Amerikas verkanntes Genie

Zora Neale Hurston galt in den 1930er-Jahren als bekannteste schwarze Autorin Amerikas. Zeitgenossen fanden, sie hätte sich zu wenig der Sache der Schwarzen angenommen. Dabei war ihr Denken schon damals radikal.

Von Solmaz Khorsand, 12.11.2020

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«Das Genie des Südens»: Zora Neale Hurston. Carl Van Vechten/The Granger Collection/Keystone

Es mag zynisch klingen, aber es musste schon jemand sterben, damit der deutsch­sprachige Buch­handel sein Angebot erweitert. Erst die Tötung George Floyds hat die Geschäfte dazu gebracht, die eine oder andere Ikone der afroamerikanischen Literatur prominent zu platzieren. Mit einem Mal wurden selbst in den am schlechtesten sortierten Buchläden kleine Tischchen aufgestellt, um die Werke von Toni Morrison, James Baldwin, Ann Petry oder Ta-Nehisi Coates zu präsentieren. Das Motiv ist klar. Alle wollen ein Stück vom Black-Awareness-Kuchen.

Und allem Zynismus zum Trotz möchte man sagen: Zum Glück wollen sie das.

Denn zum ersten Mal kommt ein breites Publikum mit Autorinnen in Berührung, die zu lange mit der Ignoranz des Mainstreams gestraft waren. Eine von ihnen: Zora Neale Hurston, die «queen of the niggerati», wie sie sich selbst ironisch bezeichnete.

«A Genius of the South», «Ein Genie des Südens», heisst es auf der Inschrift ihres Grabsteins in Fort Pierce, Florida: Vielen Autorinnen gilt sie als intellektuelle Wegbereiterin. Gefeiert als Anthropologin, Folkloristin, Schrift­stellerin und Lebefrau war Hurston die berühmteste schwarze Autorin Amerikas in den 1930er-Jahren. Ihr Hauptwerk «Vor ihren Augen sahen sie Gott» wird vom Literatur­wissenschaftler Henry Louis Gates Jr. als erster «kompromisslos feministischer Roman» der afroamerikanischen Tradition bezeichnet. Geboren 1891 in Notasulga, Alabama, als Tochter eines Pastors und einer Lehrerin, die sie immer dazu angehalten hatten, «nach der Sonne zu springen», war sie das fünfte von acht Kindern.

Als sie 10 Jahre alt ist, kann der Vater sich das Schulgeld nicht länger leisten. Hurston muss früh selbstständig werden, sie arbeitet als Haushälterin, Kinder­mädchen, Kammer­zofe einer Wander­schauspielerin. Erst mit 27 Jahren holt sie ihren Highschool­abschluss nach, geht an die renommierte Howard University in Washington D. C., das «Harvard für Schwarze», und wird überhäuft mit Preisen für ihre Kurz­geschichten, die sie nach New York bringen, wo sie 1925 am Barnard-Frauen­college Anthropologie zu studieren beginnt.

Dort ist sie die einzige Schwarze. In ihrer Biografie erinnert sie sich, wie sie von der Hautevolee der Studentinnen «zur geheiligten schwarzen Kuh von Barnard» gemacht und von Anthropologie­professor Franz Boas unter die Fittiche genommen wurde. Er animiert sie, Feldstudien zu machen, ihre Heimat zu erkunden, zu berichten, wie nur sie es kann.

Hurston folgt dem Rat. Sie reist nach Florida, wo sie aufgewachsen war, erkundet die Südstaaten. Aber sie macht sich auch auf in die Karibik, nach Haiti, Jamaika und auf die Bahamas, um dort die Musik, die Tänze und die Geschichten der Schwarzen zu sammeln und sie später auf den Bühnen New Yorks zu präsentieren. Sie will zeigen, «wie viel Schönheit und Anmut authentische Neger­kultur im Vergleich zur Aufführungs­praxis am Broadway zu bieten hat».

Für die einen war Hurston ein Star. Für die anderen eine Verräterin. Zu wenig habe sie sich in ihrer Arbeit der schwarzen Sache angenommen, kritisierten zeitgenössische Schrift­steller­kollegen wie Richard Wright und Ralph Waldo Ellison. Viel lieber habe sie den Weissen das rassistische Stereotyp des primitiven, singenden, tanzenden Schwarzen auf dem Tablett serviert, so der Vorwurf.

Das kleine Paradies

Wer Hurstons Roman «Vor ihren Augen sahen sie Gott» liest, will sich im ersten Augenblick dieser Kritik anschliessen. Darin erzählt Hurston die Geschichte von Janie Crawford, einer jungen Frau, die mit jedem ihrer Männer einem selbst­bestimmten Leben ein Stück näher kommt. Der Roman plätschert so dahin, voller Beobachtungen der Alltags­wehwehchen, der Beziehungen, der Veranda­gespräche eines ruralen Floridas. Mittendrin diese schöne – von allen für ihre helle Haut bewunderte – schwarze Frau.

Sie ist angewidert von den Vorstellungen, die an sie heran­getragen werden, allen voran jenen ihrer Grossmutter, Nanny, bei der sie aufwächst. Nanny ist eine herrische und vorsichtige alte Frau, die einst von ihrem «Besitzer» vergewaltigt wurde, ebenso wie ihre Tochter, an der sich der Dorflehrer verging. Ihre Tochter, Janies Mutter, nahm Reissaus. Janie blieb zurück bei der alten Dame, die sie dazu anhält, bloss nicht zu viel zu wollen vom Leben:

Manche konnten auf eine Dreckspfütze schauen und einen Ozean mit Schiffen sehen. Aber Nanny gehörte zu der anderen Sorte, die sich am Liebsten mit Fitzelkram abgab. Da hatte Nanny sich das Grösste genommen, was Gott geschaffen hatte, den Horizont – denn einer kann gehen, so weit er will, der Horizont ist immer noch unerreichbar fern – und was hatte sie damit gemacht? Sie hatte ihn zu einem klitzekleinen Ringeldingchen zusammen­gezwängt und es der Enkelin so eng um den Hals gelegt, dass es sie fast erwürgte. Sie hasste die alte Frau, die sie im Namen der Liebe derart verbogen hatte.

Aus: «Vor ihren Augen sahen sie Gott».

Statt gross zu träumen und «so ein Geschiss um’n bisschen Liebe zu machen», soll Janie immerzu dankbar sein, insbesondere, als sie ein reicher Bauer heiraten will. Doch Janie hält nicht viel von Dankbarkeit und noch weniger von ihrem grob­schlächtigen Ehemann. Sie brennt durch mit einem ehrgeizigen Visionär, der ihr die Welt verspricht. Unweit von Orlando heiraten die beiden und lassen sich nieder: in Eatonville, einer historischen Stadt für das schwarze Amerika. Es ist eine der ersten Gemeinden des Landes, die ausschliesslich von Schwarzen verwaltet wurden.

Eatonville ist auch jene Stadt in Florida, in der Zora Neale Hurston selbst aufgewachsen war, nachdem die Familie aus Alabama weggezogen war. Ihr Vater war in Eatonville Bürger­meister und Pastor gewesen. Ein kleines Paradies war das Städtchen im damaligen Amerika, als es 22 Jahre nach dem Ende des Amerikanischen Bürger­krieges und der offiziellen Abschaffung der Sklaverei 1887 als Körperschaft des öffentlichen Rechts eingetragen wurde. Im Roman wird Janies Ehemann Bürger­meister von Eatonville und sie seine angesehene Ehefrau. Oder besser: seine unantastbare trophy wife, eine Puppe im goldenen Käfig, die sich bloss nicht unter das gemeine Volk mischen soll.

Auch mit Ehemann Nummer zwei wird Janie nicht glücklich. Im Gegenteil, er demütigt sie vor anderen, bis ihr irgendwann der Kragen platzt: «Ich bin durchgebrannt, damit ich mit dir eine Ehe führe, die wunderschön ist. Aber du warst nicht zufrieden mit mir, so wie ich war. Kein bisschen! Ich musste aus mir selbst rausgedrängt und -geekelt werden, damit in mir Platz war für dich», schleudert sie ihm an seinem Totenbett entgegen. Erst als Witwe findet sie mit dem viel jüngeren Teacake, einem Vagabunden, Frauen­helden und Musiker, schliesslich ihr lang ersehntes Liebesglück – und ihre Freiheit.

Revolution auf den zweiten Blick

Als der Roman 1937 erschien, sorgte er für Aufsehen, insbesondere unter Zora Neale Hurstons Kollegen. Sie nahmen es ihr übel, wie sie die Schwarzen darstellte, so fröhlich in ihrem eigenen Kosmos, als seien sie losgelöst von den politischen Verhältnissen des Amerikas der Zwanziger- und Dreissiger­jahre. Als hätte es die Sklaverei nie gegeben, als wäre der Ku-Klux-Klan nicht wieder­erstarkt, als würden nicht wieder «ihre Leute» gelyncht werden.

Und ja, auf den ersten Blick kümmert sich Hurston im Roman herzlich wenig um die schwarze Sache. Mitunter ermüdend ist es, darin nach dem tieferen Sinn Ausschau zu halten, eine Gesellschafts­kritik herauslesen zu wollen. Poetisch und voller Metaphern beschreibt sie die Geschichte der schönen Janie.

Es braucht Musse und Geduld, um zu begreifen, wie revolutionär Hurstons Janie für das Amerika der 1930er in Wirklichkeit war, eine lebens- und liebes­hungrige Frau, die allen Wider­ständen und Demütigungen zum Trotz am Ende als selbst­bestimmte Siegerin in Latzhosen dasteht. Erst auf den zweiten Blick lässt sich erkennen, warum es vor allem ihre männlichen Kollegen waren, die den Roman so vehement ablehnten und als «vulgär» diskreditierten. Nicht nur wird hier das Porträt einer Frau gezeichnet, die mit drei unterschiedlichen Männern zusammen war, zwei nicht respektierte und einen gar in all seiner lächerlichen Impotenz vor Dritten blossstellte – sondern es ist auch das Porträt einer lustvollen Frau. Einer, die sich schon einmal selbst befriedigt:

She was stretched on her back beneath the pear tree soaking in the alto chant of the visiting bees, the gold of the sun and the panting breath of the breeze when the inaudible voice of it all came to her. She saw a dust-bearing bee sink into the sanctum of a bloom; the thousand sister-calyxes arch to meet the love embrace and the ecstatic shiver of the tree from root to tiniest branch creaming in every blossom and frothing with delight. So this was a marriage! She had been summoned to behold a revelation. Then Janie felt a pain remorseless sweet that left her limp and languid.

Aus: «Their Eyes Were Watching God».

Sie lag lang auf dem Rücken unter dem Birnbaum und saugte den Altgesang der anfliegenden Bienen, das Gold der Sonne und das Hecheln der Brise in sich auf, als auf einmal die unhörbare Stimme des Ganzen sie ansprach. Sie sah eine pollen­beladene Biene in das Aller­heiligste einer Blüte eintauchen, sah die tausend Schwester­kelche sich der Liebes­vereinigung entgegen­spannen, sah den in jeder Blüte saftenden und vor Lust schäumenden Baum von der Wurzel bis ins winzigste Zweiglein ekstatisch erschauern. Das also hiess heiraten! Freien und sich freien lassen. Sie war geladen worden, eine Offenbarung zu schauen. Da verspürte Janie reuelos süss einen Schmerz, vor dem sie butterweich zerschmolz.

Aus: «Vor ihren Augen sahen sie Gott».

Bahnbrechend sei die Passage für die afroamerikanische Literatur gewesen, urteilt der Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates Jr. Es handle sich dabei um nichts Geringeres als den ersten Orgasmus, der in der afroamerikanischen Literatur beschrieben wurde.

Von wegen unpolitisch also.

Zwischen Propaganda und Dekadenz

Ihre Kollegen sahen das anders. Als Vertreterin der Harlem Renaissance, einer Gruppe afroamerikanischer Künstlerinnen und Intellektueller, die sich in den 1920ern in Harlem gefunden hatten, war Zora Neale Hurston einem ungeschriebenen politischen Ethos verpflichtet. Die Harlem Renaissance oder «New Negro Movement», wie sie alternativ genannt wurde, verstand sich als künstlerische Bewegung der Emanzipation von weissen Zuschreibungen. In seinem Artikel «The Negro Artist and the Racial Mountain» schrieb der Dichter und Schrift­steller Langston Hughes:

We younger Negro artists who create now intend to express our individual dark-skinned selves without fear or shame. If white people are pleased we are glad. If they are not, it doesn’t matter. We know we are beautiful. And ugly too.

Wir jüngeren Negro-Künstler haben vor, ganz ohne Angst und Scham unser individuelles dunkelhäutiges Selbst auszudrücken. Wenn das weissen Leuten gefällt, sind wir froh. Wenn nicht, spielt es keine Rolle. Wir wissen, dass wir schön sind. Und hässlich ebenso.

Ein spirituelles coming-of-age afroamerikanischer Künstler und Denkerinnen nannte der Philosoph Alain LeRoy Locke dieses goldene Zeitalter, in dem zum ersten Mal schwarze Selbst­bestimmung sichtbar, hörbar und im Kollektiv spürbar war. Zu seinen Vertretern zählten Persönlichkeiten wie Langston Hughes, der Soziologe W. E. B. Du Bois, der Musiker Louis Armstrong oder die Tänzerin und Schau­spielerin Josephine Baker. In Salons, Wohn­zimmern und Clubs traf sich die schwarze Boheme, um zu feiern, zu philosophieren und zu streiten.

Harlem Renaissance I: Die Band von Duke Ellington in den 1930ern mit Cootie Williams an der Trompete und Sonny Greer am Schlagzeug. Bettmann/Getty Images
Harlem Renaissance II: Charleston-Tänzerinnen in den 1920ern. New York Daily News Archive/Getty Images

Darunter bildeten sich auch Subgruppen. Die einen, die sich als intellektuelle Väter einer schwarzen politischen Befreiungs­front begriffen; und die anderen, die den propagandistischen Eifer ihrer Kollegen eher amüsiert von der Seite beobachteten. Sie wollten lieber Kunst um der Kunst willen machen und sie nicht ständig im Schatten der «Rassen­frage» behandeln. Zu Letzteren zählte eine Gruppe rund um Zora Neale Hurston und den Schriftsteller Wallace Thurman, auf den die ironische Selbst­bezeichnung «niggerati» – ein Mischwort mit «Literati» – zurückgeht. Ihre Gegner warfen den exzentrischen, flamboyanten und mitunter queeren niggerati vor, reaktionär zu sein, zu verharmlosen und den Weissen mit ihrem Feelgood-Folklorismus in die Hände zu spielen.

In gewisser Hinsicht taten sie es auch. Mussten sie es. Viele Künstler der Harlem Renaissance waren auf weisse Mäzene, weisse Verlage und weisse Philanthropinnen angewiesen, die bisweilen ganz spezielle Bedingungen an ihre finanzielle Unter­stützung knüpften. Etwa Charlotte Osgood Mason, die von all ihren Schützlingen verlangte, sie «godmother» zu nennen. Auch Zora Neale Hurston zählte zu Masons Förderungs­projekten. Sie finanzierte Hurstons Feld­forschungen unter der Bedingung, dass diese ihr Ergebnisse lieferte, die auch ihren Geschmack trafen: das «echte» schwarze Amerika, erdig, primitiv, unkultiviert.

Über drei Jahre liess sich Hurston von Mason aushalten, bis sie genug von den Ansprüchen ihrer Gönnerin hatte. Dennoch, in die Tradition der antirassistischen Protest­literatur eines Richard Wright fügte sie sich deswegen noch lange nicht ein. Warum sollte sie als schwarze Frau über die Rassen­frage schreiben? «Das Thema war und ist mir herzlich zuwider. Mich interessiert, was einen Mann oder eine Frau dazu bewegt, dies oder das zu tun, ungeachtet seiner oder ihrer Hautfarbe», schrieb sie in ihrer Autobiografie «Ich mag mich, wenn ich lache». Und sie geht noch weiter und kritisiert all die schwarzen Ideologen, die glauben, dass sich alles ändern würde, wenn nur die Verhältnisse zu ihren Gunsten verändert wären: «Bislang wurde nirgends auf der Welt der Beweis erbracht, dass ihr weniger arrogant wäret, wenn ihr die Hebel der Macht in den Händen hieltet», schreibt sie. Jede Schwarz-Weiss-Kategorisierung lehnte sie ab, für sie gab es weder «den Weissen» noch «den Neger», von dem sich die schwarze Bourgeoisie, die schwarze Intelligenzija so gerne distanzieren wollte:

Ich teile nicht die düstere Vorstellung, die Neger in Amerika seien dazu verdammt, in Bausch und Bogen ausgerottet oder für immer ins Elend verstossen zu werden. Manche werden nieder­getrampelt werden, und einige werden immer ganz unten sein und anderen Elenden Gesellschaft leisten. Aber es wäre wider die Natur, wenn alle Neger entweder zum Bodensatz, zur Elite oder zur Mittelschicht gehörten. So ist es anderen nie ergangen, warum sollte es uns so ergehen. Nein, wie alle anderen Menschen wird jeder von uns dahin gehen, wohin sein Antrieb führt. Das hängt ganz vom Einzelnen ab. Wer das Zeug nicht hat, kann es nicht zur Schau tragen. Wer das Zeug hat, kann es nicht verbergen. Das ist eines der stärksten Gesetze, die Gott je gemacht hat.

Aus: «Ich mag mich, wenn ich lache».

Vielen Konservativen gefällt diese Haltung. Neben Feministinnen wird Hurston gerne auch von ihnen vereinnahmt. Würde sie heute noch leben, würde sie vermutlich auf Fox News das politische Zeitgeschehen kommentieren, schwärmte einmal der Literaturwissenschaftler John McWhorter.

Als Basis für seine Prognose bezieht er sich vor allem auf Hurstons Standpunkt in puncto Schul­segregation. 1954 hob Amerikas Oberster Gerichts­hof die Rassen­trennung an öffentlichen Schulen auf. Von nun an sollten schwarze neben weissen Kindern die Schulbank drücken dürfen.

Hurston war gegen das Urteil. Wütend schrieb sie dagegen an. Das bewies ihren Kritikern einmal mehr, dass sie in Wirklichkeit eine Verräterin war, eine sich selbst hassende Schwarze. Doch Hurston argumentierte aus einer Position des Stolzes heraus. Warum sollte man Schwarzen zumuten, neben Weissen sitzen zu müssen, warum würde man glauben, dass sie nur so etwas lernen würden? Sie selbst war in Eatonville in einer ausschliesslich schwarzen Stadt aufgewachsen, wo sie verschont wurde vom weissen Blick und seinen Abwertungen. Dieses Gefühl gab man ihr erst später, als sie kurz nach dem Tod der Mutter 1904 zu ihrer Schwester Sara und ihrem Bruder Bob nach Jacksonville zog, einer Stadt 200 Kilometer nördlich. Als sie in Jacksonville zur Schule gehen musste, war sie plötzlich das «farbige kleine Mädchen».

Keine schwarze Reaktion auf die weisse Aktion

Nach Ansicht des Literatur­wissenschaftlers Henry Louis Gates Jr. bot Hurston für viele eine grosse Angriffs­fläche, weil sie der allgegen­wärtigen Diskriminierung in ihrer Literatur zu wenig Beachtung schenkte. Dabei liegt genau darin die emanzipatorische Kraft ihrer Arbeit. In ihrem ersten Roman, «Jonah’s Gourd Vine», einer indirekten Hommage an ihren Vater, den Frauen­helden und Pastor, porträtiert sie eine schwarze Community mit ihren Bräuchen, Sitten und ihrer Sprache – fern der weissen Realität. Sie erklärte den Roman «zum Manifest gegen die ‹Arroganz der Weissen, die glauben, dass das Leben eines Schwarzen nur Defensive ist, nur Reaktion auf die weisse Aktion›. Mit solchen Ansichten machte man sich nicht beliebt», analysiert Gates Jr. im Nachwort zu Hurstons Autobiografie «Ich mag mich, wenn ich lache».

In ihrer Autobiografie zeichnet sie von sich das Bild einer rebellischen Frau, die sich ungern zum «Herdentier» machen lässt, die Wider­sprüche als Serum gegen jedweden Fanatismus hochhält, um ja nicht in die Falle bequemer Verallgemeinerungen zu tappen.

Auf Recherche über die Musik der Schwarzen: Zora Neale Hurston trifft 1935 in Eatonville den Bluesgitarristen Gabriel Brown (rechts). Everett Collection/Keystone

Hurston hing einem fast schon obsessiven Individualismus an, der es ablehnte, Menschen in Kategorien zu unterteilen, ein Kollektiv auszumachen, das nur Gutes oder nur Schlechtes hervorbrachte. Während ihre Kollegen ihre politische Arbeit oft auch darin sahen, die Weissen in ihrer Literatur nicht nur anzuklagen, sondern auch in all ihrer Blutrünstigkeit darzustellen, weigerte sich Hurston, das zu tun.

Weisse kommen kaum in ihren Werken vor. Und wenn, dann höchstens als Statisten und durchwegs positiv, etwa in ihrer Autobiografie, wenn sie von dem weissen Mann erzählt, der ihrer Mutter half, sie auf die Welt zu bringen, und ihr später beim Angeln wichtige Lebens­weisheiten mit auf den Weg gab. Oder von den zwei schicken Damen, die ihre Schule besuchten und ihr Süssigkeiten schenkten, weil sie so beeindruckt waren, wie gut das kleine schwarze Mädchen lesen konnte. Natürlich liest man das weisse Gönnertum zwischen den Zeilen heraus. Doch macht Hurston aus den Weissen keine Karikaturen, keine Monster.

Ebenso wenig glaubt sie an Sippen­haftung. So schreibt sie in ihrem Essay «Die Welt, nüchtern betrachtet», dass sie nicht im Traum daran denke, die Enkel ehemaliger Sklaven­halter für deren Verbrechen zur Räson zu rufen:

Ich sehe auch keinen Nutzen darin, mir seinen Enkel deswegen vorzuknöpfen. Der alte Herr hat seinerzeit vermutlich einige Dinger gedreht, die meinen Grosseltern ganz bestimmt nicht gefielen. Aber der alte Herr ist tot. Meine Altvorderen sind tot. Sollen sie das in der Hölle miteinander ausmachen, wenn sie wollen. Das ist ihre Sache. Ich bin mit der Gegenwart konfrontiert, und die Enkel dieses Weissen auch.

Aus: «Die Welt, nüchtern betrachtet», Schlusskapitel der Autobiografie.

Ihr Verlag weigerte sich, den Essay zu veröffentlichen, der als Abschluss­kapitel ihrer Autobiografie angedacht war. Hurston teilt darin in alle Richtungen aus, gegen selbst­gerechte schwarze Snobs, die sich in ihrer Opfer­haltung suhlten; gegen ihre Regierung, deren Vertreter grosse Töne spucken, wenn es um Moral und Prinzipen in anderen Ländern geht, aber schön den Mund halten, sobald es innen­politisch wird; gegen den Westen generell, dem die Demut und der Anstand fehlen. Jede Doppel­bödigkeit nennt sie beim Namen. Jeder Heuchelei macht sie den Garaus.

Ihrem Verleger war das jedoch zu heiss, insbesondere weil das Buch 1942 erscheinen sollte – wenige Monate nach dem Angriff der japanischen Streitkräfte auf die amerikanische Pazifik­flotte in Pearl Harbor. Jede Form der Kritik wurde als Antipatriotismus gewertet, selbst wenn sie noch so patriotisch geäussert wurde: «Ich werde für mein Land kämpfen, aber ich werde nicht seinetwillen lügen.»

Hurstons Autobiografie war dennoch ein Erfolg. Der letzte nennenswerte, den sie hatte. Unmittelbar danach verschwand sie von der literarischen Bildfläche. Die Harlem Renaissance hatte längst ihren Peak überschritten, die Wirtschafts­krise und der Zweite Weltkrieg zwangen viele Bohemiens, ihre Berufung aufzugeben und sich mit Brotjobs über Wasser zu halten. Hurston zog sich zurück nach Florida, arbeitete als Dienst­mädchen, Kolumnistin und Aushilfs­lehrerin. Immer nur sporadisch, bis sie 1960 in einem Pflegeheim der Wohlfahrt verarmt gestorben ist.

Ihre Freunde liessen sie auf dem Friedhof in Fort Pierce beisetzen. Ein anonymes Grab, für mehr hat es nicht gereicht. Hurston geriet in Vergessenheit. Erst 13 Jahre nach ihrem Tod wurde sie wieder­entdeckt. Dank ihrer Bewunderin und späteren Pulitzer­preis­trägerin Alice Walker («Die Farbe Lila»). In ihrem Artikel «In Search of Zora Neale Hurston» für das «Ms. Magazine» beschreibt Walker ihre Reise nach Florida, wie sie sich als Nichte der verstorbenen Schrift­stellerin ausgibt, um das Grab im Sumpf zu finden und ihr dort 1973 den Grabstein zu setzen, der ihr gebührt: «Zora Neale Hurston, ‹A Genius of the South›, Novelist, Folklorist, Anthropologist».

Später Ruhm

2018 erlebte Hurston einen weiteren Hype. Mit fast 90 Jahren Verspätung erschien ihr bisher unveröffentlichtes Werk «Barracoon. The Story of the Last ‹Black Cargo›». Darin erzählt sie die wahre Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven­schiffes, der Clotilda, die 1859 noch Männer und Frauen nach Nordamerika verschleppte. Darunter Oluale Kossola, einen im heutigen Benin geborenen Mann, der als letzter Über­lebender des Transports gilt.

1927 besuchte Hurston monatelang Kossola, der in den USA Cudjo Lewis genannt wurde. Sie liess ihn in seiner Sprache seine Geschichte erzählen – wie er aufgewachsen war, welche Pläne er als junger Mann hatte, bis der König von Dahomey sein Volk angriff, um «Ware» für den lukrativen trans­atlantischen Sklaven­handel zu beschaffen, der zu der Zeit längst verboten war.

Gemeinsam mit anderen Männern wurde Kossola monatelang in die barracoons eingepfercht, in Zwinger vor der Küste, bis er an weisse Händler verkauft und nach Alabama verfrachtet wurde. Fünf Jahre und sechs Monate war Kossola Sklave auf dem Feld, bis zum 12. April 1865, als die «Yankee-Soldaten» kamen und ihm zuriefen, dass er frei sei und niemandem mehr gehöre. Als ihn Hurston besuchte, war er 86 Jahre alt, hatte seine Frau und seine sechs Kinder überlebt.

Danke Jesus! Dass jemand kommt und nach Cudjo fragt! Ich will jemand erzählen, wer ich bin, und eines Tages geht er vielleicht nach Afrikaland und sagt meinen Namen, und jemand da sagt: «Ja, Kossula, den kenn ich.» Du sollst allen erzählen überall, wo du hingehst, was Cudjo sagt und wieso ich in Amerikaland bin seit 1859 und meine Leute nie mehr wieder sehe. Ich kann mich nicht richtig ausdrücken, verstehst du, aber ich geb’s dir Wort für Wort, damit es nicht komisch ist für dich.

Aus: «Barracoon».

Zu Lebzeiten fand sich niemand, der Hurstons Zeitdokument veröffentlichen wollte. Die Verlage verlangten von ihr, Kossolas Sprache zu glätten. Für Hurston kam das nicht infrage. Die unverfälschte Sprache ihrer Protagonisten ist ihre grösste Stärke. In all ihren Werken versucht sie dem Dialekt, dem Rhythmus und der Geschwindigkeit ihrer Figuren gerecht zu werden. Es ist wahrscheinlich das grösste Geschenk, das Hurston als Chronistin ihrem Publikum machen konnte. Leider geht es in der deutschen Übersetzung gänzlich verloren. Die Sprache klingt holprig und unmelodisch, was selbst die Übersetzer ihrer Werke bedauern.

Doch immerhin. Ihre Werke wurden übersetzt und finden 2020 nun auch ein Publikum ausserhalb Amerikas. Und sie bringen eine Autorin wieder ins Bewusstsein, die immer nach der Sonne sprang, auch wenn sie dabei manchmal unsanft landete.

Anmerkung der Redaktion: In den Werken von Zora Neale Hurston und in Quellen zu ihrem Werk werden abwertende Ausdrücke für Schwarze verwendet. Wir haben diese Ausdrücke aus Gründen des korrekten Umgangs mit Quellen im Beitrag belassen.

Die Übersetzung von «A Genius of the South» ist natürlich: «Ein Genie des Südens», nicht wie in einer früheren Version «Das Genie des Südens». Wir bitten um Entschuldigung.

Zu den Büchern

Zora Neale Hurston: «Vor ihren Augen sahen sie Gott». Roman. Aus dem Amerikanischen von Hans-Ulrich Möhring. Edition Nautilus 2011. 272 Seiten, ca. 30 Franken.

Zora Neale Hurston: «Ich mag mich, wenn ich lache». Autobiografie.
Aus dem Amerikanischen von Barbara Henninges. Ammann 2000, 400 Seiten, ca. 15 Euro.

Zora Neale Hurston: «Barracoon: Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven». Aus dem Amerikanischen von Hans-Ulrich Möhring. Random House 2020. 224 Seiten, ca. 30 Franken.

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