«Ich lasse mich von der Musik überraschen, und diese Überraschungen möchte in an meine Hörerinnen weitergeben»: Tomas Bächli.

Am Klavier

Das Ende der Sicherheiten

Eine kleine Einführung in die neue Staffel des Podcasts «Am Klavier» über die Musik im 20. und 21. Jahrhundert.

Von Tomas Bächli (Text) und Maximilian Virgili (Bilder), 20.11.2020

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Die Kompositionen, um die es in der neuen Reihe des Podcasts «Am Klavier» geht, haben nur eine Eigenschaft gemeinsam: Sie sind nach 1900 entstanden. Kann man die Zeit zwischen 1900 und 2020 als musikalische Epoche bezeichnen? Früher sprach man von «neuer Musik» oder «zeitgenössischer Musik». Doch beim Begriff fangen die Schwierigkeiten bereits an: «Avant­garde» oder «Neue Musik» (mit grossem N) waren mir schon immer suspekt. Eine Zeit lang hatte ich mich mit der Formulierung «die komponierte Musik der letzten hundert Jahre» gerettet. Mit «komponiert» meinte ich Musik, die notiert und als Partitur überliefert wird, zur Abgrenzung von Jazz und Popmusik, wo Tonträger für die Überlieferung wichtiger sind als Noten.

Zum Auftakt der neuen Staffel des Podcasts «Am Klavier»

«Ein Stückchen blauer Himmel»: Mit einem Klavierstück von Arnold Schönberg und einer musikalischen Utopie von Claude Debussy startet Tomas Bächli in die neue Staffel seines Podcasts. In der ersten hat er uns mit musikalischen Miniaturen bereits die kühnsten Experimente der Musikgeschichte nahegebracht und den ersten Shutdown erträglicher gemacht.

Aber die Wendung «der letzten hundert Jahre» stimmt nicht mehr: Arnold Schönbergs «Pierrot lunaire», Igor Strawinskys «Le sacre du printemps» und Erik Saties «Socrate» sind inzwischen älter. Die (ehemals) neue Musik geht in die Verlängerung.

Ergibt es überhaupt Sinn, das alles unter einen Begriff zu stellen? Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten all der Musikrichtungen, die man als «musikalische Moderne» zusammenfasst und die bei vielen Menschen immer noch als schwer verständlich gilt?

Vielleicht geht es gar nicht ums Verstehen. Denn was diese Musik eint, sind nicht irgendwelche Stilmerkmale, sondern etwas viel Grundsätzlicheres: eine gemeinsame Erfahrung. Sie besteht darin, dass die Gewissheit, was Musik sein soll und was nicht, verschwunden ist. Die Systeme, die Musik geordnet hatten – sowohl künstlerische als auch soziale –, haben sich aufgelöst.

Doch wie im Leben tun wir uns auch in der Kunst schwer damit, das lange Zeit Selbstverständliche infrage zu stellen, gar aufzugeben. Dazu gehören etwa (und das bildet den Rahmen für die folgenden Podcasts):

  • Die funktionale Tonalität: Dieses harmonische System aus dem 18. Jahrhundert bestimmte die klassisch-romantische Epoche. Es setzt nicht nur einen Grundton und eine Tonart voraus, es ordnet den Harmonien innerhalb einer Tonart auch Funktionen zu. So entstehen Hierarchien und Wirkungen von Schwerkraft zwischen den Akkorden. Die Komponisten am Ende des 19. Jahrhunderts haben dieses System immer mehr überladen. Die Beziehungen zwischen den Funktionen entwickelten eine Komplexität, die beim Hören immer weniger auf Anhieb nachvollziehbar war. Dass sich das tonale System Anfang des 20. Jahrhunderts auflöste, war daher nur folgerichtig. Übrigens korreliert das Zeitalter der Tonalität mit dem Zeitalter der Monarchie und deren Abschaffung. Arnold Schönberg, der die Musik in die Atonalität führte, nachdem er die Tonalität noch einmal auf die Spitze getrieben hatte, war bis in die 1920er-Jahre ein glühender Anhänger der Monarchie, auch sein politischer Werdegang ist extrem widersprüchlich.

  • Das System der zwölf temperierten Halbtöne: Seit der Antike wird in der Akustik über verschiedene Stimmsysteme diskutiert. In Europa hat sich im 19. Jahrhundert die Unterteilung der Oktave in zwölf mehr oder weniger temperierte – das heisst gleichschwebende – Halbtöne durchgesetzt. Das änderte sich, als einige Komponisten begannen, die Musikkulturen ausserhalb Europas wahrzunehmen. Dabei zeigte sich: Es gibt ganz unterschiedliche Konzepte, wie Tonhöhen festgelegt werden können. Die Tonschritte in der arabischen Musik zum Beispiel kann man auf einem temperiert gestimmten Klavier nicht finden. So begannen auch die europäischen Komponisten, mit Tonsystemen jenseits der zwölf temperierten Halbtöne zu experimentieren.

  • Die Musiksparten und ihr sozialer Stellenwert: Die Zeiten sind vorbei, als sich ein Komponist von Sinfonien und Streichquartetten noch als Bürgerschreck geben konnte, wenn er in einer Komposition einen Schlager oder einen Popsong zitierte. Heute gibt es eine Populärmusik, die auch das Bildungs­bürgertum anspricht. Zu Prince oder David Bowie kann sich heute auch ein Uniprofessor bekennen. Umgekehrt versuchten Komponisten wie Hanns Eisler oder Frederic Rzewski eine Kunstmusik zu schreiben, die aus dem bürgerlichen Musikbetrieb ausbricht und sich der Arbeiterklasse öffnet. Künstlerisch war das durchaus ergiebig, Werke wie Rzewskis Klaviervariationen «The People United Will Never Be Defeated» werden in den Konzertsälen gerne aufgeführt. Die erhoffte politische Resonanz jenseits des bürgerlichen Musiklebens blieb jedoch aus.

  • Das Bild des Künstlers: Die klassisch-romantische Musik kannte eine Rollenverteilung zwischen Komponisten, Musikerinnen und Hörern (Komponistinnen waren bis in unsere Zeit eine Seltenheit). Ein Komponist sollte seinem Publikum eine Botschaft überbringen, die ihm persönlich am Herzen lag, so die Erwartung. John Cage dagegen entdeckte in der Mitte seiner kompositorischen Laufbahn, dass ihn seine eigenen Intentionen nicht mehr interessierten. Seine Rolle beim Kompositions­prozess sah er nur noch darin, Fragen zu stellen – die musikalische Antwort fand er durch Zufalls­operationen wie Münzenwerfen. Die eigentliche Komposition entsteht im Gehör, damit wird der Hörer zur wichtigsten kreativen Instanz. Das missfiel nicht nur dem Publikum, sondern auch vielen Komponisten­kollegen, die dabei ihre Autorität untergraben sahen.

Der Verlust all dieser Selbstverständlichkeiten schafft Ängste. Er bringt jene Wutbürger in den Konzertsälen hervor, die bei atonaler Musik reflexhaft das Gegenargument bringen, man könne nicht einmal mehr hören, ob der Pianist überhaupt die richtigen Noten spiele. Diese Hörerinnen freuen sich keineswegs darüber, wenn sie zur kreativen Instanz aufgewertet werden. Sie ärgern sich, dass sie für so etwas Eintritt zahlen sollen.

Zunächst konnte man darin die Symptome eines Übergangs sehen: Eine alte Ordnung zerbricht, doch das Neue ist erst in Umrissen erkennbar. Tatsächlich sind im 20. Jahrhundert eine Vielzahl harmonischer Systeme als Alternative zur Tonalität entstanden. Der russische Futurist Iwan Wyschnegradsky zum Beispiel hat sich sein Leben lang mit Mikro­intervallen, Viertel- und Zwölfteltönen beschäftigt. Er hat für diese minimalen Ton­schritte eine eigene Harmonik entwickelt und eine Reihe überzeugender Kompositionen geschrieben. Aber das System, das er entwickelt hat, blieb auf sein eigenes Komponieren beschränkt, sonst wollte niemand davon Gebrauch machen.

So erging es fast allen Neuerern in der Musik. Niemandem ist es gelungen, ein System zu etablieren, das allgemein anerkannt wurde. Arnold Schönbergs «Methode der Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen» ist kein System, sondern eine Methode, die auf den Vorgang des Komponierens und nicht auf die Wahrnehmung abzielt. Die neue Musik ist ein Flickenteppich der Systeme geblieben.

Müssen wir das bedauern?

Das liegt in unserem Ermessen. Die Unsicherheit, wohin die Reise geht, kann abschrecken oder stimulieren. Natürlich ist es eine Überforderung, wenn man sich als Musikliebhaberin nicht nur durch die Masse der komponierten Musik durchwühlen muss, sondern sich bei jedem Stück mit anderen Tonsystemen und anderen Kriterien anfreunden soll. Aber ist es nicht gerade das Privileg von Kunst, dass sie überfordern darf?

Die Verächter der neuen Musik empfinden sich oft als schweigende Mehrheit der Konzertbesucher. Doch so eindeutig lässt sich die Frage nach der Akzeptanz neuer Musik beim Publikum nicht beantworten. Inzwischen kann man grosse Konzertsäle mit der Musik der Nachkriegsmoderne füllen, also mit Werken von Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono oder Helmut Lachenmann, deren Musik lange Zeit als besonders elitär galt.

Als ich Ende der Siebzigerjahre begann, mich mit neu komponierter Musik zu beschäftigen, stellte ich mir noch die Frage, ob sie jemals in der Mitte der Gesellschaft ankommen wird. Durch die politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte scheint mir diese Fragestellung obsolet. Es gibt keine Mitte der Gesellschaft mehr, und die Musik bildet diesen Zustand ganz gut ab.

Ich habe mir schon lange abgewöhnt, neue Musik per se gegen pauschale Kritik zu verteidigen. Es geht mir um einzelne relevante Werke, und in der Musik der letzten 120 Jahre gibt es davon viele.

In den Podcasts versuche ich, bei den Kompositionen eine Tendenz oder eine bestimmte Haltung herauszuhören. Doch dabei möchte ich mich nicht von meinen Erwartungen beherrschen lassen, sondern gehe nach dem Prinzip trial and error vor. Ich lasse mich von der Musik überraschen. Diese Überraschungen an meine Hörerinnen weiterzugeben, ist das Ziel dieses Podcasts.

Es wird deshalb auch ein Podcast sein, der sich speziell mit dem Konzept Zukunft beschäftigt: ein Begriff, den man mit Blick auf die Musik heute kaum mehr auszusprechen wagt! Die Klage, dass sich in der Musik nichts mehr wirklich Neues ereigne, ist ein Gemeinplatz, den ich nun auch seit Jahrzehnten kenne. Aber er hat sich noch jedes Mal als falsch erwiesen.

Bleiben Sie neugierig! Hier gehts zur ersten Folge: «Ein Stückchen blauer Himmel».

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