der Europäischen Union anzulasten.

Bist du nicht für mich, bist du gegen mich

Was dem Premier­minister dann aber erhalten bleibt, sind die inneren Feind­bilder, die er bereits seit dem Referendum von 2016 und verstärkt seit seiner Amts­einsetzung im Sommer 2019 beschwört. Sein Furor richtete sich mit Unter­stützung zahlreicher Medien bereits gegen das Parlament, die Beamten, Richterinnen und Anwälte, Expertinnen und Intellektuellen jeglicher Spezialisierung, gegen die BBC, ja sogar gegen die Church of England – immer dann, wenn sie es wagten, die Regierungs­politik zu hinterfragen.

Anstatt auf Sach­argumente einzugehen, diskreditieren Johnson und seine Weggefährten dabei all jene, die die Handlungs­freiheit der Exekutive – und sei es nur durch Nachfrage – einschränken, als «Aktivistinnen» und werfen ihnen mangelnde Neutralität und niedere politische Motive vor.

Die Johnson-Regierung stellt sich als Fürsprecherin der einfachen Leute, ja sogar des allgemeinen, wahren «Volks­willens» dar. Sie inszeniert den Austritt aus der EU als grossen Neubeginn, welcher den Briten endlich die Unabhängigkeit und die Freiheit gebe, alles, was gesellschaftlich schiefläuft, zu verändern und den Geboten des «gesunden Menschen­verstands» zu folgen.

Bislang hat diese Taktik für Johnson gut funktioniert. Er ist Premier­minister geworden, indem er sich an die Spitze einer Bewegung gestellt hat, die nicht nur der EU, sondern den «kosmopolitischen Eliten» den Kampf angesagt hat. Dahinter steht der Vorwurf, das Land sei zu lang von einer Schicht beherrscht worden, die den Bezug zu den «kleinen Leuten» oder, noch platter, «zum Volk» verloren habe.

Es ist richtig, dass eklatante soziale und regionale Ungleichheiten in der britischen Gesellschaft ein wirkliches Problem darstellen. Im Wahlkampf von 2019 versprach Johnson als Anführer der konservativen Tories denn auch, die extremen Wohlstands­unterschiede einzuebnen. Damit gelang es ihm, die sogenannte «rote Mauer» im Norden Englands zu durchbrechen und viele traditionelle Labour-Wahlkreise für sich zu gewinnen.

Dass die Konservativen seit einem Jahrzehnt die Regierung stellen und somit eine Mitverantwortung für die Probleme tragen, wurde von Johnson allerdings stets ausgeblendet. Bezeichnend ist auch, dass es innerhalb der populistischen Bewegung wimmelt von durchaus privilegierten Persönlichkeiten. Johnson selbst stammt aus der Metropole London, hat das Eliteinternat Eton besucht und zitiert in Reden gerne antike Literatur.

Heuchelei, das zeigt sich hier gut, ist eben auch ein Merkmal des Populismus.

Angriffe auf demokratische Institutionen

Eine weitere, besonders beunruhigende populistische Technik sind Attacken auf die Institutionen der Demokratie und des Rechts­staats, wenn diese es wagen, die Macht der Exekutive einzugrenzen. Als angeblich konservativer Premier­minister hat Boris Johnson rege davon Gebrauch gemacht.

Einen frühen Höhepunkt erreichte Johnsons Verachtung für die parlamentarische Demokratie, als er das Unterhaus im Sommer vor einem Jahr unter faden­scheinigen Ausreden in die Zwangs­pause schickte, um sich die Möglichkeit eines No-Deal-Brexits offenzuhalten.

Als der oberste Gerichtshof urteilte, dass diese Entscheidung unrechtmässig gewesen und rückgängig zu machen sei, zog er nicht etwa die einzige Konsequenz, die einem Politiker mit Respekt für die Verfassung möglich gewesen wäre – nämlich zurückzutreten. Stattdessen verkündeten seine Unterstützerinnen, die Richter hätten aus politischen Motiven gehandelt und in Entscheidungen eingegriffen, die nur das Parlament etwas angingen. Die Absurdität dieses Arguments, das die Parlaments­souveränität im gleichen Moment beschwor, in dem diese von der Regierung aktiv untergraben wurde, ignorierten sie geflissentlich. Politisch geschadet hat Johnson die ganze Episode überhaupt nicht. Nur zwei Monate später wurde er in den Unterhaus­wahlen mit einer starken Mehrheit als Premier­minister bestätigt.

Die Brexiteers haben seit dem Referendum Richterinnen und Anwälte gerne als «Feinde des einfachen Volkes» bezeichnet und die «Entpolitisierung» des Rechts­systems gefordert. Im Moment erlebt diese Taktik eine Neuauflage.

Dies zeigt sich anlässlich des britischen Binnenmarkt­gesetzes, das die Regierung kürzlich ins Parlament eingebracht hat. Dieses Gesetz steht im direkten Widerspruch zu dem vor rund einem Jahr unterzeichneten Brexit-Abkommen mit der EU. Zudem enthält es eine Klausel, die es vor Gericht unanfechtbar macht. Letzteres veranlasste Lord Neuberger, ein früheres Mitglied des obersten Gerichts­hofs, zur Aussage, ein Land, in dem die Regierung davor geschützt sei, sich vor Gericht verantworten zu müssen, befinde sich «auf dem Weg in die Diktatur». Das Oberhaus des Parlaments verabschiedete eine Stellung­nahme, dass die Gesetzes­vorlage den Rechts­staat gefährde. Es lehnte das Binnenmarkt­gesetz schliesslich ab.

Beeindruckt hat dies die Regierung wenig. Sie scheint das Gesetz als Verhandlungs­taktik anzusehen, um die EU zu Konzessionen bei einem Freihandels­abkommen zu bewegen – ungeachtet des Reputations­schadens in Europa. Selbst wenn die umstrittenen Klauseln am Ende abgemildert oder sogar gestrichen werden sollten: Der Schaden, den die Regierung dem Prinzip der Rechts­staatlichkeit durch diese öffentliche Missachtung zugefügt hat, ist schwer von der Hand zu weisen.

Ihre Herablassung gegenüber Rechts­staatlichkeit und Judikative zeigt die Regierung auch in ihrer Rhetorik zur Asyl- und Migrations­politik. Auf dem Tory-Parteitag im Herbst verkündete die Innen­ministerin Priti Patel, dem «Missbrauch» des Einwanderungs­systems durch «linke Rechts­anwälte und andere Gutmenschen» einen Riegel vorschieben zu wollen. Johnson schloss sich ihrer Einschätzung wie auch ihrer Wortwahl ausdrücklich an.

Dies veranlasste eine Gruppe von über 800 Richterinnen, Jura­professoren und Rechts­anwältinnen, sich in einem offenen Brief an die Regierung über diesen rhetorischen Angriff auf den Rechts­staat und die Verunglimpfung ihres Berufs­standes zu beschweren. Johnson lehnte eine Entschuldigung ab.

Ein radikalisiertes Umfeld

Ganz wichtig ist: Ein Populist existiert nicht in einem Vakuum – auch nicht in Grossbritannien. Boris Johnsons Angriffe auf Institutionen und Prinzipien der Demokratie wären folgenlos, wenn sie nicht von seiner Partei, seinen Wählern und einem signifikanten Teil der Presse getragen oder zumindest achselzuckend toleriert werden würden. Das beste Beispiel für die Verantwortung der Gehilfinnen und Möglich­macher des britischen Populismus sind die Tory-Abgeordneten, die im Unterhaus praktisch geschlossen für das Binnenmarkt­gesetz stimmten, obwohl es internationales Recht bricht.

Johnsons politische Heimat, die Konservative Partei, hat sich in den letzten Jahren zu einer Gruppierung entwickelt, in der von der harten Brexit-Linie abweichende Stimmen nicht länger geduldet werden. Der bewahrende Grund­gedanke eines klassischen Konservatismus ist für die heutigen Tories kaum mehr von Bedeutung.

Moderate Politikerinnen, die Johnsons radikalen Kurs nicht mittragen wollten – etwa David Gauke und Dominic Grieve, zwei ehemalige Abgeordnete, oder die ehemalige Innen­ministerin Amber Rudd –, wurden im dramatischen Wahljahr 2019 trotz ihrer jahrzehnte­langen Erfahrung aus der Partei gedrängt. Johnson zur Seite steht stattdessen ein Kabinett, dessen Mitglieder nicht auf der Grundlage ihrer fachlichen Kompetenz oder politischen Erfahrung, sondern anhand ihrer persönlichen Begeisterung für einen möglichst harten Brexit ausgewählt worden sind.

Doch nicht nur Johnsons unmittelbare Entourage wird anhand ihrer Loyalität ausgesucht. Der Premier­minister hat auch in sechs wichtigen Ministerien – unter anderem im Aussen­ministerium, im Cabinet Office und im Innen­ministerium – die Permanent Under-Secretaries ausgetauscht. Also jene Spitzen­beamten, die in der Hierarchie direkt unter den Ministerinnen stehen und zur politischen Neutralität verpflichtet sind.

Ein oder zwei solcher Versetzungen wären nach einem Regierungs­wechsel nichts Ungewöhnliches. Sechs ergeben jedoch ein anderes Bild. In der Pro-Brexit-Presse hält sich seit dem Referendum das Klischee, die britische Beamtenschaft sei elitär und europhil. Johnson benutzt dies als Vorwand, um seine eigenen Leute in der Verwaltung zu installieren – und dort zu halten.

Als im Sommer ein Skandal um die britische Matura das Land erschütterte, bei dem Schüler aufgrund eines fehlgeleiteten Algorithmus viel zu tiefe Noten erhielten, trat der Bildungs­minister nicht etwa zurück. Es war der Permanent Under-Secretary des Ministeriums, der gehen musste.

Die Johnson-Regierung hat das Grund­prinzip, dass vom Volk gewählte Ministerinnen und nicht die Beamtenschaft die Verantwortung für politische Fehlentscheidungen zu tragen haben, de facto ausser Kraft gesetzt.

Der Populismus nach dem Brexit

Angesichts des schweren Verlaufs der Corona-Pandemie wird die Kritik am Premier­minister in letzter Zeit lauter. Allerdings wird Johnson von Teilen der Tories aus völlig anderen Gründen kritisiert als von der Labour-Partei: Während die Opposition ihm Fahrlässigkeit im Umgang mit dem Virus vorwirft und für mehr Einschränkungen des öffentlichen Lebens bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Unter­stützung plädiert, geht Johnson vielen Konservativen deutlich zu weit. In Corona- und Lockdown-Fragen steht der Premier­minister also nicht am Rand des politischen Spektrums.

Dort steht vielmehr der frühere Leiter der Brexit-Partei, Nigel Farage. Er hat Anfang November die Gründung einer «Anti-Lockdown»-Partei verkündet. Farage hat langjährige Erfahrung darin, konservativen Parlamentariern in ihren Wahl­kreisen das Leben schwer zu machen. Er wurde zum Schreck­gespenst vieler Tories, was diese schon in Brexit-Fragen zu einem harten Kurs bewogen hat. Und tatsächlich haben einige Tory-Abgeordnete vor wenigen Tagen die «Covid Recovery Group» gebildet: eine Fraktion, um die Lockdown-Skeptikerinnen innerhalb der Partei zu repräsentieren.

Auf ein Ende des britischen Populismus zu hoffen, wäre in dieser Situation naiv. Denn die Angst der Bevölkerung um die eigene Gesundheit und die wirtschaftliche Existenz ist real – und die Folgen dieser Pandemie werden noch viele Jahre spürbar sein. Demgegenüber wird der Staat beim Versuch, Abhilfe zu schaffen, zwangsläufig an seine Grenzen stossen. All dies verstärkt die Attraktivität einer populistischen Politik, die Komplexität ins Lächerliche zieht, mit Institutionen nach Bedarf verfährt und den Menschen durch den Aufbau von Feind­bildern ein Ventil für ihre Angst und ihre Frustration bietet.

Wenn Ende des Jahres die Brexit-Übergangs­phase ausläuft, wird somit sicher keine Ruhe im Politik­betrieb einkehren. Zumal die wirtschaftlichen Folgen eines EU-Austritts für Bürger und Unternehmen dann zum ersten Mal spürbar werden – selbst wenn ein Handels­abkommen bis dann in Kraft ist.

Angesichts dieser doppelten Krise ist – ganz unabhängig von Johnsons psychologischem Profil oder seiner Popularität als Person – nicht zu erwarten, dass sich der Brexit als Wende­punkt erweisen wird. Der Schaden, welchen der Populismus der politischen Kultur und den rechts­staatlichen Institutionen zugefügt hat, bleibt bestehen. Der Populismus selbst auch.

In einer früheren Version schrieben wir von einer Abstimmung, bei der die Tory-Abgeordneten «geschlossen» stimmten. Richtig ist, dass sie «praktisch geschlossen» stimmten. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

Zur Autorin

Helene von Bismarck ist Historikerin und Autorin. 2013 erschien ihr Buch «British Policy in the Persian Gulf, 1961–1968», zur Zeit arbeitet sie an einem Buchprojekt über Margaret Thatcher und Jacques Delors. Sie lebt in Hamburg.

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