Rauch- und Fingerzeichen gegen die polnische Regierung: Protest in Warschau.

Vulvas und Altäre

Aus den Protesten gegen das Abtreibungsverbot ist in Polen ein Aufstand gegen die konservative Regierung geworden. Wer gewinnt die Deutungs­hoheit in einem Land, das der Kirche so nahe steht wie der Demokratie?

Eine Reportage von Anna Miller (Text) und Wojciech Grzedzinski (Bilder), 05.11.2020

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Ganz ruhig steht die kleine Anna vor den Polizisten mit Sturmhelm und tippt in ihr Handy. Es ist Donnerstag, der 29. Oktober, hinter ihr ragt das riesige Gebäude in den Himmel Warschaus, aus dem der Staatssender sendet. Anna Rycombel, 73 Jahre alt, graues, feines Haar, kommt seit Januar 2019 jeden Tag hierher und streikt gegen die Regierung, gegen die Staats­propaganda, die der Sender TVP täglich sendet, gegen den Rechtsrutsch, und nun streikt sie auch gegen das Abtreibungs­verbot.

Lange stand sie jeweils fast allein da, nur sie und ein paar Alte, doch jetzt, an diesem Abend vor dem grossen Streik, steht sie inmitten von Hunderten Protestierenden, darunter vielen Jungen, die «Verpiss dich!» schreien, und Anna sagt erleichtert: «Endlich haben auch sie es begriffen.»

Nieselregen fällt auf die Köpfe der Demonstrantinnen, ein Helikopter kreist über der Menge; Sirenen im Hintergrund. Der Osten Europas bringt dunkle Abende und den kühlen Wind eines heranbrechenden Winters, der auf Stalins Geheiss erbaute Kulturpalast leuchtet blau. Halb Europa geht gerade in den zweiten Corona-Shutdown, aber dieses Land schläft nicht. Dabei gibt es auch hier Tausende von neuen Corona-Fällen pro Tag, die Regierung hat ein Versammlungs­verbot erlassen, alle Cafés, Bars, Restaurants und Diskotheken sind zu, die Menschen sind angehalten, zu Hause zu bleiben.

Sie wären wohl auch zu Hause geblieben.

Doch dann kam der 22. Oktober.

Das Verfassungsgericht, kontrolliert von der konservativen Regierungs­partei «Recht und Gerechtigkeit», kurz PiS, erklärte Abtreibungen selbst bei schwerer Schädigung des Embryos für verfassungs­widrig. Faktisch dürfe nur noch abtreiben, wer vergewaltigt wurde oder seine Gesundheit durch die Schwangerschaft massiv gefährdet. Dabei galt das polnische Abtreibungs­recht bereits vor dieser Anpassung als eines der strengsten in Europa.

Nun brechen seit zwei Wochen alle Dämme. Tausende Polinnen in mehr als 100 Städten errichten Blockaden und nehmen Strassen ein. Die täglichen Proteste finden spontan statt, über Social Media organisiert, von den verschiedensten Gruppen. Oft ist erst eine Stunde vor Beginn klar, wo sich die nächste versammelt, manchmal ist es ein Techno-Rave, manchmal ist es ein stiller Marsch, manchmal machen Menschen in den Wohnungen über der Strasse die Fenster zu, und manchmal stellen sie sich auf ihre Balkone und schlagen mit Holzlöffeln auf Topfböden. Es marschieren Kinder mit, Rentnerinnen, Studenten mit Regenbogen­fahnen und viele Männer.

Tag 6 der Proteste: Demonstration gegen Abtreibungsverbot am 28. Oktober in Warschau.

Die Strassen sind voll von Menschen und vollgepflastert mit dem Symbol des Widerstands, dem roten Blitz, blutrot, wutrot. Die Menschen protestieren auf Plätzen, vor und in Kirchen, vor dem Verfassungs­gericht, vor den PiS-Büros und dem Warschauer Haus von PiS-Präsident Jarosław Kaczyński. Am 28. Oktober legen Frauen im ganzen Land die Arbeit nieder.

Und das, obwohl die Regierung eine immer grössere Drohkulisse aufbaut. Die Organisation und die Aufrufe zu den angeblich «nicht legalen Demonstrationen» sollen als Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit eingestuft werden. Strafmass: bis zu acht Jahre Gefängnis. Universitäten, die Studentinnen die Teilnahme an Protesten ermöglichen, wurde mit dem Streichen von Forschungsgeldern gedroht. Demonstranten werden verhaftet, verfolgt, bedroht, Oppositions­politikerinnen als russische Agenten bezeichnet.

1. Worum es wirklich geht

Am Freitagmittag sitzt Marta Lempart, Ikone der Frauenbewegung und Gesicht des Strajk Kobiet, des «Allpolnischen Frauenstreiks», im vierten Stock eines unscheinbaren Blocks in einem Sitzsack, neben ihr eine zwei Meter hohe Vulva aus Karton. Sie nimmt sich ein paar Minuten Zeit, um die Lage zu erklären, obwohl sie eigentlich lieber woanders wäre. In ein paar Stunden beginnt der bisher grösste geplante Protest der Bewegung. Selbst Marta Lempart wurde von der Wucht des Widerstands überrascht.

Es habe alles mit der Frage der Abtreibung begonnen, sagt Lempart, 41 Jahre alt, wohnhaft seit kurzem an einem unbekannten Ort, weil Gegner ihre Telefonnummer und Adresse publik machten und sie nun um ihr Leben fürchten muss. Doch um Abtreibung gehe es schon lange nicht mehr. Es gehe um viel grössere Fragen, um die Unzufriedenheit der Polinnen und Polen mit ihrer Regierung. 80 Prozent, so zeigten neuste Umfragen, sprechen sich gegen das neue Gesetz aus, sogar katholisch-konservative Bürger. Dem Meinungsforschungs­institut Kantar zufolge ist die Zustimmung für die PiS und ihre Koalitionspartner von 43,6 Prozent bei der Parlamentswahl 2019 auf aktuell 26 Prozent gefallen.

«Wir sind so viele, dagegen kann die Regierung nichts mehr tun»: Marta Lempart …
… ist stolz auf die Massenbewegung.

Dabei ist das Ringen um das Abtreibungsverbot nicht neu. Bereits 2016 hatten Fundamentalisten und PiS-Abgeordnete versucht, Abtreibung per Gesetz komplett zu verbieten. Bis zu 150’000 Polinnen brechen jedes Jahr eine Schwangerschaft ab. Rund 1000 tun das in einem polnischen Spital, alle anderen weichen ins Ausland aus: nach Deutschland, nach Litauen, in die Ukraine. Fehlbildungen des ungeborenen Kindes sind mit mehr als 90 Prozent der häufigste Grund, der angegeben wird, wenn es in Polen überhaupt zu einer Abtreibung in einer Klinik kommt. Ärztinnen und Pflegepersonal können eine Abtreibung von Gesetzes wegen verweigern – trotz vorliegender medizinischer Indikation.

Nach Grossdemonstrationen machte die PiS vor vier Jahren einen Rückzieher. Der 3. Oktober 2016, als 200’000 Frauen in Polen nicht zur Arbeit gingen, markierte einen Wendepunkt. Marta Lempart sagt, mit den «schwarzen Protesten» seien die Frauen als politische Kraft das erste Mal sichtbar geworden: «Die Polizei stand völlig überfordert vor uns und wusste nicht, was sie mit uns tun sollte. Sie hatten keine Ahnung, wie umgehen mit einer Frau als Feind.» An diesem Tag war die Frauen­bewegung geboren.

Dass sie gerade jetzt so stark ist, hat auch viel mit der Pandemie zu tun. Die Corona-Krise hat Staub aufgewirbelt. Und offengelegt, was schon vorher kaum mehr zu überdecken war. Wäre Corona nicht gekommen, hätte die Regierung wohl noch ein wenig länger runterspielen können, dass das Gesundheits­system Polens am Anschlag ist, dass die Wirtschaft krankt und die Medien der Regierung zudienen.

Und jetzt steht eine neue, junge Generation da, die weniger Angst vor dem Virus oder den Drohungen der Politik hat. Die den Kommunismus nur noch aus Erzählungen kennt; die es gewohnt ist, im Supermarkt die grosse Auswahl zu haben und im Internet die verschiedensten Sichtweisen; die überall mitdiskutieren und mitentscheiden will; und die jetzt, mit diesem Gesetz, das erste Mal am eigenen Leib zu spüren bekommt, wie es ist, als Mensch in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden. Für viele junge Leute sind Autoritätsglaube, Regeltreue und Gehorsam fremde Ideen aus einer vergangenen Zeit.

Die Mächtigen verstehen nicht. Sie verstehen nicht, wie junge Menschen selbst denken können. Sie denken, wir seien instrumentalisiert. Sie verstehen nicht, weil sie von Autoritäten erzogen wurden. Von der Kirche. Doch die Jungen von heute werden in der Gruppe erzogen, im Internet, über den Dialog, über die Gemeinschaft. Die Regierung denkt, man könne Menschen dazu zwingen, ihre Sicht zu ändern. Doch sie versteht nicht. Das Bett steht für Intimität und Zärtlichkeit. Nicht für Vergewaltigung und Sünde.

Protestteilnehmerin Maria Cywinska, am 29. Oktober auf Facebook

Der Tag des Wandels sei gekommen, sagt Marta Lempart, Atheistin, gross, sanfte Stimme, Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Früher, bevor sie das Gesicht der Protest­bewegung wurde, war sie Finanzexpertin im Ministerium für Arbeit und Gesellschafts­politik. Heute zieht sie sich die schwarze Maske an, als wäre sie eine Kriegs­rüstung. Sie sagt, diese Bewegung sei die grösste Chance seit dem Ende des Kommunismus, Polen in eine neue Richtung zu führen. «Und diesmal: alle auf unserer Seite. Wir sind so viele, dagegen kann die Regierung nichts mehr tun.»

2. Die Antwort auf wütende Frauen

Was die Regierung tun kann, ist: im Namen Gottes den Krieg ausrufen.

Jaroslaw Kaczyński, Präsident der PiS, 71 Jahre alt, lebte bis 2013 mit seiner Mutter, nun allein mit seiner Katze. Ende Oktober stellt er sich vor eine Kamera und spricht sechs Minuten lang in ein Mikrofon. Das Video auf Facebook wurde 13 Stunden später 3,3 Millionen Mal gesehen.

Wir müssen vor allem die polnischen Kirchen verteidigen, wir müssen sie um jeden Preis verteidigen. Die Proteste sind ein Angriff, der Polen zerstören soll, der Kräfte zum Triumph führen soll, deren Macht im Grunde die Geschichte der polnischen Nation, so wie wir sie kennen, beendet. Verteidigen wir Polen, verteidigen wir den Patriotismus. Nur so kann dieser Krieg gewonnen werden.

Jaroslaw Kaczyński in seiner Video-Ansprache am 27. Oktober 2020

Es ist seine Antwort auf wütende Frauen, die im Zuge des anhaltenden Protests in Kirchen eindrangen. Gottesdienste störten. In roten Umhängen durch die Gänge liefen und die Betenden daran erinnerten, dass sie ein Recht auf Abtreibung wollen. Es ist eine Antwort auf Farbanschläge, Angriffe auf Altäre und auf Statuen. In Szczecin schmeissen LGBTQ-Aktivistinnen Farbe an eine Kirchenwand, in Warschau demoliert die Antifa eine Jesus-Statue, in Lodz bringen Frauen den Priester dazu, die Messe abzubrechen.

Das wiederum ruft Gläubige auf den Plan. Sie sind erschüttert von der Gewalt, sagen: Wenn sie Respekt wollen, wo bleibt dann der Respekt vor unserem Glauben? Leute wie der 30-jährige Lukasz, der seinen Nachnamen nicht nennen will und in seinem Leben noch nie an einer politischen Kundgebung teilgenommen hat. Bis zum Freitag, 30. Oktober. Jetzt steht er vor der Heilig-Kreuz-Kirche im Zentrum Warschaus und bewacht mit anderen Gläubigen die schweren Holztüren. «Normalerweise stehe ich auf keiner Seite», sagt er. «Ich bin auch kein Fan der PiS oder von Kaczyński, niemand ist das. Doch wenn die linken Feministinnen sagen, wir haben Krieg, und unseren Glauben mit Füssen treten, dann bin ich auch nicht mehr bereit für Verhandlungen.»

Neben Lukasz stehen Ultra­nationalisten unter der Führung von Robert Bąkiewicz, der inmitten des emotionalen Aufruhrs eine «Bürgerwehr» zum Schutz der Kirchen gründete. Bąkiewicz trägt eine schusssichere Weste unter seiner Jacke, er lehnt an der Marmorstatue vor der Kirche, um ihn herum schwirren ein halbes Dutzend Männer, schwarze Jacke, beige Hose, Knopf im Ohr, als wäre das hier der Eingang zum Präsidenten­palast und er und seine Männer der Security-Trupp. Er sagt: «Wir sind nicht hier, um anzugreifen, wir schützen die Gläubigen und Gott bloss vor den Attacken der Gegner.»

Womit?

Mit Gebeten, sagt er, und lächelt.

In der Hand hält er einen Rosenkranz, den man sich im Internet bestellen kann, wenn der Krieg ruft, mit Kugeln aus Stahl und einem kleinen Kruzifix, das, scharf wie ein Messer, durch jedes Fleisch gleitet. Wenn es nach ihm ginge, dann sollte die polnische Verfassung auf römisch-katholischen Werten beruhen, keine Trennung von Kirche und Politik, und die Religion ist die einzig geltende Wahrheit.

Mit dem Rosenkranz gegen die Protestierenden: Robert Bąkiewicz
Die Reihen der Staatsgewalt sind fest geschlossen.

Wie in keinem anderen Land der EU nimmt die katholische Kirche in Polen Einfluss auf die Politik. Sie trug dazu bei, dass die PiS die Wahlen gewann. Mithilfe der Kirche sammelte eine Bürgerinitiative 450’000 Unterschriften für ein Abtreibungsverbot. Über 90 Prozent der Menschen in Polen sind getauft und bezeichnen sich als Katholiken. Obwohl die Säkularisierung voranschreitet, fühlen sich viele Polen der Kirche stark verbunden. Und damit auch konservativen christlichen Narrativen von der «richtigen» Beziehung zwischen Mann und Frau. Einige polnische Gemeinden haben sich im Zuge dieser Idee seit 2019 beispielsweise zu «LGBT-freien» Zonen erklärt. Die PiS inszeniert sich bewusst als Partei der guten, alten Werte. Als Hüterin über Recht und Moral. Die Rechts­konservativen und die christlichen Fundamentalis­tinnen kämpfen Seite an Seite für den Erhalt einer alten Ordnung.

Mit der Frage nach dem Recht auf Abtreibung ist auch die Frage verbunden, wie sehr Staat und Kirche getrennt sind. Wie sehr Gesetze auf Glaubensfragen aufbauen sollen. Und wie sehr die Frau noch immer eine Bürgerin und eine Gläubige zweiter Klasse ist, eine Heilige, eine Hure, eine Mutter, eine Sünderin.

«Wer die Gesellschaft kontrollieren will, der kontrolliert die Frauen», sagt die linke Politikerin Barbara Nowacka während eines Spaziergangs durch einen verlaubten Park. «Das Abtreibungs­verbot ist die Botschaft, dass die Hälfte des Volks kontrolliert werden kann.» Es sei nur logisch, dass noch immer viele Polinnen hinter der Kirche stünden, weil diese zu Zeiten des Kommunismus eine treibende Kraft des Widerstands war. Und die Politiker sich nun für diese Hilfe revanchieren. So können sich beide Mächte einen Teil des Kontrollkuchens sichern, eine Hand wäscht die andere, wer weiss, wann mal wieder jemand Hilfe braucht.

Vor eine andere Kirche, die am Tag zuvor besudelt worden ist, hat die Regierung Polizei postiert, und vor die Polizei Reihen an Militär. Die Streik-Ikone Marta Lempart schaut sich derweil im Hauptquartier des Widerstands im Zentrum Warschaus ein Video davon an, sie lacht und sagt: «Schaut mal, wie sehr wir Mädchen sie ängstigen.»

Auf die Attacken angesprochen, hat die Spitze des Frauenstreiks an der Pressekonferenz festgehalten, dass sie keine Form der Gewalt begrüsse. Man fokussiere lieber auf das Positive, auf die Tatsache, dass es sich um eine Bewegung völlig neuen Ausmasses handle, sogar Brautpaare mit Blitzen auf den Masken vor den Traualtar treten, das erste Mal so viele junge Menschen auf die Strasse gehen. Und Bauern, Buschauffeure, Bäcker, Bergmänner, Motorrad-Gangs.

3. Das ist Krieg

Freitag, 16 Uhr: In einem Wohnblock in der Nähe der medizinischen Universität Warschaus sitzt die 20-jährige Nina auf dem Boden im Wohnzimmer ihrer WG und legt ihre Rauchpetarden zurecht. Neben ihr liegen Feuchttücher aus dem Militärshop, gekauft für fünf Złoty das Stück, etwas mehr als ein Franken, sie sollen helfen, bei einem Tränengas­angriff den Schmerz zu lindern. Ihre Freunde schreiben sich derweil mit schwarzem Filzstift die Nummer des Anwalts auf den Arm, für den Fall, dass sie verhaftet werden und keinen Zugang mehr zu ihrem Mobiltelefon haben. Am meisten Angst, sagt Nina, zweites Jahr Medizinstudium, habe sie vor den Christen, die in den sozialen Netzwerken zu Gewalt aufrufen, die sich die Krieger Gottes nennen, die polnischen Hooligans, «die kommen, um uns wehzutun».

Auch deshalb werden sie heute Abend von zwei männlichen Freunden begleitet, aber auch, «weil das auch mein Kampf ist», sagt Mateusz, einer von ihnen. «Die Regierung hat einschneidende Veränderungen beschlossen, ohne mit den Leuten zu sprechen, sie beginnen, fanatisch religiös zu sein, und nehmen den Menschen ihre Rechte weg. Sie behandeln dieses Land wie ihr Eigentum.» Wenn jemand an der Tür klingelt, dann geht Nina unten aufschliessen und einer der Männer begleitet sie, dreimal täglich kontrollieren sie unten beim Eingang das Schloss.

Nina macht sich bereit für die nächste Demonstration …
… und auf mögliche schmerzhafte Erfahrungen mit Sicherheitskräften.
Immer häufiger eskaliert die Situation bei den Kundgebungen.

Nun sei der Moment gekommen, sagt sie, es sei nun «ein Kampf um alles, um Freiheit und Demokratie». Dann steht sie auf und läuft in ihr Zimmer, auf dem Bett liegen ein übergrosser Plüschhund von Ikea, ein Megafon, ein Smartphone mit Ladekabel und ein Stück Karton, auf dem steht: «Deine Katze mag Donald Tusk», eine Anspielung auf Kaczyńskis Haustier und seinen liberalen Gegner. Ihre Wut, so offen, und ihr Protestsatz, so harmlos.

To jest wojna lautet die Losung des Frauenstreiks: Das ist Krieg.

Freitag, 17 Uhr, der Protest beginnt, die Nacht, die in die Geschichtsbücher eingehen wird, einer der grössten Proteste seit Jahrzehnten. Gemäss Veranstaltern gehen über hunderttausend Menschen allein in Warschau auf die Strasse, landesweit sind es über 400’000 in mehr als 460 Orten. Bis in die hintersten Ecken Polens. Selbst in Gegenden, die bisher als Hochburgen der PiS galten.

Seit die Proteste begannen, ist die Unterstützung für die regierende PiS-Partei, die seit 2015 die Mehrheit im polnischen Parlament stellt, im Keller. Eine kurzzeitige, heftige Wendung in einem sonst seit Jahren stabil national-konservativen politischen Kurs, der immer weiter nach rechts rückt. Und der eigentlich von vielen Polinnen, gerade auch den jungen, unterstützt wird. Nicht nur, weil die Partei in den Ausbau von Sozial­leistungen für Familien investiert. Die PiS baut seit Jahren mehr oder minder schleichend die gesamte Gesellschaft um, das Justizsystem, das Bildungssystem, alles ist auf eine nationalistische ideologische Wende angelegt: das grosse Projekt, das potenzielle spätere Wahl­niederlagen überdauern soll.

Jarosław Kaczyński, der die PiS 2001 zusammen mit seinem Zwillings­bruder Lech gründete, dem späteren polnischen Präsidenten, geht es um das Festschreiben eines polnischen nationalistischen Narrativs, um den Traum einer homogenen Gesellschaft, die sich an traditionellen Werten orientiert. «Polen musste sich historisch gesehen immer gegen Feinde im Aussen wehren, wurde von allen Seiten okkupiert; auf diese Rhetorik des Kampfes gegen aussen kann sich die Regierung immer zurückberufen», sagt Jens Herlth, Professor für Slawistik an der Universität Freiburg.

Der Streit um das Thema Abtreibung passt da gut ins Bild, weil die Frau darin die intakte, gebärende Heilsbringerin eines nationalen Zusammenhalts mimt. Doch nun mischt sich die Beschneidung von Frauenrechten mit der Fehlkalkulation der Regierung: Sie wollte diese Gesetzes­änderung in Krisenzeiten beschliessen, inmitten einer Pandemie, in der Hoffnung, die Änderung werde von niemandem gross wahrgenommen. Und wenn doch, dann würden sich die Leute in ihren Häusern verstecken und darauf hoffen, nicht am Virus zu sterben.

Vom Stalin-Palast leuchtet ein riesiger, roter Blitz, kilometerweit sichtbar, die riesige, zähe Masse, die die Strassen füllt, bahnt sich ihren Weg durch die Stadt. Ein Fussmarsch Richtung Kaczyńskis Haus im Norden der Stadt, zwei Stunden, ein Meer von Masken. Eine friedliche, weltoffene Masse hat sich inmitten der Pandemie ihr Recht auf Selbst­bestimmung zurückerobert. Und es sind schlicht zu viele, um sie niederzuschlagen.

«Fick die PiS!»: Klare Botschaft an die Regierungspartei.

Kein Mensch weiss, wo Kaczyński gerade steckt, das Haus ist ganz dunkel, davor eine Wand von Polizisten, nur ein kleines Fenster leuchtet milchig-gelb in die Dunkelheit hinaus. 400 Meter davon entfernt steht Warschaus Aufstand und schreit seine Verpiss-dich-Parolen. Kurz vor Mitternacht rufen ein paar Menschen mit weisser Weste ins Megafon, man solle ins Stadtzentrum zurückkehren, auf dem Rücken steht Peacemaker, Friedensstifter, vorne links auf der Brust eine weisse Taube mit Olivenzweig. Die Masse leistet sofort Folge, die Menschen ziehen ab. Gerüchten zufolge hätten 10’000 Rechts­radikale den Marsch stören sollen. Ein paar wenige kamen. Doch die grosse Eskalation bleibt aus. Auf Twitter werden von linken Gruppierungen unter dem Hashtag #thisiswar derweil die ersten Bilder hochgeladen von attackierenden Nazis.

Das Kriegsnarrativ, dessen sich alle bedienen, die Feministinnen, die alten Männer, die Kirchenfanatiker, hat heute nicht im Krieg geendet. Doch morgen ist ein neuer Tag. Und so wenig heute Abend passiert ist, so laut die Musik aus den Boxen klang und so laut die Menschen «I don't care, I love it» sangen, so rasch kann hier in Polen die Stimmung wieder kippen.

Während die Protestierenden nach Hause laufen, arbeitet der Allpolnische Frauenstreik an einer nationalen Hotline für Rechtshilfe im Falle des Arrests. «Sie werden kommen», sagt Marta Lempart. Es sei nur eine Frage der Zeit.

4. Beten für das ungeborene Kind

Samstag, 9.30 Uhr. Priester Roman Trzcinski, 71 Jahre alt, öffnet die Tür zu seinem Zimmer im hinteren Teil der Kirche Sankt Jakob und streckt die Hand hin. Er streckt sie so lange hin und schaut einen an, bis man ihm die Hand reicht, obwohl man gar nicht sollte. Er sagt, legen Sie die Maske ab, setzen Sie sich, stellen Sie Fragen. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, vor ihm die aufgeschlagene Bibel, er faltet die Hände und schaut ruhig durch seine Brille. Auf dem Tisch liegt ein Unterschriftenbogen für eine Petition, «Ja zur Familie, Nein zu Gender».

Der Geist, sagt Pater Roman, ist willig. Doch der Körper ist schwach.

Der Feminismus, sagt Pater Roman, sei eine Ideologie. Diese Idee, dass der Frau mehr zustehe als dem Mann, nur weil sie eine Frau sei. Diese Idee, dass der Mann nichts wisse.

Manchmal kämen junge Leute zu ihm, weil er in dieser Pfarrei der Beauftragte für junge Gläubige ist, und fragten, was sie tun sollen, in der Liebe und in der Sexualität. Manche beichten eine Schwangerschaft und reden von Abtreibung, dann betet Priester Roman für die Mutter und betet dafür, dass das Kind geboren wird.

Mit Gottes Hilfe gegen das Unheil, das sich auf Warschaus Strassen breitmacht: Pater Roman.

«Abtreibung», sagt Pater Roman, «ist eine Sünde. Und ich glaube, diese Wut, die die Frauen jetzt spüren, kommt von diesen Abtreibungen. Viele Frauen in Polen hatten eine Abtreibung, und sie tragen nun nicht nur diese Schuld in sich, sondern auch eine grosse Wunde. Manche Menschen bitten Gott um Vergebung. Aber der Schmerz bleibt.» Und nun würden sie diesen Schmerz gegen die Kirche richten, gegen die Politik, gegen Gott und gegen sich selbst, aber sie blieben weiterhin Mitglieder der Kirche, «weil alle Menschen, die getauft sind, Mitglieder der Kirche bleiben, egal, was sie denken und tun».

Die regierende Partei, sagt Pater Roman, stehe für die katholische Kirche ein, für die Ideen von Leben und der richtigen Familie, für den echten Mann und die echte Frau.

Und was geht gerade vor sich, in den Strassen?

«Die totale Opposition.»

Dann lehnt sich Pater Roman vor und zieht die aufgeschlagenen Seiten näher zu sich, streicht über seinen krausen, grauen Bart und sagt: Epheser 6, 12.

Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister des himmlischen Reichs. Darum legt die Rüstung Gottes an, damit ihr am Tag des Unheils standhalten, alles vollbringen und den Kampf bestehen könnt.

Brief an die Epheser, 6, 12–13.

5. Niemand soll Angst haben müssen

Barbara Nowacka glaubt nicht an die Kraft der grossen, wütenden Masse. Sie glaubt auch nicht an Krieg. Sie, die Tochter der feministischen Politikerin Izabela Jaruga-Nowacka, einer Ikone, umgekommen im gleichen Flugzeug wie Lech Kaczyński, 2010. Nowacka, Atheistin, findet, es sei der falsche Weg, in Kirchen einzudringen und Menschen in ihrer Intimität mit Gott zu stören.

«Die Rolle des Staates ist doch, Sicherheit für alle zu garantieren. Für diejenigen, die beten wollen, genauso wie für diejenigen, die abtreiben wollen. Und der Staat soll sich in beides nicht einmischen.» In ihrer Kindheit stellten sich Rechts­radikale vor dem Haus ihrer Grossmutter auf, weil sie dachten, dort ihre Mutter zu finden, dieses Bild habe sich ihr eingebrannt. «Kein Kind, nicht mal die Katze eines Politikers, sollte Angst haben müssen vor einer wütenden Menge.»

Für Nowacka liegt die Lösung in der Politik. «Rebellion nur mit Wut im Bauch ist für die meisten Menschen zu leer. Wenn Sie sich die Proteste anschauen, werden Sie sehen, dass die 30-Jährigen nicht dabei waren, weil sie sich nicht wiederfinden in dieser Idee von Schreien ohne konkrete Pläne.» Warschau hat 2 Millionen Einwohner. Selbst wenn an diesem Freitag wirklich 150’000 Leute gekommen seien, aus allen Ecken des Landes: «Wo zur Hölle waren die anderen?»

«Die Rolle des Staates ist doch, Sicherheit für alle zu garantieren»: Barbara Nowacka, Parlamentarierin.

Es sei noch zu früh, zu sagen, die Tage der PiS seien nun gezählt, sagt Nowacka. Die Zustimmung liege noch immer über 20 Prozent. Die PiS kontrolliert noch immer die Medien, die Polizei, den Präsidenten, das Parlament. Sie hat noch immer die ganze Macht. Die Demonstrationen sind stark, aber sie sind keine Gefahr für die Stabilität des Staates. Erst wenn die Züge nicht mehr fahren und die Fabriken nicht mehr produzieren, wird es kritisch. Solange es bei einer tanzenden, fröhlichen Parade bleibt, macht das zwar Eindruck. Doch nicht genug Angst.

32 Prozent, sagt Barbara Nowacka dann, 32 Prozent sei es 1989 egal gewesen, ob sie weiter im Kommunismus leben oder in einer Demokratie. Und so sei es auch heute. «Die Leute haben anderes zu tun, als sich um die Politik zu kümmern, verstehen Sie?» Vielleicht seien Neuwahlen im Frühling möglich. Doch wohl nur, wenn die Wut noch Monate anhalte. Noch hat die Regierung das Verdikt des Verfassungs­gerichts nicht offiziell publiziert. Bis sie das tut, tritt die Änderung des Gesetzes nicht in Kraft.

Während die sozialen Netzwerke brennen, die Strassen der grossen Städte brennen, während junge Frauen und Männer schreien und sich rote Blitze auf ihre Brust malen, bleibt eine grosse, unsichtbare Mehrheit still. Viele werden die PiS nicht mehr wählen, weil die Partei selbst konservativen Wählern zu weit ging. Einige werden aufhören, in die Kirche zu gehen. Andere werden einfach weiterleben und weiterhin nicht wählen gehen.

Viele Frauen werden weiterhin über die Grenzen fahren, irgendwohin, und sich dort den Fötus wegmachen lassen. Sie werden dann wiederkommen und ganz vereinzelt davon erzählen, die meisten jedoch werden kein Wort darüber verlieren, und wenn, dann nicht mit Namen, aus Angst. Und wieder andere, vor allem in den ländlichen Gegenden, im Osten Polens, werden noch glühender dafür kämpfen, dass ihr Glaube noch einen Platz hat, die Kirche noch heilig ist und die Kinder noch geboren werden sollen, auch wenn ihre Mutter sie nicht wollte.

Da wird Blut sein, auf dem Boden, in einem Badezimmer irgendwo in der Provinz, und da wird rote Farbe kleben, an Hydranten und an Kirchenfassaden und auf Asphalt.

Und während diejenigen, die nicht still bleiben, auf die Strassen gehen, die einen für den Kampf um ihren Körper, die anderen für den Kampf um ihren Glauben, während sie sich vor Altäre stellen und vor Vulvas und vor Regenbogen­fahnen, füttert hinter grossen, steinernen Mauern ein kleiner, alter Mann seine Katze und legt sich dann schlafen, bis die Kirchenglocken den neuen Tag ankünden.

In einer früheren Version hatten wir den Namen der Aktivistin Marta Lempart falsch geschrieben. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

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