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Alles hat ein Ende

18.11.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

An dieser Stelle haben wir vor 24 Stunden geschrieben: Die Lage ist ernst. Seit gestern sind die zertifizierten Intensivbetten in den Schweizer Spitälern praktisch vollständig belegt. Eine weitere Aufstockung ist dadurch möglich, dass zusätzliche Plätze geschaffen werden. Unter anderem durch den Stopp von anderen Eingriffen.

«Ich bin einer dieser Menschen mit sogenannten Wahleingriffen», sagte Miriam (Name geändert) im Gespräch mit uns. Sie ist 44 Jahre alt – seit sechseinhalb Jahren hat sie metastasierenden, fortgeschrittenen Krebs. Sie hat Republik-Journalistin Marguerite Meyer erzählt, was derzeit in ihr vorgeht:

«Im Moment warte ich auf Laborergebnisse von Biopsien. In einigen Wochen wird sich zeigen, was das für mich heisst: Ob es dann einen Eingriff bräuchte, eine Bestrahlung. Im Moment hänge ich eh schon etwas in den Seilen. Jetzt nicht zu wissen, ob die eigene Behandlung gewährleistet werden kann oder nicht, ist schon ein ziemlicher mindfuck.

Ich habe das Gefühl, die Leute verstehen teilweise nicht, was im Moment passiert. Manchmal habe ich das Gefühl, wir haben den Fokus etwas verloren: Ich lese mehr Schlag­zeilen über Beizen als über Tausende Tote.

Teilweise hört man schon brutale Sprüche à la ‹Es sind ja nur die bereits kranken oder alten Leute, die sterben›. Das schmerzt – es spricht mir die eigene Daseinsberechtigung quasi ab. Da denkt man sich schon: Was sind da draussen eigentlich für Leute? So was sagt man doch nicht, wenn man ein bisschen Empathie hat, oder? Das trifft mich manchmal schon. Ich denke mir dann halt, die Leute wissen es nicht besser. Mein eigenes Umfeld ist aus diesem Grund auch kleiner geworden.

Eigentlich hatte ich recht Vertrauen in die Politik bis zum Sommer. Aber diese Situation jetzt wäre vermeidbar gewesen, das enttäuscht mich schon.

Ich möchte nicht schlecht reden, aber es wird teilweise schon auf hohem Niveau gejammert. Die Leute haben nicht so ein Verständnis, was Verzicht heisst. Solidarität hört natürlich oft dort auf, wo das eigene Portemonnaie anfängt. Aber wenn die Leute nicht mal ein Mäskeli anziehen können – dann enttäuscht mich das schon. Das macht mich traurig, aber auch wütend. Ich habe es auch geschafft, im Sommer eine Maske zu tragen – trotz Hitzewallungen und Wasser auf der Lunge wegen meiner Krankheit. Das ist jetzt gemein, aber da denke ich mir manchmal schon: Ihr seid alles verdammte Sissies. Ich weiss, man sollte Schicksale nicht miteinander vergleichen, und in die Köpfe kann man auch nicht reinschauen. Aber trotzdem.

Ich glaube, im Vergleich zu vielen Leuten haben Menschen mit Krankheiten wie ich gelernt, mit Unsicherheit umzugehen. Veränderungen machen Angst. Wenn du seit über sechs Jahren weisst, dass du irgendwann an dieser Krankheit stirbst, lernst du mit Ängsten umzugehen. Wie manche Leute jetzt reagieren, das kenne ich von frisch Erkrankten auch: Manche reagieren panisch, manche setzen sich mit ihren Ängsten auseinander – und manche wollen nichts hören und ignorieren lieber alles.

Auch für mich ist der Verzicht schwierig, das Einschränken der sozialen Kontakte, nicht in ein Restaurant oder ins Kino zu gehen. Ich habe mir meine letzte Lebensphase schon anders vorgestellt. Manchmal bekomme ich im Tram Herzklopfen, wenn zu viele Leute einsteigen. Einmal in der Woche muss ich zur Chemotherapie gehen – das ist eigentlich mein soziales ‹Highlight› der Woche. Manchmal gehe ich spazieren oder wandern, wenn das geht.

Das Wichtigste ist doch jetzt, sich nicht darauf zu fokussieren, was man nicht mehr machen kann – sondern darauf, was alles immer noch möglich ist. Dann fällt einem auch Verzicht nicht so schwer.

Ich würde mir wünschen, dass sich die Leute ein bisschen in solche Situationen wie meine versetzen könnten. Sich klarmachen könnten, dass es in der Schweiz 2 Millionen Risikopatienten gibt. Und dass Sprüche wie ‹Menschen sterben halt› oder ‹Wir müssen mit dem Tod leben lernen› sehr verletzend sind.

Es braucht jetzt halt etwas Durchhaltewillen von uns allen. Es hat ja ein Ende, irgendwann ist es wieder gut. Es geht ja nicht darum, sich auf immer und ewig einzuschränken.»

Manchmal tut ein Perspektivenwechsel gut, finden Sie nicht?

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Der Bundesrat will Anpassungen am Covid-19-Gesetz vornehmen. Dies teilte er an seiner Pressekonferenz heute in Bern mit. Professionelle und semiprofessionelle Sportclubs sollen 115 Millionen Franken als A-fonds-perdu-Beiträge (das heisst: nicht zurückzuzahlende Beiträge) erhalten. Härtefällen – also Firmen, die von den Auswirkungen des Virus besonders betroffen sind – sollen eine Milliarde statt 400 Millionen Franken zur Verfügung stehen. Auch für befristete Arbeitsverhältnisse soll es Kurzarbeitsentschädigungen geben. Und wer gegen die Maskenpflicht verstösst, soll gebüsst werden können. Das Parlament stimmt in der Wintersession darüber ab. (Mehr dazu und zu allem aus Bundesbern gibt es jeweils in unserem Briefing aus Bern, wenn Sie Republik-Verlegerin sind oder werden möchten.)

Die Codes für die Swiss-Covid-App sollen schneller ausgestellt werden können. Neu können Labors, die Infoline, Testzentren und Apotheken die Codes ausstellen, die positiv getestete Personen in die App eingeben sollen, um andere Nutzerinnen zu informieren. Bisher konnten Codes nur von kantonsärztlichen Diensten und behandelnden Ärztinnen ausgegeben werden.

In Berlin kam es heute zu grossen Anti-Corona-Demonstrationen. Die Kundgebung im Regierungsviertel mit mehreren tausend Protestierenden fand vor der Abstimmung im Deutschen Bundestag über das neue Infektionsschutzgesetz statt. Dieses soll die Corona-Politik Deutschlands gesetzlich besser verankern. Die Polizei meldete, dass es auch zu Angriffen auf Einsatzkräfte gekommen sei. Viele Protestierende hätten keine Maske getragen und den Abstand nicht gewahrt. Die Kundgebung wurde aufgelöst.

Und zum Schluss: Corona ist nicht nur körperlich

Menschen, die sich von einer Covid-19-Erkrankung erholen, leiden oft unter psychischen Folgeschäden. Bisher war diese Information eher anekdotisch. Eine grosse Studie, die im renommierten medizinischen Fachjournal «The Lancet» publiziert wurde, zeigt nun: Nach einer Corona-Erkrankung ist die Chance, erstmalig an psychischen Beeinträchtigungen zu leiden, zweimal grösser als nach einer anderen Erkrankung.

Die Wissenschaftlerinnen hatten Zugang zu 70 Millionen elektronischen Patientinnendossiers aus den USA – davon über 60’000 Personen, die an Corona erkrankt waren, aber nicht hospitalisiert werden mussten. 18 Prozent der Covid-Patienten wurden innert dreier Monate nach der Ansteckung mit einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit diagnostiziert.

Insbesondere Angst- und Schlafstörungen sowie Vergesslichkeit wurden häufig festgestellt. «Von früheren Pandemien wissen wir, dass Überlebende meist nachfolgend mit psychischen Schwierigkeiten kämpfen. Diese Studie zeigt dasselbe Muster nach Covid-19, das ist also nicht unerwartet», sagte Til Wykes, Professorin für Psychologie am King’s College London gegenüber der «MIT Technology Review».

Bleiben Sie also umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden – so auch beim Serien-Konsum. Während die Autorin dieses Newsletters zur visuellen Unterhaltung «Frieden» von SRF oder «The Queen’s Gambit» (Netflix) empfiehlt, sieht das ihre ehemalige Mitbewohnerin A. S. aus W. ganz anders. Deswegen gibts hier ein Winken in deren Richtung und die Nachricht des Tages: Der «Bergdoktor» bleibt in der neuen Staffel eine coronafreie Zone. Das Wirtshaus «Wilder Kaiser» muss nicht schliessen, und die Menschen im Ort tragen keine Masken. Manchmal hält die heile Welt auch, was sie verspricht.

PPPPS: Schauen Sie trotzdem lieber «The Queen’s Gambit».

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