Covid-19-Uhr-Newsletter

Merci. Ade. Santé

23.10.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Es ist grade ziemlich dunkel im Wallis. Der Kanton hat Mitte Woche Einschränkungen beschlossen, die nicht mehr allzu weit weg sind von jenen im Frühjahr. Wir haben einen Walliser für einen kurzen Text dazu angefragt. Er heisst Patrick Venetz, war bis vor ein paar Wochen im IT-Team der Republik und hat 17-mal den Titel des Mitarbeiters des Monats gewonnen – in Folge. Hier sein Text.

Hallo. Sässen Sie mit mir, dann hätten wir heute Abend mit einem Ballon Heida angestossen, auf den Feierabend, vielleicht am Tresen, sich der Winterjacke zu entledigen, ergab sich noch nicht. Santé. Wir erkundigen uns flink über Familie, nicht zu neugierig, nicht zu viel, vielleicht auch noch kurz über die Arbeit, tut, ja, flott, demfall.

Ein weiterer Schluck vom Heida, eine Pause, knapp den Nachbarn auf der anderen Seite des Tresens zunickend. Wir atmen tief durch, richten uns auf und beginnen mit dem eigentlichen Gespräch, einer Mischform aus Diskussion, Präsentation und Absolution.

Wir müssen uns eingestehen, dass uns die Chose entglitten ist, ja, dass wir erneut in einer beschissenen Situation stecken. Schlimmer als in der Üsserschwiiz. Schlimmer als überall.

Und es passierte alles so vermeintlich plötzlich.

Vor zwei Wochen noch sass ich zufällig mit einem Mitglied des Walliser Staatsrats bei einem Ballon Johannis in der Herbstsonne. Er erkundigte sich danach, ob ich denn Schwierigkeiten hätte, nach Berlin zu reisen. Einige Berliner Bezirke hatten sich zur Aufregung vieler längst zu Infektionsherden entwickelt.

Ursprünglich wuchs ich im kleineren, deutschsprachigen Teil des Kantons auf, im Oberwallis. Und trotz jahrelanger Bemühungen will sich zwischen den Oberwalliserinnen und dem grösseren, französischsprachigen Unterwallis nur zäh ein Gemeinschafts­gefühl einstellen.

Manch eine verwies da noch auf die schneller steigenden Fallzahlen und Infektionscluster im Unterwallis. Da hoffte manch noch einer auf regionale Lösungsansätze, selbstredend in den anderssprachigen Zehnden.

Ich bestelle noch eine Runde beim Fräulein, Sie korrigieren mich. Das wäre despektierlich, das sei heute nicht mehr zu sagen, eine andere Generation wäre das, wie sie in der Üsserschwiiz lernten. Für einen kurzen Moment überlege ich mir, ob ich etwas Boshaftes über die Grüäzini sagen soll, erst die Sache mit dem Wolf, jetzt die Fräuleins?

Eine knappe Woche ist es jetzt her, da zeigte sich – vermeintlich plötzlich – der Verbund der Gesundheitseinrichtungen im Wallis alarmiert: «Die Spitäler bereiten sich darauf vor, überfordert zu werden.» Die Einweisungen hätten sich binnen zweier Tage verdoppelt. Wir reden darüber, wie das wohl sein muss, da zu arbeiten und zu spüren, dass man bald schon machtlos sein könnte gegen das, was kommt.

Vorgestern erliess die Regierung – vermeintlich plötzlich – ein harsches Massnahmenpaket. Seit gestern gilt es. Der Staatsrat sei sich bewusst, dass es schwierig sein werde, die Ausbreitung der Epidemie rasch einzudämmen, da die getroffenen Massnahmen erst in zwei Wochen greifen würden.

Gesundheitsministerin Esther Waeber-Kalbermatten erklärte, dass es jetzt fünf nach zwölf sei, regional sei nicht mehr, und sie bat darum, sich solidarisch zu zeigen, «auch bei den Massnahmen».

Zwei Wochen, bis es hoffentlich besser wird, lahd schi nid la ändru.

Und bevor wir das dritte Ballon zu Ende bringen und um 22 Uhr nach Hause müssen, weil, die wollen das ja so, aber schon gut so … jedenfalls erzähle ich Ihnen noch eine Anekdote, ohne richtige Pointe, gehört dazu, das ist das Problem bei dieser Pandemie, dass sie sich so anfühlt, als ob sie keine richtige Pointe hat, nur Dinge, die halt irgendwie passieren, oft vermeintlich plötzlich.

Einer meiner engsten Freunde arbeitet für einen Walliser Eishockeyclub. Mit den plötzlichen Massnahmen des Kantons Wallis mussten sie den Publikumsbetrieb einstellen. Die teuer installierten Schutzvorkehrungen wurden binnen 24 Stunden überflüssig. Er und seine Arbeitskolleginnen nahmen die noch für das Match vorbereiteten Sandwiches und Bratwürste mit nach Hause.

Haha. Kling. Santé.

Merci. Danke. Ade.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Dringende Warnung der wissenschaftlichen Taskforce. Wenn die jetzigen Massnahmen nicht greifen, dann sind die Spitäler in zwei bis drei Wochen komplett voll. «Wir gehen davon aus, dass die Kapazitätsobergrenze zwischen dem 5. und dem 18. November erreicht wird, wenn sich an der aktuellen Situation nichts ändert.» Das sagte Martin Ackermann, der Präsident der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes, heute an einer Medienkonferenz. Er forderte, sichtlich emotional, umgehend weitere Massnahmen. Grob gesagt müssten wir alle die Zahl unserer Treffen mit anderen Menschen halbieren.

Zig Kantone beschliessen strengere Massnahmen. Neuenburg, Freiburg und der Jura haben heute allesamt ähnliche Regeln beschlossen wie zuvor das Wallis. Freizeiteinrichtungen (wie Schwimmbäder oder Fitnesscenter) werden geschlossen, Kontaktsport und Chorproben verboten, Zusammen­künfte massiv eingeschränkt (auf 10 respektive 15 Personen) – und Restaurants und Bars müssen früher schliessen. Die Waadt beschränkt private Treffen auf 10 Personen und verbietet Gross­veranstaltungen. In Genf dürfen sich jetzt nur noch 5 Personen treffen. Auch eine Reihe von Kantonen in der Deutschschweiz hat nachgezogen. Luzern verschärft die Maskenpflicht und führt eine Sperrstunde ein. Genauso der Kanton Bern, der seinerseits zudem Veranstaltungen mit mehr als 15 Personen verbietet und Bars und Clubs schliesst. Solothurn verbietet Grossveranstaltungen, Zürich will die Kontaktverfolgung ausbauen – und Uri hat beschlossen, vorerst abzuwarten. Eine aktuelle Übersicht finden Sie beispielsweise beim «Blick».

Zukunftstag und Jugendsession sind abgesagt. Keine Kinderbesuche im Büro am 12. November und keine Politik unter der Bundeshauskuppel vom 5. bis 8. November. Die Organisatorinnen haben beide Anlässe wegen der zu hohen Infektionsgefahr abgesagt.

Und zum Schluss: Der Lagebericht zur Woche

Wie Sie sicher bemerkt haben, bringen wir in diesem Newsletter nicht mehr die Zahl der täglich gemeldeten positiven Tests. Weil viele davon erst mit ein wenig Verspätung in die Statistik einfliessen (und das Bundesamt für Gesundheit am Montag auch die Zahlen vom Wochenende veröffentlicht), finden wir das sinnvoller. Feedback dazu gerne erwünscht: covid19@republik.ch.

Einen vernünftigen Eindruck der Entwicklung und einen Vergleich zum Frühling bietet zum aktuellen Zeitpunkt die Kurve der Spitaleinweisungen im 7-Tage-Schnitt. Sie zeigt derzeit stark nach oben.

Neue Spitaleinweisungen; gleitender Mittelwert über 7 Tage. Die Daten nach dem 20. Oktober sind vermutlich noch unvollständig, deshalb haben wir sie nicht berücksichtigt. Stand: 23.10.2020. Unsere Quelle ist das Bundesamt für Gesundheit.

Der richtig steile Anstieg hat erst vor knapp zwei Wochen begonnen, denn die Spitaleinweisungen hinken den Infektionszahlen immer hinterher: Zwischen ersten Symptomen oder einem positiven Testresultat und dem Moment, in dem jemand so krank ist, dass sie ins Spital muss, vergeht etwas Zeit. Eine knappe Woche lag bei der ersten Welle zwischen den Höchstwerten bei den positiven Tests und denen bei den Hospitalisierungen.

Das heisst: Sie und wir müssen damit rechnen, dass die Kurve noch eine ganze Weile weiter so steigt. Vorsichtig optimistisch können wir davon ausgehen, dass wir den Effekt der am Montag eingeführten schweizweiten Massnahmen (und weiterer, kantonaler Zusatzregeln) in rund einer Woche sehen – in der Kurve der Fallzahlen. Das heisst für die Spitaleinweisungen: in rund zwei Wochen.

Das sind keine allzu guten Aussichten, zumal natürlich auch auf Intensiv­stationen die Zahl der Covid-19-Patientinnen steigt. Und die Ressourcen endlich sind. Wenn in unserem Lagebericht vom kommenden Freitag die Kurve der Spitaleinweisungen schon etwas abflachte, wäre das also eine sehr, sehr gute Nachricht. Und ein guter Grund, am Freitagabend eine gute Flasche Wein zu öffnen. Am besten in der eigenen Küche.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Patrick Venetz

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Wir beschliessen die Woche mit einer bittersüssen, aber hoffnungsvollen Beobachtung. Sie kommt aus Israel. Das Land ist eines der ersten, die einen zweiten Lockdown durchgemacht haben. Nun haben Auswertungen gezeigt, dass dieser – obwohl nicht ganz so hart wie der erste – nochmals erfolgreich war. Mehr noch: Er hat die Fallzahlen diesmal sogar früher und schneller gedrückt. Das zeigt einmal mehr: Gesellschaften sind diesem Virus nicht hilflos ausgeliefert. Sars-CoV-2 ist und bleibt ein fantasieloses Häufchen Moleküle. Menschen dagegen sind zäh, einfallsreich – und fähig zu fantastischen Taten. Bis am Montag.

In einer früheren Version des Newsletters haben wir die Daten von Zukunftstag und Jugendsession vertauscht. Wir bitten um Entschuldigung.

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