Die Fieberkurven der Corona-Rezession
Selten war eine Wirtschaftskrise so schwierig zu verstehen. Das liegt auch an den Daten, mit denen der Konjunkturverlauf abgebildet wird. Sie zeigen – je nach betroffenen Branchen und Produkten – die sehr unterschiedlichen Covid-Auswirkungen.
Von Simon Schmid, 23.11.2020
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Die zweite Welle ist da. Und sie ist mindestens so heftig wie die erste. Seit Anfang Oktober sind in der Schweiz so viele Menschen mit einer Corona-Ansteckung gestorben wie im Frühling. Die Spitäler sind am Anschlag.
Interessanterweise spiegelt sich dies noch kaum in den Wirtschaftsdaten. Anders als bei der Gesundheit ist die zweite Corona-Welle in den Zahlen, mit denen sich die Konjunktur verfolgen lässt, bisher wenig erkennbar.
Ein Rätsel in den Daten
Beispielhaft zeigt sich dies an einem Indikator, den wir in diesem Briefing bereits detailliert vorgestellt haben: der sogenannten F-Kurve, die zwei Schweizer Ökonomen im Frühling entwickelt haben. Sie zeigt auf Tagesbasis gewissermassen den «Fieberstand» der Wirtschaft an. Anders als im März und April fiel diese Kurve im Oktober kaum nach unten ab. Die Wirtschaft, so scheint es, ist von der zweiten Corona-Welle nur marginal betroffen.
Seit geraumer Zeit ist zwar die Grundstimmung mies. Aber abgesehen davon scheint die Wirtschaft, zumindest aus dieser Vogelperspektive betrachtet, einigermassen mit dem Virus zurechtzukommen.
Wie ist das zu erklären?
Der Gewöhnungseffekt
Die wichtigste Antwort liegt auf der Hand. Die Corona-Massnahmen sind weniger streng als im Frühling. Anders als damals dürfen in der zweiten Welle alle Geschäfte offen bleiben; der Schulbetrieb wird aufrechterhalten; Veranstaltungen sind im kleinen Rahmen weiterhin erlaubt. Auch Coiffeure und Restaurants dürfen, anders als im April, Kundschaft empfangen.
Trotzdem würde man erwarten, dass sich die zweite Corona-Welle angesichts ihrer Gesundheitsfolgen und der zunehmenden Einschränkungen stärker in Wirtschaftsindikatoren niederschlägt. Dass dies nicht passiert, hat verschiedene Gründe. Am Beispiel der F-Kurve wären dies etwa:
Die Tatsache, dass viele Wirtschaftsakteurinnen bereits über die zweite Welle hinausdenken – in die Zeit, wenn ein Impfstoff vorhanden ist. Deshalb gab es an der Börse im Oktober auch nur einen kleinen Einbruch. Man rechnet heute damit, dass die Folgen der Corona-Krise temporärer Natur bleiben.
Eine gewisse Abstumpfung – ein Gewöhnungseffekt unter den Leuten, die über die Corona-Krise berichten. Nebst Finanzdaten baut die F-Kurve nämlich auch auf einer Sprachanalyse auf. Wirtschaftszeitungen schreiben heute weniger alarmistisch über die Krise als während der ersten Welle.
Bei der breiten Bevölkerung hat sich ein ähnlicher Gewöhnungseffekt eingestellt. Wörter wie «Kurzarbeit», «Insolvenz» oder «arbeitslos» werden weniger häufig auf Google gesucht als im Frühling. Man weiss heute besser, wie die Hilfsmassnahmen funktionieren, hat sich über die Lage informiert.
Trotz alledem ist die Wirtschaftskrise real. Das zeigt sich etwa daran, dass immer mehr Menschen auf Stellensuche sind oder dass die Zahl der Firmenkonkurse in manchen Schweizer Regionen zu steigen beginnt. Das Besondere an der Corona-Krise ist allerdings (und hier liegt ein weiterer Grund, warum sie statistisch schwer zu erfassen ist): Sie manifestiert sich je nach Wirtschaftssektor, je nach verkauftem Produkt sehr unterschiedlich.
Reisen versus Schmuck
Sehr stark betroffen ist etwa die Reisebranche. Sie hat sich nach der ersten Welle nie mehr richtig erholt. Ablesen lässt sich dies unter anderem an den Suchanfragen im Internet. Begriffe wie «Städtetrip» oder «günstige Flüge» werden im Vergleich zum Januar und Februar nach wie vor sehr selten bei Google eingegeben. Internationale Reisen werden nur schwach nachgefragt.
Ganz anders hat sich das Interesse für Uhren und Schmuck entwickelt. Suchbegriffe wie «Juwelier» oder Namen von Geschäften wie «Christ» oder «Bucherer» wurden bereits im Juni wieder so häufig eingetippt wie im Februar. Erst seit Oktober geht auch hier die Nachfrage etwas zurück.
Offensichtlich hat die Corona-Krise den Konsumentinnen die Lust am Luxus nicht auf die Dauer vermiest. Wobei abzuwarten bleibt, ob die Sorgen der Bevölkerung im Verlauf des Winters nicht doch noch zunehmen. Und damit das Uhren- und Schmuckgeschäft stärker in Mitleidenschaft ziehen – mehr, als es durch den weggebrochenen Tourismus ohnehin schon geschieht.
Uhrenexporte versus Pharmaexporte
Wie schlimm hier die Lage ist, deutet die folgende Grafik an. Ihr liegen keine «weichen» Indikatoren (wie etwa Suchabfragen) zugrunde, sondern «harte» Zahlen: Sie zeigt die Entwicklung der Uhrenexporte, gemessen in Franken, und zwar über mehrere Jahre hinweg. Hier offenbart sich ein tiefer Einschnitt. 2020 wurden bis zu 70 Prozent weniger Uhren an Kunden im Ausland (oder an Ausländerinnen, die in der Schweiz shoppen) verkauft.
Der Tourismus dürfte noch länger eingeschränkt bleiben. Kein Wunder, sind die Aussichten in der Uhrenindustrie schlechter als in der Gesamtwirtschaft.
Anders präsentiert sich die Lage in der pharmazeutischen Industrie. Hier hat die Corona-Krise zwar keinen Mehrabsatz gebracht, wie man möglicherweise vermuten könnte. Doch die Exporte blieben mehrheitlich stabil. Im Vergleich zum Vorjahr waren sie im laufenden Jahr meist nur 10 bis 20 Prozent tiefer.
Dass manche Branchen einen stetigeren Absatz haben als andere, ist normal. Die pharmazeutische Industrie ist das Paradebeispiel dafür: Auch in der Vergangenheit (etwa während des Frankenschocks) war sie sehr resistent.
Was in der jetzigen Krise jedoch nicht normal ist, sind die extremen Unterschiede. Nicht nur zwischen den Wirtschaftssektoren, sondern auch innerhalb dieser Sektoren öffnen sich riesige Gräben.
Food versus Non-Food
Man kann dies zum Beispiel im Detailhandel beobachten. Ähnlich wie bei den Uhrenexporten gab es auch hier im Frühling einen scharfen Einschnitt. Im Non-Food-Bereich, also bei allen Artikeln ausser Lebensmitteln (und Benzin), lagen die Umsätze zeitweise 40 Prozent unter dem Vorjahr.
Viele Läden, in denen man solche Artikel – zum Beispiel Elektrogeräte, Kleider oder Spielsachen – hätte kaufen können, waren im Frühjahr geschlossen. Daher rührt der krasse Einbruch. Über den Sommer haben sich die Detailhandelsumsätze dann allerdings erholt. Bereits im Mai wurde im Non-Food-Bereich wieder so viel verkauft wie ein Jahr zuvor. Dass sich die Konsumlaune so schnell erholt hat, ist nicht ganz selbstverständlich.
Durchgehend offen bleiben durften die Läden, die Nahrungsmittel verkaufen. Entsprechend blieben die Umsätze das ganze Jahr über stabil. Dass Krise herrscht, würde man aus den Daten zum Lebensmittelverkauf nicht erraten.
Wie sich die Schweizer Wirtschaft in den kommenden Monaten schlagen wird, ist schwer absehbar. Gemäss letzten Meldungen schwächt sich zurzeit die Erholung ab: Einige Betriebe schätzen die Geschäftslage skeptischer ein, die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt sind verhalten. Und wie aus Prognosen hervorgeht, bleibt die Wirtschaft insgesamt fragil.
Sicher ist aber (und deshalb bleibt es wichtig, die Wirtschaftsdaten im Detail aufzuschlüsseln): Die Corona-Krise wird bestimmte Wirtschaftszweige weiterhin überproportional treffen. Sie bleibt eine Krise mit zwei Gesichtern.