Strassberg

Vom Stigma zum Stolz

Es ist gefährlich, wenn biologische Merkmale gesellschaftliche Identitäten definieren. Selbst wenn diese kein Makel, sondern eine Auszeichnung sind.

Von Daniel Strassberg, 20.10.2020

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Limpieza de sangre – also die «Reinheit des Blutes» – war eine Erfindung der aller­katholischsten Könige von Spanien, Isabella von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón. Nach dem Fall von Granada, der letzten islamischen Bastion auf spanischem Boden, beschlossen sie, auch gleich noch die Juden loszuwerden. Im Jahr 1492 wurden diese vor die Wahl gestellt, Spanien zu verlassen oder zum Christen­tum zu konvertieren.

Der Erlass war ein Schuss ins eigene Knie. Die meisten Juden blieben, traten aber nur zum Schein zum christlichen Glauben über und hielten im Geheimen am Glauben ihrer Mütter fest. Weil sie als Christen nun nicht mehr verfolgt und ihre Aktivitäten nicht mehr eingeschränkt werden durften, stärkte der Erlass ihre soziale und ökonomische Stellung, statt sie zu schwächen. Die Altchristen sahen ihre Felle davon­schwimmen und fürchteten, von den Neuchristen (conversos oder marranos) ins Abseits gedrängt zu werden. Um ihre Vormacht­stellung zu sichern, erfanden sie deshalb die Reinheit des Blutes: Wer nicht nachweisen konnte, dass er in dritter Generation reinen – und das hiess nichtjüdischen – Blutes war, wurde von den meisten gesellschaftlichen Funktionen ausgeschlossen.

Viele Forscher sehen im Alhambra-Erlass den Ursprung des europäischen Rassismus: Das erste Mal wurden Menschen aufgrund eines (vermeintlichen) biologischen Merkmals diskriminiert. Natürlich gab es schon vorher Unter­drückung und Versklavung, doch diese Diskriminierungen wurden nie mit körperlichen Merkmalen begründet, sondern mit Glauben, Herkunft und Geschlecht, letztlich also mit der göttlichen Ordnung: Die Unter­drückung der Frau war im christlichen Mittel­alter beispiels­weise nicht Sache eines minder­wertigen Körpers, sondern einer Seele von schlechter Qualität.

Es dauerte noch einmal etwa 250 Jahre, bis sich die Einteilung und Unter­drückung von Menschen aufgrund körperlicher Merkmale vollständig durchsetzte. Paradoxer­weise in der Zeit der Aufklärung. Doch das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Der Rassismus war und ist als Begleit­erscheinung der Aufklärung der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet. Es gibt keinen Rassismus ohne Wissenschaft, nur dass heute die Genetik und Theorien über hoch- und minderwertige DNA die äusseren physischen Merkmale verdrängen.

Der eigentliche Grund, die Menschheit aufgrund «objektiver» körperlicher Merkmale einzuteilen, war jedoch die Sklaverei. Wäre man bei der Religion als Unter­scheidungs­kriterium geblieben, hätten sich die Sklaven lediglich taufen lassen müssen, und schon wären sie frei gewesen. Ein ökonomisches Desaster wäre die Folge gewesen.

Seit dem 18. Jahrhundert fahndet die Wissenschaft also nach einem stabilen und irreversiblen Kriterium, um Menschen einzuteilen. Der Mediziner Franz Joseph Gall (1758–1828) versuchte es mit der Schädel­form, der Zürcher Philosoph Johann Caspar Lavater (1741–1801) mit der Physiognomie. In rascher Folge kamen Hautfarbe, Geschlechts­teile, Haarfarbe (schlecht, Haare lassen sich färben!), Hirngrösse, Nasenform dazu. Seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms wird die Suche nun ins Innere des Zellkerns verlegt.

Doch die Vorstellungen, die damit verbunden werden, bleiben sich gleich:

  1. Körperliche Merkmale verweisen auf innere Eigenschaften,

  2. körperliche Merkmale bleiben meist über Generationen hinweg stabil,

  3. Einteilungen sind wissenschaftlich objektivierbar. Noch heute werden Diskriminierungen «wissenschaftlich» bewiesen. Lesen Sie dazu Thilo Sarrazin – wenn Sie einen robusten Magen haben.

Doch natürlich hat das Ganze einen Haken: Die meisten einschlägigen Körper­merkmale sind reine Fiktionen. Das Blut der Juden ist so rot und so rein wie das Blut der Christen. Auch die Hautfarbe ist eine blosse Ein­bildung – oder haben Sie schon einen weissen, schwarzen, roten oder gelben Menschen gesehen? Die primären weiblichen Geschlechts­merkmale gibt es zwar, aber sie wurden von der sogenannten «Wissenschaft» lange Zeit als Loch betrachtet, an dessen Stelle ganz einfach das männliche Glied fehlt.

Mit anderen Worten: Gerade die vermeintlich eindeutigsten, sichtbarsten und objektivsten Unterscheidungs­merkmale erweisen sich bei genauer Hinsicht als zum Teil groteske Phantasmen.

Nun kann man seit einigen Jahren eine seltsame Umwendung des Rassismus beobachten, eine Art inverser Autorassismus. Körperliche Merkmale dienen nicht mehr der Fremd­beschreibung, sondern zunehmend auch der eigenen Identitäts­bildung. Man teilt sich selbst nach Geschlecht, sexueller Orientierung (die als genetisch festgelegt gilt), Hautfarbe, Behinderung, BMI etc. einer Gruppe zu, identifiziert sich mit seiner Gruppe und verteidigt sie ohne Wenn und Aber gegen alle Widerstände. Man ist stolz darauf, als Frau/Schwarze/Jude geboren zu sein, denn man ist auf der richtigen Seite geboren und von Geburt gegen Unmenschlichkeit immunisiert. So hat sich Rob Spence gegen den Vorwurf, seine Ansichten seien faschismusnah, mit dem Hinweis verteidigt, er sei schliesslich jüdischer Abstammung.

Limpieza de sangre mal umgekehrt.

Auf diese Weise entstehen auf der Grundlage körperlicher Merkmale ganze Kulturen. Es gibt heute eine Kultur der Schwarzen, der Frauen, der Behinderten und der Schwulen, und es wird akribisch darauf geachtet, dass sich niemand zu Unrecht in die falsche Gruppe einschreibt. So wurde von progressiver Seite die Frage aufgeworfen, ob die demokratische Kandidatin für die Vizepräsidentschaft der USA, Kamala Harris, tatsächlich schwarz genug ist, um sich als Schwarze zu qualifizieren. Doch recht bizarr.

Selbstverständlich ist es richtig, dass alle Interessen angemessen vertreten sein müssen, fragwürdig wird es erst, wenn Interessen zu eng an den Körper gebunden werden. Armut scheint so als vertretungs­würdiges Interesse ausgeschlossen zu werden. Oder haben Sie schon einmal von einem Shitstorm gehört, weil auf ein Podium keine bedürftige Person eingeladen wurde? Dies zeigt, dass das Argument, dass es nicht um den Körper, sondern um die Erfahrungen der Frau, des Schwarzen oder des Behinderten gehe, faden­scheinig ist: Armut ist eine kaum zu überbietende Demütigung, und doch bleibt sie gesellschaftlich weitgehend unsichtbar.

Im Jahr 1985 konnte die US-amerikanische Feministin Donna Haraway noch schreiben:

Es ist schwierig geworden, den eigenen Feminismus mit nur einem Adjektiv zu bezeichnen – noch schwieriger, sich umstandslos auf das Substantiv allein zu beziehen. Der Ausschluss­mechanismus durch Benennungen ist scharf ins Bewusstsein getreten. Identitäten erweisen sich als widersprüchlich, partiell und strategisch. Mit der schwer errungenen Erkenntnis ihrer sozialen und historischen Konstitution stellen Gender, Rasse und Klasse keine Grundlage mehr für einen Glauben an eine essentialistische Einheit dar. Es gibt kein Weiblich-Sein, das Frauen auf natürliche Weise miteinander verbindet. Es gibt nicht einmal den Zustand des Weiblich-Seins. Dieser ist selbst eine hochkomplexe Kategorie, die in umkämpften sexual­wissenschaftlichen Diskursen und anderen sozialen Praktiken konstruiert wurde. Gender-, Rassen- oder Klassen­bewusstsein sind Errungenschaften, die uns aufgrund der schrecklichen historischen Erfahrung der wider­sprüchlichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten von Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus aufgezwungen wurden.

Donna Haraway, «A Cyborg Manifesto».

Haraway hoffte, dass sich die Grenzen der körperlich festgelegten Identitäten durch Cyborgs allmählich auflösen und auf dem Müllhaufen der Geschichte landen würden. Cyborgs, also Mensch-Maschinen-Hybride, so Haraways Überlegung, durchkreuzen alle «natürlichen» Dichotomien und entlarven so ihre Unhaltbarkeit.

Doch Haraway irrte sich gründlich, das genaue Gegenteil ist eingetroffen: Die Grenzen sind undurch­dringlicher denn je, und ihre Auflösung ist in weite Ferne gerückt. Transsexualität etwa wird nicht mehr als Spiel mit Grenzen begriffen, sondern als drittes, genetisch festgelegtes Geschlecht.

Die rassistische Landkarte wird übernommen und bloss umgefärbt. Das ist ein ausgesprochen gefährliches Spiel. Es wird nicht lange dauern, bis neue Diskriminierungen aufgrund körperlicher Merkmale erscheinen. Selbst­überhöhung – egal welcher Art – kommt auf die Dauer ohne Fremd­erniedrigung nicht aus.

Illustration: Alex Solman

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