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22.10.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Wahrscheinlich vergeht auch in Ihrem Leben zurzeit kaum ein Tag, ohne dass Sie jemanden «Eigenverantwortung» sagen hören. (Je nach Situation mit oder ohne Ausrufezeichen. Meistens mit.) Sie soll jedem von uns helfen, gut durch die Pandemie zu kommen: Bundesrat und BAG appellieren an sie, rechte und libertäre Kritiker sähen gern mehr davon, und privat verweisen Cousins oder Freundinnen darauf, wenn sie trotz Corona demnächst zur Dinnerparty laden. «Wir setzen auf Eigenverantwortung!»

Sind Ihre Nerven «jetzt wirklich alle gefordert», wenn Sie diesen Satz hören? Damit sind Sie nicht allein.

Als Grundgedanke war die Sache mit der «Eigenverantwortung» durchaus mal revolutionär: Bürgerinnen fügen sich nicht in eine von Gott oder dem König gegebene Ordnung (wie das im Mittelalter der Fall war), sondern denken und entscheiden selber. Heute – ein paar französische Philosophen mit lustigen Frisuren und russische Hoheiten mit schlechtem PR-Berater später – hat es ein demokratischer Staat zu rechtfertigen, wenn er in die Freiheit seiner Bürger eingreift. Was er tut, muss nützlich und verhältnismässig sein – so steht es in der Verfassung. Das leuchtet ein. Die Sache ist nur leider: Oft haben gerade jene, die am lautesten nach «Eigenverantwortung» rufen, Sinn und Grenzen des Prinzips nicht verstanden – oder sie pfeifen einfach darauf.

Ausgerechnet die Wirtschaftswissenschaften beispielsweise wiesen immer schon darauf hin, dass die Idee der «Eigenverantwortung» für viele gesellschaftliche Herausforderungen nicht taugt. Es gibt dazu mehrere Theorien, aber die prominenteste nennt sich «die Tragödie der Allmende», im englischen Original «tragedy of the commons». Sie beschreibt Fälle, in denen kostenlose und für alle verfügbare Ressourcen (Allmenden eben) zerstört werden, wenn jeder einfach eigenverantwortlich tut, was ihm gerade so passt. Beispiele: Seen und Flüsse, in die jede einfach ihr individuelles Abwasser ablässt. Einst klare Luft, die von individuellen Fabriken verpestet wird. Wildtiere, die jeder nach individuellem Bedarf jagt und tötet. Weil die Folgen davon irgendwie alle und niemanden treffen, gehen «eigenverantwortlich» umsorgte Allmenden langsam und tragisch zugrunde. Darum räumen selbst erzliberale Denker traditionell ein, dass Umweltschutz oder Klimaschutz Regeln brauchen, die für alle gelten, Punkt. (Die Ökonomin Elinor Ostrom gewann übrigens für ihre Arbeiten zur gemeinschaftlichen Nutzung von Allmenden als erste Frau den Wirtschaftsnobelpreis.)

Zurück zur Pandemie. Man kann nun argumentieren, dass die öffentliche Gesundheit eine typische Allmende ist: Alle profitieren davon, wenn sie da ist, aber niemand ist allein für sie verantwortlich. Und ein Verhalten, das jedem von uns individuell jeweils völlig vertretbar scheint, kann für die Allgemeinheit üble Auswirkungen haben. Darum braucht es in Pandemien eben auch Regeln, die für alle gelten. Oder einfacher: Wenn Sie einen fahren lassen, dann riechen das auch andere.

Wenn das nichts nützt und jemand das nächste Mal «Eigenverantwortung» schreit, dann geben Sie einfach zurück: «Tragedy!»

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Deutschland erklärt die Schweiz zum Risikogebiet. Das Robert-Koch-Institut hat heute Donnerstag die gesamte Schweiz zum Risikogebiet erklärt. Das hat ab Samstag praktische Konsequenzen für Reisen nach Deutschland. Ohne einen negativen Test, nicht älter als zwei Tage, müssen Einreisende in Quarantäne. Es gibt eine Reihe von Ausnahmen, die «Watson» hier praktisch zusammengefasst hat. Bewohnerinnen von Grenzkantonen können beispielsweise 24 Stunden ohne Quarantäne einreisen.

Bald kommen schärfere regionale Regeln. Lukas Engelberger hat heute an einer Medienkonferenz angekündigt, dass mehrere Kantone bald weitere Regeln erlassen werden. Engelberger ist der Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz. Er nannte strengere Maskenpflichten, kleinere Gruppengrössen, weniger Besucherinnen in Restaurants und Bars sowie die Schliessung von Freizeiteinrichtungen. Das, weil Spitäler «in einigen Regionen jetzt an die Kapazitätsgrenzen» stossen würden. Besonders stark sei das Wallis betroffen.

Maskenpflicht an Schulen. Mehrere Kantone haben in den letzten Tagen eine strengere Maskentragpflicht für Schülerinnen beschlossen. Ab der Sekundarstufe I gilt sie beispielsweise seit gestern im Kanton Appenzell Ausserrhoden. In der Stadt St. Gallen ebenso. Im Kanton Schwyz wurde sie nun ins Schulzimmer selbst ausgeweitet. Und ab kommender Woche müssen auch an den Schulen im Kanton Basel-Stadt ab der Sekundarstufe die Schülerinnen und Lehrer während des Unterrichts Maske tragen.

Pflegepersonal kündigt eine Protestwoche an. «Applaus ist nicht genug» – unter diesem Slogan fordern Beschäftigte im Gesundheitswesen «mehr Transparenz und eine echte Überwachung der Situation des Gesundheitspersonals». Der Bundesrat soll eine unabhängige Untersuchung dazu veranlassen, wie die Pandemie Pflegefachkräfte belastet – und welche Massnahmen zur Krisenbewältigung getroffen wurden.

Und zum Schluss: Gute* Nachrichten zur Sterblichkeit!

* unter bestimmten Bedingungen

Wie viele Menschen, die an Covid-19 erkranken, müssen sterben? Zwei peer-reviewte (also von Fachkolleginnen kritisch begutachtete) Studien kommen zum Schluss: nicht mehr so viele wie im Frühling. Und zwar unabhängig vom Alter oder von Vorerkrankungen. So ist in der Zeitspanne von März bis August die Sterblichkeit von hospitalisierten Patientinnen im amerikanischen «NYU Langone Health»-Spitalverbund von 25,5 auf 7,6 Prozent gefallen. (Hier die frei lesbare frühere Vorabpublikation, sie wird kommende Woche in einem Journal publiziert.) «Die Todesrate ist aber immer noch höher als viele Infektionskrankheiten, inklusive der Grippe», sagte eine der Studienautorinnen zum US-Radio NPR. Und auch Genesene könnten noch für Monate unter den Komplikationen leiden. Aber auch: «I do think this is good news.» Eine Studie aus Grossbritannien kommt auf ähnliche Zahlen (hier ebenfalls die Vorab-Version). Die Autorinnen der beiden Studien erklären sich das unter anderem damit, dass Ärztinnen und Pfleger nun mehr Erfahrung mit der Krankheit hätten. Und auch dass maskierte Menschen eine geringere Virendosis abbekommen, könnte eine Rolle spielen. Eine wichtige Einschränkung gibt es. Die Daten würden ebenfalls darauf hinweisen, dass die Sterblichkeit wieder steigen könnte, sollten die Spitäler überlastet sein.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Frohen Almend

Oliver Fuchs und Olivia Kühni

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Ein Nachruf. James Randi, Magier und Entfesselungskünstler, ist diese Woche gestorben. Randi hat einen Grossteil seines Lebens dem ausgesprochen höflichen Kampf gegen Wunderheiler, Quacksalber, Schlangenöl-Verkäufer und Löffelbieger gewidmet. «Magier», hat er mal gesagt, «sind die ehrlichsten Menschen der Welt. Sie sagen dir, dass sie dich täuschen werden – und dann tun sie es.» Er wurde 92 Jahre alt. Es hätte noch viel zu tun gegeben.

PPPPS: Kinder sind wunderbare Wesen. Manchmal überraschen sie alle – indem sie entzückend offensichtliche Dinge tun.

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