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Im faulen App(ell) steckt der Wurm

16.11.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Na, haben Sie dieses Wochenende mal wieder getindert? Oder Facebook auf dem Mobile ein paarmal auf- und zugemacht? Oder zumindest einmal auf einer Meteo-App nach dem Wetter geschaut? All diese Apps sind für die Nutzerin zugegeben etwas spannender in der Handhabung als die Swiss-Covid-App – die sich im Idealfall ja nicht so viel meldet.

Tatsächlich stagnieren die Downloadzahlen bereits seit einer Weile. Republik-Journalistin Marie-José Kolly hat darüber mit dem Epidemiologen Marcel Salathé gesprochen, der in der Covid-19-Taskforce die Expertinnengruppe «Digital Epidemiology» leitet.

Marcel Salathé, wie steht es um die App – sind Sie zufrieden mit den Downloadzahlen oder haben Sie mehr erwartet?
Wir hatten einen guten Start. Im Sommer war es verständlich, dass sich manche Leute vielleicht dachten: Was soll das, es ist ja fast kein Corona mehr da? – auch wenn das natürlich nicht stimmte. Spätestens im Oktober hätte ich dann aber mehr Downloads erwartet.

Als die Infektionen wieder rasant stiegen.
Wir stecken in der weltweit fast schlechtesten Situation, und die Downloadzahlen gehen nicht rauf. Es ist möglich, dass 2 Millionen Nutzerinnen das Maximum sind, was die aktuelle Version der Swiss-Covid-App holen kann. Man kann natürlich die Kommunikation verstärken und verbessern. Man muss sich aber auch überlegen, ob die App mit neuen Features noch mehr Nutzen bieten könnte. Gerade das berühmte backward tracing mit QR-Codes ist ein Beispiel, das man in Swiss-Covid dezentral – also mit extrem hohem Datenschutz – sehr einfach machen könnte.

Moment – jetzt reissen wir als Redaktion das Wort kurz an uns und führen aus. Backward tracing heisst: Man schaut nicht nur wie bisher «vorwärts», wen eine neu infizierte Person alles hätte anstecken können. Sondern auch «rückwärts», wo sie selbst sich angesteckt haben könnte. An einer Sitzung, beim Znacht mit Freunden, beim Indoorsport? So liessen sich, hoffentlich, vermehrt ganze Cluster von Infizierten auf einen Schlag finden. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass die Übertragungen sehr ungleich verteilt sind: Die meisten Infizierten stecken niemanden oder nur eine weitere Person an. Andere sehr viele mehr. Rückwärts nach solchen Clustern zu suchen, ist also besonders effizient.

Okay, zurück an Sie, Herr Salathé: Wir setzen grosse Hoffnung in die Technik und die Medizin. Sie sollen uns retten – aber ganz so einfach ist es in der Realität jeweils nicht.
Es ist sehr wichtig und gerechtfertigt, Hoffnung auf die Technologie und die Wissenschaft zu setzen, das sehen wir jetzt auch am Beispiel der Impfstoffe. Hingegen wird es schwierig, wenn man bei der Implementierung an easy fixes denkt. Das ist ein fundamentales Problem – nicht nur im Gesundheits­wesen. Es herrscht oft ein falsches Verständnis von Technologie. Klar, für die Benutzer muss es einfach sein – die App runterladen und fertig. Aber damit das funktioniert, muss eine hochgradig effiziente und skalierbare Infrastruktur da sein.

Die Schwierigkeit liegt also nicht an der App, sondern am gesamten Prozess?
Genau, es ist ein operatives Problem, nicht ein wissenschaftliches oder politisches. Das zu langsame Testing-Tempo, die nicht verschickten Codes – das ist alles operativ. Wenn es da nicht schnell genug geht, nützt auch die beste Technologie in der App wenig. Spitzentechnologie muss eben auch angemessen umgesetzt werden. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Impfstoff, lassen aber die Impfdosen drei Tage im Feld herumstehen und kaputtgehen. Undenkbar! Aber kaum kommt es zu digitalen Prozessen, sind wir bei solchen Implementationsproblemen. Für mich ist es das Grundproblem, was die Digitalisierung in der Schweiz anbelangt – der Fax ist dann bloss ein Symptom.

Erstaunt Sie das?
Ja, weil wir in der Schweiz eigentlich hohe Kompetenzen haben: Man denke nur an all die Firmen, die enorm komplexe operative Leistungen erbringen – Nestlé, Roche, viele global tätige Firmen, wo Zeug via zehn Stellen in hocheffizienter Art und Weise von A nach B muss. Normalerweise verlassen wir uns ja völlig darauf, wie bei der Post. Wir sind stolz auf die operativen Institutionen. Und nerven uns, wenn der Zug eine Minute Verspätung hat. Das ist sehr schweizerisch: das Uhrwerk, in dem jedes Zahnrad präzise tut, was es muss. Mich erstaunt, dass es auf genau dieser Ebene nicht ausreicht. Es geht also nicht um Politik oder Wissenschaft – operativ ist der Wurm drin. Für künftige Krisen müssen wir das analysieren und besser machen.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Ein Impfstoff könnte im ersten Halbjahr 2021 in der Schweiz verfügbar sein. Dies verlautete die Firma Moderna gegenüber der Nachrichtenagentur AWP. Mit Moderna legt bereits der zweite US-Pharmakonzern innerhalb einer Woche positive Daten aus einer zulassungsrelevanten Vorabstudie zu einem Corona-Impfstoff vor. Auch hier sei eine Wirksamkeit von mehr als 90 Prozent vorhanden. Die Schweiz hat mit Moderna bereits Verträge für 4,5 Millionen Impfdosen abgeschlossen.

Jüngere Schulkinder in Österreich sind gleich oft infiziert wie ältere Kinder. Dies zeigt eine repräsentative «Gurgelstudie», die bereits bei über 10’000 symptomlosen Kindern von Ende September bis Ende Oktober im Land durchgeführt wurde. Unterschiede beim Alter gab es kaum – doch an Schulen mit vielen Kindern aus sozial benachteiligten Familien war die Chance 3,6-mal grösser, infiziert zu sein. Die Studie soll bis Sommer 2021 die Öffnung der Schulen begleiten, da es zur Lage in den Schulen und bei Kindern noch wenig internationale Daten gibt.

Der Iran plant landesweit strenge und unbefristete Lockdowns, um die drastisch steigenden Zahlen zu stoppen. Dies vermeldete Präsident Hassan Rohani am Wochenende. Die Lockdowns sollen am kommenden Wochenende beginnen. Der Iran war bereits in der ersten Welle hart getroffen worden. Aus wirtschaftlichen Erwägungen war Rohani bis jetzt gegen Lockdowns, nun sieht die Führung des Landes offenbar keine andere Möglichkeit, die Situation in den Griff zu bekommen.

Und zum Schluss: Eine Covid-Pflegerin gibt auf

Eine Intensivpflegerin auf der Covid-19-Station gibt auf. An ihrem ersten Ferientag nach der ersten Welle reicht sie ihre Kündigung ein. «So etwas (…) will ich nie wieder erleben. Es gab keine Veränderungen, keine Aussicht auf Verbesserungen unserer Arbeitsumstände, und ich musste mich jetzt um meine eigene Gesundheit kümmern.»

Und so verlässt sie, die ihren Job eigentlich sehr mag, mitten in der zweiten Welle das Spital. Ihre Geschichte hat sie der «Wochenzeitung» (WOZ) erzählt. Der Bericht ist nicht einfach zu lesen. Aber er gibt einen eindrücklichen Einblick in die Verzweiflung und Erschöpfung an der sogenannten «Corona-Front», die wir im März so gerne beklatscht haben.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Marie-José Kolly und Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Manchmal muss man sich mit etwas völlig anderem ablenken. Und deswegen brechen wir hier mal die Regel und bestätigen die Ausnahme: Das ist das Süsseste, was Sie heute sehen werden. Es ist ein Löwenjunges, das zu brüllen versucht. Ton an. Bitte, gern geschehen.

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