Wie viel Hölle verträgt das Paradies?

Das Coronavirus hat die Illusion der Normalität zerstört. Und jetzt? Die Rede von Schriftsteller Ilija Trojanow, die das abgesagte Literatur­festival Buch Basel hätte eröffnen sollen.

Von Ilija Trojanow, 06.11.2020

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Wo sind wir? Im Paradies? In der Hölle? Irgendwo dazwischen? Näher am Paradies oder näher an der Hölle?

Und wie war unser Befinden vor der Pandemie? Paradiesisch? Infernalisch? Oder beides zugleich, «als ob Hochzeits- und Beerdigungs­glocken sich vermischt hätten» (Robert Schumann)? Und wen umfasst dieses «wir»? Existiert es überhaupt noch? Kann es eine Gemeinschaft geben, die diese Bezeichnung verdient, wenn schon die zarteste Geste von Fürsorge, das Tragen einer Maske zum Schutz der Mitmenschen, für Spaltung sorgt?

Wie nachhaltig sind die zaghaften Blüten der Solidarität, über die wir uns im ersten Lockdown noch gefreut haben, in einer Gesellschaft, die aus der Summe ihrer Einsamkeiten besteht?

Zum Autor

Ilija Trojanow, geboren in Bulgarien, aufgewachsen in Deutschland und Kenia, gehört zu den renommiertesten deutsch­sprachigen Gegenwarts­autoren. Er ist zudem Übersetzer und Vermittler ausser­europäischer Literatur. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören der Roman «Der Weltensammler» sowie die mit Juli Zeh verfasste Streit­schrift «Angriff auf die Freiheit». Zuletzt erschien der Roman «Doppelte Spur» über Fake News, Geheim­dienste und Whistle­blowing. Dieser Beitrag ist das Manuskript der Rede, die Trojanow zur Eröffnung des Literatur­festivals Buch Basel halten wollte. Das Festival fällt wegen Corona aus.

Wer dieser Tage über die Zukunft spricht, tut dies aufgrund einseitiger Annahmen: Entweder sind wir – zwischenzeitlich – aus dem Gelobten Land vertrieben worden, oder aber unser Wohl­ergehen war zuvor schon eine Fata Morgana, die sich nun endgültig in Luft aufgelöst hat. Entweder war die vorpandemische Lage geprägt von einer stabilen, zufrieden­stellenden Normalität, die nun zwar zerstört worden ist, zu der wir jedoch zurückfinden könnten. Oder aber wir lebten auch davor in zerrütteten und teilweise dysfunktionalen Verhältnissen. Die Reaktion auf die brüchige Gegenwart hängt von dieser grundsätzlichen Haltung ab. Während manche als Folge der Pandemie Schlimmes, gar Apokalyptisches befürchten, schöpfen andere Hoffnung, weil diese Krise den Blick auf notwendige Veränderungen lenkt, indem sie die essenzielle Krisen­haftigkeit des Status quo offenlegt. Selten waren Dystopie und Utopie so nahe beieinander. Und bei vielen Menschen vermischen sich Befürchtungen und Sehnsüchte zu einem konträren Cocktail.

Der Philosoph Jean Baudrillard hat unsere Situation schon vor mehr als drei Jahrzehnten mit visionärem Weit­blick auf den Punkt gebracht: «Als wir keine Mittel hatten, sagten wir, der Zweck heiligt die Mittel. Als wir keinen Zweck hatten, sagten wir, die Mittel heiligen den Zweck. Unmoralisch ist, dass es keinen Widerspruch mehr zwischen beiden gibt: Zweck und Mittel sind einander gleich geworden. Alles funktioniert wunderbar, expandiert wie Polystyrol, angetrieben von den generischen Strömen der Generatoren: den Metastasen des Guten. Alles geht schlecht, alle Kreis­läufe divergieren, getrieben von der Angst und zur Angst getrieben: das Erratische des Bösen.»

Mit anderen Worten: In der Hölle lauert das Paradies, im Paradies die Hölle.

Das ist verwirrend und unübersichtlich.

Es mutet entmutigend an.

Es ist zeitgeistig.

Wenn wir «Mittel» durch «Leben» ersetzen und «Zweck» durch «Wachstum», erkennen wir sofort, was Baudrillard meint. In der herrschenden Ökonomie ist das eine mit dem anderen ident. Wir wachsen, um zu leben, und leben, um zu wachsen, wir haben das Wachsen (anders gesagt: das Optimieren) verinnerlicht, wir sind als Individuen Frankenstein’sche Kreaturen eines Systems, das nur noch eine Richtung (hin zum Grösseren), nur noch ein Tempo (die exponentielle Beschleunigung) und nur noch einen Vektor (zunehmende Konzentration an Macht und Vermögen) kennt. Bei dieser Entwicklung werden durchaus auch die Geister des Guten freigesetzt, zuvorderst die materiellen Errungenschaften unserer Zivilisation, die von den Apologeten des Systems stolz aufgetischt werden, ohne dass die Wurzeln des Destruktiven zu sehen sind.

Von der Plage zur Pandemie

Mitte Februar dieses Jahres flog ich nach Kenia. Schon der Taxi­fahrer, der mich am Flughafen abholte, berichtete von der grössten Bedrohung seit Menschen­gedenken: einer Heuschrecken­plage, die weite Teile des Landes befallen habe. Wovon werden wir uns ernähren?, fragte er an der nächsten roten Ampel. Die Zeitungen waren voller Hiobs­botschaften. Die Sorge war derart intensiv spürbar, ich blickte bei jedem überraschenden Geräusch auf, in der panischen Erwartung, die biblische Plage über den Horizont der Dächer auf mich herab­schweben zu sehen.

Die Gründe für diese Katastrophe, die keineswegs ausgestanden ist, sondern nur medial verdrängt, sind wissenschaftlich unstrittig: Messungen zeigen, dass die Weltmeere letztes Jahr so warm waren wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit, seit zehn Jahren ein kontinuierlicher Trend. Die steigenden Wasser­temperaturen lösen Wetter­extreme wie Wirbel­stürme, Stark­regen und Dürre aus, sie unterbrechen die hydrologischen Zyklen. Im Indischen Ozean ist es zu einem ökologischen tipping point gekommen, zu einer sogenannten Klima­wippe. Daher hat es in Ostafrika ausser­saisonal viel zu viel geregnet, sodass sich die Larven der Heuschrecken massenhaft ausbreiten konnten.

Als ich Mitte März Kenia verliess, war alles überlagert durch ein einziges Thema: Corona. Hinter mir wurden die Tore des Lockdowns zugeschlagen. Dass eine höllische Bedrohung, die Hunderte von Millionen Menschen existenziell gefährdet, aus unserer Wahrnehmung entschwinden kann, deutet auf unsere Unfähigkeit, die strukturellen Fehler im herrschenden System in ihrer multi­kausalen Komplexität zu erfassen und darauf angemessen zu reagieren.

Medial wird meist eine einzige Krise, eine Katastrophe zum Palaver getragen. Das ermöglicht die Illusion von Normalität. Bedrohungen sind Abweichungen von einer ansonsten stabilen Realität. Indem das herrschende System als alternativlos proklamiert wird, gaukelt man uns eine quasireligiöse Ewigkeit vor, die nicht in Einklang zu bringen ist mit den düsteren Prognosen von (fast) allen Wissenschaftlern, seien es Klima­forscherinnen, Ökologen, Agronominnen oder Virologen. Also setzen wir unsere Lebens­weise hierzulande fort, denn selbst die Apokalypse ist in den endlosen kapitalistischen Kreis­lauf integriert, als Schlussverkauf.

Das Unglück an der Kühlschranktür

Wir wissen, dass das, was sich heutzutage Wohlstand nennt, auf einem noch nie da gewesenen Raubbau basiert. Die ökologischen Zerstörungen wie auch das extreme Anwachsen von Ungleichheit sind umfassend analysiert und dokumentiert. Die Negativ­tendenzen sind weitest­gehend anerkannt, nur nicht in Kreisen von Realitäts­leugnern und system­relevanten Ideologen. Und doch halten viele Menschen das System tagsüber für stabil, um sich nächtens in ihren Albträumen zu wälzen.

Wie soll man erkennen, dass ein System versagt?

In der Geschichte sind Krisen, Katastrophen und Kollapse immer wieder überraschend über die Menschheit herein­gebrochen. In Rede­wendungen wie «einsamer Rufer in der Wüste» und «Ruhe vor dem Sturm» lauert eine historische Erfahrung, die einiges über unsere selektive Wahrnehmung zum Ausdruck bringt. Wir erkennen Bruch­stellen oft nicht, auch weil sie manchmal nicht offen­sichtlich sind. «Organisationen scheitern manchmal gerade deshalb», erklärt Sidney Dekker, Gründer des Leonardo da Vinci Laboratory for Complexity and Systems Thinking an der Universität Lund, «weil sie gut abschneiden, und zwar bei einer engen Band­breite von Leistungs­kriterien, die in der gegenwärtigen politischen oder wirtschaftlichen oder kommerziellen Konfiguration belohnt werden.»

Unfälle können passieren, führt Sidney Dekker aus, ohne dass zuvor etwas zerbrochen ist, ohne dass sich jemand geirrt hat, ohne dass jemand die als relevant geltenden Regeln verletzt hat.

Vereinfacht gesagt: Das Auto, das auf der Überhol­spur des Lebens so wunderbar dahingleitet, gibt auf einmal ohne dramatische Anzeichen seinen Geist auf. Warnzeichen hat es vielleicht gegeben, nur haben wir sie unter der Glasglocke einer selbst­bezogenen Zufriedenheit ausgeblendet. Sie waren für uns nicht «relevant».

Das real existierende Schlaraffen­land unserer bürgerlichen europäischen Existenz (zugegeben, ich verallgemeinere, es gibt auch eine wachsende Zahl von Menschen, die etwa in einer Schlacht­fabrik arbeiten, alte Menschen für unwürdigen Lohn pflegen oder in der Fussgänger­zone betteln müssen) verfügt momentan über einen halbwegs vollen Kühl­schrank. Also erliegen wir dem Zauber eines reich gedeckten Tisches, ohne uns gross Gedanken zu machen über die wahren Kosten und die lang­fristigen Aussichten. Jene hingegen, die über die Versorgung des Kühl­schranks ehrlich Buch führen und Inventar erstellen, malen das kommende Unglück an die Kühlschrank­tür. Darin besteht die Wirrnis unserer Zeit: An der Tür eines vollen Kühl­schranks prangt das realistische Bild eines Welt­untergangs. Und weil die Vision der Hölle inmitten von Schlaraffen­land als eine Wahn­vorstellung erscheint, schenken wir ihr keinen Glauben.

Bruchstellen im Agrarsystem

Diese essenzielle Widersprüchlichkeit bestimmt auch unsere Haltung zu Epidemien. Wir trösten uns damit, dass es solche seit je schon gegeben hat, verweisen auf die mittel­alterliche Pest oder die Spanische Grippe. Dabei haben wir allein in unserem noch jungen Jahr­hundert global eine Explosion von viralen Plagen erlitten: Sars, die Vogel­grippe, Mers, die Schweine­grippe, Ebola, Hendra, Nipah und nun Covid-19. Laut Fachleuten ist es sehr wahrscheinlich, dass Pandemien zukünftig noch zunehmen werden und eines Tages ein extrem infektiöses Virus Hunderte Millionen Menschen töten könnte. Der Wissenschafts­journalist David Quammen, der in seinem Buch «Spillover: Der tierische Ursprung weltweiter Seuchen» dieser Frage nachgeht, kommt nach einer Vielzahl von Interviews mit führenden Wissenschaftlern zu dem Ergebnis, dies sei nicht eine Frage des Ob, sondern «nur des Wann».

Wie bereiten wir uns auf eine derart existenzielle Bedrohung vor? Gehen wir die möglichen Ursachen konsequent an? Oder begnügen wir uns mit Massnahmen zur Eindämmung und pharmazeutischen Neutralisierung der Virus­infektion? Wie wäre es, wenn wir über die strukturellen Ursachen nach­denken, die dazu führen, dass lokale Krankheits­erreger zu globalen zivilisatorischen Bedrohungen werden? Siehe da, es gibt einen kausalen Zusammen­hang zwischen unserer effizienten Vereinnahmung des Planeten und dem Auftreten von Pandemien. Wie die Zeitschrift «Scientific American» schon im März dieses Jahres schrieb: «Destroyed habitat creates the perfect conditions for coronavirus to emerge.»

Wen das nicht wachrüttelte, der wurde vom Unter­titel aufgeschreckt: «Covid-19 may be just the beginning of mass pandemics.»

Denn unser Agrarsystem, das quantitativ betrachtet Wunder vollbracht hat, ist durchfurcht von Bruch­stellen. Es basiert auf Mono­kulturen, auf industriell hergestellten Dünge­mitteln und Pestiziden, auf antibiotischen Futter­zusätzen und auf umwelt­schädlichem Massen­transport. Zudem führt die Zerstörung von Regen­wäldern und die Trocken­legung von Sümpfen dazu, dass Krankheits­erreger aus ihren jeweiligen Ökosystemen freigesetzt werden – wer etwa durch Guatemala oder Borneo fährt, erhält schockierende Anschauung, wie die Mono­kulturen des Palmöls sich in die Biosphäre von Fleder­mäusen und Affen hineinfressen.

Die Agrarindustrie ernährt uns, indem sie unsere Umwelt zerstört. Sie ist nicht nur für etwa ein Drittel der weltweiten Treibhausgas­emissionen verantwortlich – die wesentlich den Klima­wandel verursachen, der massgeblich zur Heuschrecken­plage beigetragen hat, deren Folgen wiederum mit gewaltigen Lieferungen industriell produzierten Getreides bekämpft werden müssen –, sie gefährdet zunehmend die Gesundheit von uns allen. Eine durchschnittliche mittel­europäische Lege­henne erhält während ihrer sechzehn­wöchigen Aufzucht sage und schreibe achtzehn Schutzimpfungen.

Während unsereiner sich noch eine Grippe­impfung überlegt, verzehrt er eine leckere Hühnchen­brust, die mit mehr Pharma vollgepumpt ist als der Körper eines Rad­rennfahrers. Obwohl die Vogel­grippe und die Schweine­pest schon mehrmals massiv Hühner- und Schweine­farmen befallen haben, ist in der Folge kaum etwas gegen die Miss­stände unternommen worden.

Wer mit pandemisch geschärftem Blick die Nachrichten der letzten Jahre Revue passieren lässt, kann nur staunen über die vielen Seuchen­fälle vergangener Jahre, über Berichte wie diesen «Standard»-Beitrag aus dem Sommer 2019: «Die afrikanische Schweinepest trifft die Schweinefleisch­produktion in China hart. Der Ausfall könnte sich auf 18 Millionen Tonnen oder ein Drittel der landes­weiten Produktion belaufen.» Nach jeder Epidemie herrscht Erleichterung vor, das Schlimmste vermieden zu haben, die alltägliche Ausbeutung wird fortgesetzt. Trotz alledem, das Paradies der gesicherten Normalität wird sich wieder einstellen, wir werden auch diese Katastrophe überstehen.

Worte, aber keine Taten

«Die Krise stellt unsere freiheitliche und soziale Ordnung infrage. Wir können nicht zur Tages­ordnung übergehen. Wir brauchen endlich eine nachhaltige Entwicklung.»

Das ist vortrefflich gesagt, von einem Mann mit erheblichem Einfluss namens Wolfgang Schäuble, dem deutschen CDU-Politiker. Allerdings schon 2009, nach dem Finanz­crash, bei dem – wie wir inzwischen wissen – ein System­kollaps nur knapp vermieden werden konnte. Seitdem hat die Politik wenig unternommen, um den Casino-Kapitalismus einzudämmen, die perversen Gewinne der Finanz­spekulation zu unterbinden oder zumindest gerecht zu besteuern, die globale Geld­wäsche zu unterbinden. Im Gegenteil, die plutokratische Konzentration von Vermögen (und daher Macht) hat seitdem enorm zugenommen. Die Politik hat die eigenen Gestaltungs­möglichkeiten weiter eingeschränkt, so als wäre es undemokratisch, zum Wohle der Gesellschaft regulierend in das Wirtschafts­leben einzugreifen.

So wird es auch nach der chemischen Überwindung der Pandemie weiter­gehen. Wer noch Illusionen hat, dass die parlamentarische Vertretung des Volkes den Interessen des Volkes dient, vor allem den Interessen der jungen Menschen und der zukünftigen Generationen, der hat entweder Wahn­vorstellungen oder wird von Lobbyisten bezahlt.

Was ist eine gute Katastrophe?

Was müsste geschehen?

Im Bereich der Gesundheits­vorsorge und -versorgung sind die nötigen Schritte völlig klar, wenn wir von einem Primat der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ausgehen. Alle Menschen auf Erden müssen Zugang zu Impf­stoffen und anti­viralen Medikamenten erhalten, die Ärmeren unter ihnen kostenlos. Mit internationaler Hilfe müssen Produktions­stätten für Impf­stoffe im globalen Süden aufgebaut werden. Alle Struktur­anpassungs­programme (ein Wort aus dem Wörter­buch des Teufels), die seit Jahren das Gesundheits­wesen und die veterinäre Infra­struktur verschlechtern, müssen eingestellt werden. Die Kapazitäten des öffentlichen Gesundheits­wesens müssen überall massiv erweitert werden, finanziert unter anderem durch eine globale Gesundheits­versicherung, die im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung durch Lasten­ausgleich eingerichtet wird. Das fordern Fach­leute seit Jahren, so etwa auch die in diesen Fragen erfahrene Organisation Medico International.

All das ist gut und wichtig und notwendig, um das Paradies aus den Mauern der Privat­kliniken zu befreien.

Aber es reicht nicht aus.

Denn Prophylaxe ist bekanntlich eine Freundin der Gesundheit, und nur eine vermiedene Katastrophe ist eine gute Katastrophe. Mittelfristig müssen wir unsere Tier­fabriken schliessen. Nicht nur aus Gründen der Tierethik. Sondern zum Selbst­schutz. Wir müssen die ökologisch desaströsen globalen Produktions­ketten umstellen auf lokale, überschaubare, regulierte Netzwerke, auf kleinere landwirtschaftliche Betriebe. Wir müssen genetische Vielfalt als «immunologische Feuerschneise» (Rob Wallace) nutzen. Und wir müssen weltweit die Urwald- und Feucht­gebiete schützen beziehungs­weise wiederherstellen.

Das Gefängnis als Oase

Am 19. Januar dieses Jahres hat die internationale Kommunikations­agentur Edelman ihr viel beachtetes Vertrauensbarometer veröffentlicht. Mit bemerkenswerten Einsichten: «Trotz einer starken Welt­wirtschaft und nahezu Voll­beschäftigung wird keiner der vier gesellschaftlichen Institutionen, die in der Studie gemessen werden – Regierung, Wirtschaft, NGOs und Medien –, Vertrauen entgegen­gebracht. Die Ursache dieses Paradoxons liegt in den Zukunfts­ängsten der Menschen …» Laut Studie geben 56 Prozent der Befragten an, dass «der Kapitalismus in seiner heutigen Form mehr schadet als nutzt». Das generelle Miss­trauen werde von einem wachsenden Gefühl der Ungerechtigkeit und mangelnder Fairness im System genährt. Die Wahrnehmung sei weit verbreitet, dass «Institutionen zunehmend den Interessen einiger weniger dienen».

Anders gesagt: Die demokratischen Instinkte funktionieren, die meisten Menschen sind keineswegs so dumm oder blind, wie sie von den Eliten gelegentlich dargestellt werden. Doch wie äussert sich dieser Mangel an Vertrauen? Wo sind die grossen Aufbrüche? Zwar gibt es auch im globalen Norden einen wachsenden Widerstand, aber er ist noch viel zu schwach, um das System, das unsere Zukunft auffrisst, ernsthaft zu gefährden.

Wieso bleibt ein profundes Umdenken aus? Wie schon zu Beginn angedeutet, leben wir mit einem Bein im Paradies und mit dem anderen in der Hölle – das wirkt sich negativ auch auf das Gemeinschaftliche aus. Die Atomisierung der Gesellschaft ist so weit voran­geschritten, dass ein «Wir» nur noch in Form von Familien­namen auf den Klingel­schildern von Eigentums­wohnungen aufscheint. Die Folge: politische Apathie und soziale Vereinsamung. Zwei Drittel der Deutschen bezeichnen Einsamkeit als grosses (51 Prozent) oder sehr grosses Problem (17 Prozent). 2017 fühlten sich 38 Prozent der Menschen in der Schweiz einsam. Das sind Zahlen aus der Zeit vor Corona.

Schwer zu glauben, aber diese Einsamkeit hat dazu geführt, dass ältere Japaner absichtlich ein Verbrechen begehen, um ins Gefängnis zu kommen. Die Zahl der Häftlinge über 65 Jahren hat sich in den letzten zwei Jahr­zehnten vervierfacht. In dem faszinierenden Bloomberg-Artikel «Japan’s Prisons Are a Haven for Elderly Women» beschreiben sie das Gefängnis als eine Möglichkeit, «eine Gemeinschaft zu schaffen, die sie zu Hause nicht bekommen können». Eine 78-Jährige nennt das Gefängnis «eine Oase», in der es «viele Menschen gibt, mit denen man reden kann». Eine Zufluchts­stätte, die auch Unter­stützung und Pflege biete. Ein kleines Paradies im Vergleich zu dem Grauen einer völlig vereinsamten Existenz.

Die Pandemie stellt Entwicklungen infrage, die sie zuspitzt. Der Lockdown ist der Tief­punkt einer seit Jahr­zehnten voran­schreitenden gesellschaftlichen Auflösung. Zugleich erkennen wir klarer die Notwendigkeit des gemeinschaftlichen Agierens, weil bei einer Infektion die Erkrankung eines Einzelnen zugleich eine Bedrohung für alle darstellt. Das müsste selbst den grössten Egoisten einleuchten (auch wenn manch ein Masken­verweigerer dieser Einsicht sichtbar widerspricht).

Selbst wenn wir Empathie und Ethik aussen vorlassen, müssten wir Gesundheit als oberstes Gebot eines hoch­gezüchteten Individualismus definieren. Und schon wird ein solidarischer Hoffnungs­schimmer sichtbar in unserer von Konkurrentinnen und Konsumenten bevölkerten (Unter-)Welt.

Was bleibt zu tun?

Wenn ein System kollabiert oder sich als fehlerhaft erweist, muss ein neues aufgebaut werden. Das ist nicht Philosophie, nicht Politik, das ist gesunder Menschen­verstand. Und eine Aufforderung an uns alle.

Wer in Zeiten grosser Not darauf wartet, dass neue Strukturen zur Rettung bereit­stehen, der leidet unter religiösem Wahn. Diese Einsicht ist keine Theorie, keine Illusion, nicht einmal ein Ideal, sie ist gelebte, erfahrene Geschichte. Optimismus ist nicht das Gleiche wie Ignoranz. Offenen Auges glaube ich persönlich weiterhin an die realistische Möglichkeit einer paradiesischeren Zukunft. Aber selbst wenn wir auf einen ökologisch-zivilisatorischen Kollaps zurasen sollten, möchte ich es mit dem rhetorisch begnadeten amerikanischen Politiker Henry Clay halten: «Sollten wir scheitern, dann wenigstens wie Menschen, die in einem gemeinsamen Kampf untergehen.»

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