Aus der Arena

Einfach mal Ruhe!

Eine Mehrheit der US-Amerikanerinnen wünscht sich, die sozialen Netzwerke würden während der Wahlen abgeschaltet. Warum das keine so schlechte Idee ist.

Von Adrienne Fichter, 02.11.2020

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Erinnern Sie sich noch an die Fake-News-Debatte im November 2016? Facebook und andere soziale Netzwerke sollen wegen gezielter Kampagnen voller Desinformation dafür verantwortlich gewesen sein, dass Präsident Donald Trump gewählt wurde. Es war eine hitzige Debatte.

Nun, dieses Mal ist sie sogar noch hitziger.

Eine Mehrheit der Amerikaner will laut einer Umfrage von Axios die sozialen Netzwerke während und nach der Präsidenten­wahl vom 3. November einfach mal ausschalten. Damit die hoch polarisierten Plattformen die Gefahr von politischer Gewalt nicht zusätzlich verstärken. Diese Haltung vertreten viele verschiedene Menschen unter­schiedlicher politischer Couleur. Auch solche, die eher den Republikanern zuneigen, wie dieser Tweet einer beliebigen Bürgerin von letzter Woche zeigt:

I wish Twitter and Facebook would crash for an entire week. That’d be the best thing to happen to this country.

Social Media gelten inzwischen nicht mehr nur als Brand­stifter, sondern gar als Gefahr für den Frieden im Land. Warum hat sich die Situation eine ganze Legislatur­periode später trotz einem Dutzend Anhörungen vor dem Kongress, Milliarden­bussen und Selbst­regulierungs­massnahmen von Tech-Unternehmen offensichtlich nicht verbessert – im Gegenteil? Warum ist sie so eskaliert?

Alle Augen auf (politischer) Werbung

Es liegt unter anderem daran, dass wir alle – Journalistinnen, Watchdogs, Politikerinnen – vor vier Jahren das Problem nicht ganz präzise identifiziert hatten.

Auch ich gehörte damals zu denen, die individualisierte Werbeformate anprangerten: Im Nachgang der Wahl von 2016 wurde bekannt, dass die Trump-Kampagne mithilfe von zugeschnittener Werbung Afroamerikaner und Frauen in den swing states vom Wählen abzuhalten versucht hatte. Eines der meist­diskutierten Themen danach war darum die Sorge, solches «Mikrotargeting» könne die Gesellschaft atomisieren und tief spalten.

Demokratiepolitisch sind diese Bedenken berechtigt. Sind die Kampagnen­botschaften nicht transparent, können Forscherinnen und Journalisten die Argumente von Politikerinnen im Wahlkampf nicht nachvollziehen, einordnen und sachlich kritisieren. Und die Big-Data-Firma Cambridge Analytica, die damals ihre Finger im Spiel hatte, ist ohne Zweifel eine Firma mit sehr dubiosen Methoden.

Nach langem Zögern und Zaudern sahen auch die Spitzen der Tech-Firmen das durchaus ein. Twitter verbannte politische Werbung ganz aus ihrem Werbe­angebot, Facebook sperrt diese während und nach der US-Wahl für unbestimmte Zeit.

Die Sache ist nur, dass das allein wenig nützt. Denn das Problem geht weit über die Werbe­thematik hinaus. Es ist im tiefsten Kern des Geschäfts­modells angelegt. Genauer: in den Newsfeed- und Empfehlungs­algorithmen.

Empörung als Geschäftsmodell

Diese Algorithmen sortieren unsere Informationen gemäss unseren Präferenzen vor, insbesondere bei Youtube und Facebook. Gleichzeitig bevorzugen die Algorithmen hoch emotionale Inhalte, weil sie uns länger und mit mehr «Engagement» auf den Plattformen halten. Das schafft die – inzwischen wissenschaftlich belegte – Gefahr, dass Nutzerinnen mit der Zeit immer radikalere Beiträge zu sehen bekommen.

Besonders gut darin, mit den Algorithmen zu spielen, sind die Alt-Right-Kanäle mit ihrem rechts­extremen Fokus. Sie produzieren agil so viele Inhalte, dass diese bei allen Such­begriffen die Empfehlungs­algorithmen dominieren. Und damit andere, vor allem auch seriöse Informations­quellen, verdrängen. «Data void» nennt man dieses Phänomen.

Die Plattformen werden damit zu Katalysatoren einer anhaltend gefährlichen Entwicklung: Sie drängen uns in eine Gesellschaft, in der wir uns nicht mehr nur über Lösungen eines Problems uneinig sind, sondern auch darüber, was überhaupt das Problem ist. Unser Konsens über Fakten erodiert.

Inzwischen versuchen Moderatorinnen beispiels­weise bei Terror­anschlägen, seriöse Nachrichten­quellen künstlich in die Top-5-Vorschläge von Newsfeeds zu injizieren. Im Oktober – nur einen Monat vor der US-Wahl – entfernten Facebook, Twitter und Youtube in einer konzertierten Aktion die QAnon-Gruppen von ihren Plattformen, die sich um eine Verschwörungs­theorie drehen. Doch diese Inter­ventionen sind nichts anderes als Sisyphus­arbeit. Gegen die Spaltkraft der Algorithmen kommen sie nicht an.

Die wachsende Flat-Earther-Bewegung beispielsweise wird Youtube nicht mehr los. Und will das vermutlich auch nicht. Zu attraktiv sind krude Verschwörungs­erzählungen und hate speech für die Tech-Konzerne. Auch Facebook-CEO Mark Zuckerberg brauchte Jahre, bis er sich dazu durchringen konnte, die Leugnung des Holocaust von seiner Plattform zu verbannen. Die bittere Ironie dabei ist, dass die selbstlernenden Facebook-Werbe­algorithmen – wegen grosser Nachfrage – eine eigene Kategorie dafür geschaffen haben: jew haters.

Es ist inzwischen empirisch belegt, dass Facebook und Youtube trotz ihrer Bemühungen immer mehr zu Radikalisierungs­maschinen verkommen. Das vernichtende Fazit des soeben erschienenen «Digital News Report» 2020 unterstreicht den Missstand: «Facebook wird fast überall als Haupt­kanal für die Verbreitung von falscher Information angesehen, während Whatsapp vor allem in Teilen des globalen Südens, wie Brasilien oder Malaysia, als dafür verantwortlich angesehen wird.»

Doch die Plattformen sind nicht an allem schuld. Auch das Nutzungs­verhalten der Internet­userinnen hat sich verändert. Sie «erhitzen» sich nicht nur auf den öffentlichen Platt­formen, sondern auch woanders.

Vorglühen auf Telegram

Um es mit einem Bild zu beschreiben: Nehmen wir mal an, Social-Media-Nutzerinnen wären ausgeh­freudige Jugendliche. Statt wie vor vier Jahren direkt nach dem Abend­essen an die Party zu gehen (die Dorfdiscos wären Facebook und Youtube), besuchen sie heute zuerst ihre Freunde zu Hause. Diese privaten Wohnzimmer heissen Telegram und Whatsapp. Dort heizen sich die Jugendlichen in Gruppen auf. Nach dem «Vorglühen» gehen sie schwer alkoholisiert an die Party und lassen die Sau raus.

Mit anderen Worten: Hirngespinste und Narrative werden in den semiprivaten Kanälen von Telegram und Whatsapp ausgebrütet. Laut hinaus­posaunt werden sie dann auf Facebook, Twitter und Youtube.

Natürlich, Social Media haben weder Filter­blasen noch die Desinformation erfunden. Incels, Impf­gegnerinnen oder Flat-Earth-Gläubige sind digital­unabhängige Phänomene. Doch die Plattformen bieten Gruppen eine Infrastruktur und Mobilisierungs­bühnen und schaffen finanzielle Anreize für immer radikalere Auftritte.

Zurück zum Ausgangspunkt: Sollten sich die Plattformen während der US-Wahl mal selbst vorüber­gehend abschalten? Bis alle Auszählungen der abgegebenen Stimmen vollzogen sind? Das wäre vielleicht tatsächlich nicht die schlechteste Idee.

Zündler und Aufheizerinnen würden sich dann zwar noch immer in ihren digitalen Kokons und Wohn­zimmern tummeln und sich sinnlos betrinken.

Aber die grosse Bühne für den Radau würde ihnen fehlen.

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