Das Dilemma mit den «Super Sundays»
Je mehr Vorlagen gleichzeitig zur Abstimmung kommen, desto mehr Bürgerinnen nehmen ihr Stimmrecht wahr. Das klingt gut für eine lebendige Demokratie, hat aber auch einen Haken.
Von Claude Longchamp und Simon Schmid, 19.10.2020
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Der jüngste Abstimmungssonntag Ende September war einer der Superlative.
Schweizer Stimmbürgerinnen wurden aufgefordert, gleich über fünf eidgenössische Vorlagen zu entscheiden – so viele wie bloss zweimal im abgelaufenen Jahrzehnt. Letztmals standen im März 2012 (unter anderem mit der Zweitwohnungsinitiative) und im Mai 2016 (unter anderem mit dem bedingungslosen Grundeinkommen) fünf Vorlagen aufs Mal zur Disposition.
«Super Sundays» wie diese sind ein spezielles Demokratieerlebnis. Und sie heben sich auch statistisch ab – nämlich durch die hohe Stimmbeteiligung.
Der Sonntag vor drei Wochen zeigt dies exemplarisch. 59 Prozent der Bürger haben ihre Voten zur Begrenzungsinitiative und zu vier weiteren Vorlagen abgegeben. Das ist einer der höchsten Werte in der jüngeren Geschichte. Normalerweise liegt die Stimmbeteiligung zwischen 40 und 50 Prozent.
Hohe Partizipationsraten sind grundsätzlich wünschenswert. Wäre es also für die Demokratie der Schweiz gut, mehr «Super Sundays» zu organisieren?
Vierer- und Fünferpakete mobilisieren stark
Eine Datenauswertung über die vergangenen zehn Jahre legt nahe: Ja. Der Rückblick über sämtliche eidgenössischen Volksinitiativen und Referenden zeigt deutlich: Je mehr Vorlagen an einem Abstimmungssonntag auf dem Programm standen, desto höher war in der Regel auch die Stimmbeteiligung.
Mehr Vorlagen, grösseres Interesse
Stimmbeteiligung, Median, seit 2010
Quelle: BFS
Über alle Sonntage hinweg betrug die mittlere Stimmbeteiligung 46 Prozent. Nur gerade eine Einzelvorlage schaffte es über diesen Wert: die Initiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» (2011, 49 Prozent). Die restlichen Vorlagen, die alleine zur Abstimmung kamen, lagen im Schnitt bei knapp 40 Prozent.
Wurde über zwei oder drei Vorlagen abgestimmt, so legten mehr Bürgerinnen ihre Stimmzettel in die Urne oder ins Couvert: 42 bzw. 47 Prozent. Bei vier oder mehr Vorlagen wurden im Schnitt sogar 52 Prozent Beteiligung erreicht.
Besonders erfreulich: Praktisch nie wurden anlässlich solcher Super Sundays tiefe Beteiligungen verzeichnet. Das 4-Vorlagen-Paket, das am wenigsten Interesse hervorrief, war jenes vom Juni 2015 – über eine Erbschaftssteuer, Radio und Fernsehen, Fortpflanzungsmedizin und Stipendien. Doch auch damals gaben 44 Prozent ein Votum ab, fast so viel wie im Gesamtschnitt.
Deutlich tiefer liegt das Minimum dagegen bei Einzelvorlagen: Hier erzielte das Tierseuchengesetz im November 2012 mit 28 Prozent den Negativrekord.
Mehr Vorlagen, mehr Beteiligung
Stimmbeteiligung und Anzahl Abstimmungen, seit 2010
Fahren Sie mit der Maus über die Punkte, um die Vorlagen anzuzeigen.
4 = 4 oder mehr. Quelle: BFS
Eine Erklärung für das Super-Sunday-Phänomen ist die gruppenspezifische Mobilisierung. Wenn sich an einem Sonntag mit vier Vorlagen zum Beispiel die Bauern besonders für Vorlage 1 interessieren, die grün Gesinnten für Vorlage 2, das Gewerbe für Vorlage 3 und die Familien für Vorlage 4, so addiert sich dies in der Summe zu einer höheren Beteiligung – jede dieser Gruppen trägt ihren Teil dazu bei, dass die Stimmbevölkerung mobilisiert wird.
Zwar schiesst die Stimmbeteiligung an Super Sundays nicht zwingend nach oben aus. Aber an solchen Sonntagen ist praktisch ausgeschlossen, dass gewisse Abstimmungsvorlagen mangels Interesse total vergessen gehen.
Sollen Super Sundays also zum Standard werden?
Warum nicht. Man könnte die Anzahl Abstimmungssonntage generell von vier auf zwei pro Jahr reduzieren. Das würde bedeuten, dass die gut acht Vorlagen, über die jährlich entschieden wird, auf zwei Sonntage à je vier Vorlagen verteilt werden. Das gäbe zwei Demokratiefestivals jedes Jahr – statt vier Abstimmungssonntage, die mal aufregend, mal langweilig sind.
Besonders die junge Bevölkerung – die sich selektiver an Abstimmungen beteiligt als ältere Bürger – könnte dadurch motiviert werden, regelmässiger abzustimmen. Die junge Generation erhielte damit mehr politisches Gewicht.
Aus der Routine wird ein Abstimmungsereignis
Mehrere Argumente sprechen allerdings gegen diese Idee. Eines ist: Das Interesse hängt nicht nur von der Vorlagenzahl ab, sondern auch vom Inhalt.
Das zeigt sich, wenn die vorherige Dekade von 2000 bis 2010 betrachtet wird. Hier ist der Zusammenhang weniger stark ausgeprägt: Die Stimmbeteiligung unterscheidet sich nicht signifikant je nach der sonntäglichen Vorlagenzahl.
Kein deutlicher Zusammenhang
Stimmbeteiligung und Anzahl Abstimmungen, 2000 bis 2010
Fahren Sie mit der Maus über die Punkte, um die Vorlagen anzuzeigen. 4 = 4 oder mehr. Quelle: BFS
Das liegt einerseits daran, dass in diese Zeit ein paar Ausreisser fallen. Meist waren es aussenpolitische Vorlagen, die alleine oder in einem Zweierpaket zur Abstimmung kamen und sehr viele Stimmende mobilisierten – etwa über sektorielle Abkommen mit der EU (2000), den Uno-Beitritt (2002), die bilateralen Verträge (2005) und die Personenfreizügigkeit (2005 und 2009).
Andererseits stellt man fest, dass die Super-Sunday-Mobilisierung generell ein neues Phänomen ist. Für die Jahrzehnte vor 2010 findet sich in den Daten generell nur ein sehr schwacher Zusammenhang zwischen Vorlagenzahl und Stimmbeteiligung. Dies lässt sich so interpretieren, dass «Abstimmen» früher einfach dazugehörte – für bestimmte Gesellschaftsschichten war es eine Norm, eine Routine. Heute schwankt die Motivation situativ je nach Thema: Bestimmte Abstimmungen werden zu Events hochstilisiert – andere werden von den Parteien, Medien und Stimmbürgern fast schon ignoriert.
Man kann dies negativ sehen – oder auch positiv.
Denn wenn viel auf dem Spiel steht, nehmen die meisten Bürgerinnen ihre Rechte durchaus wahr – selbst wenn eine Vorlage nicht in einem grossen Paket daherkommt. So kam etwa «No Billag» im März 2018 auf hohe 55 Prozent, obwohl die Initiative nur in einem Zweierpaket vorgelegt wurde.
Man könnte also sagen: Die Stimmbevölkerung weiss selbst am besten, wann es «wichtig» ist, dass über eine Vorlage abgestimmt wird – und wann weniger.
Die Verarbeitungskapazität ist begrenzt
Ein weiteres Argument gegen Super Sundays: Demokratiepolitisch kommt es nicht auf die Quantität der Stimmen an – sondern auf deren Qualität. Eine tiefe Stimmbeteiligung ist gemäss dieser Ansicht völlig okay. Was zählt, ist, ob die Bürgerinnen, die tatsächlich gestimmt haben, auch gut informiert waren.
Werden eidgenössische Volksabstimmungen aus dieser Optik heraus untersucht, zeigt sich: Viele Vorlagen aufs Mal führen tendenziell zu Überforderung.
Das geht aus einer Studie des Politikwissenschaftlers Thomas Reiss hervor. Er hat an der Universität Zürich die Abstimmungssonntage von 2009 bis 2016 untersucht. Das Ergebnis: Je mehr Vorlagen im Paket enthalten waren, desto mehr Stimmende gaben bei Nachbefragungen an, nicht gut informiert gewesen zu sein. Der Befund gilt bei Initiativen und auch bei Referenden.
Viele Vorlagen überfordern die Bürger
Anteil «mittel» und «schlecht» Informierter bei Initiativen
Quelle: Thomas Reiss
Der Informationsstand wirkt sich gemäss der Studie aufs Stimmverhalten aus. Schlecht informierte Bürger stimmen eher im Sinne der Behörden: Sie lehnen Volksinitiativen ab und winken Vorlagen durch, gegen die das Referendum ergriffen wurde. Das legt nahe, dass das Stimmvolk bei grösseren Paketen eher Empfehlungen von aussen folgt – Bundesrat, Parlament, Parteien, Verbände, Reizwörter einer Kampagne – und weniger Zeit darauf verwendet, sich selbst mit der Materie auseinanderzusetzen.
Die goldene Regel
Schliesslich gibt es ein organisatorisches Problem. Die Politik hat ihren eigenen, teils gesetzlich vorgegebenen Fahrplan. Referenden – wie zum Beispiel jenes gegen das CO2-Gesetz, das derzeit lanciert wird – sollten rasch nach einem Parlamentsbeschluss vors Volk, damit dieser in Kraft treten kann. Extra ein halbes Jahr zu warten, um ein Referendum auf den nächsten Super Sunday zu legen, wäre nicht zielführend. Ähnlich ist es bei Initiativen: Es gibt feste Fristen, innerhalb deren sie zur Abstimmung gelangen müssen.
Eine Grundsatzdiskussion über Super Sundays entstand 2003. Damals kamen an einem Sonntag gleich neun eidgenössische Vorlagen zur Abstimmung – unter anderem über die Armee, faire Mieten und Atomstrom. Im Anschluss daran kristallisierte sich die Formel von 3+/–1 heraus. Wünschenswert wären also Abstimmungssonntage mit minimal zwei und maximal vier Vorlagen.
Um diese Regel einzuhalten, braucht es mehr als zwei Abstimmungstermine pro Jahr. Andernfalls wäre die Wahrscheinlichkeit gross, dass sich Sonntage mit fünf, sechs oder noch mehr Vorlagen häufen – was zwar viele Bürger zur Stimmabgabe motivieren dürfte, aber voraussichtlich mit Abstrichen bei der Meinungsbildung verbunden wäre. Zumal nebst den nationalen Vorlagen in aller Regel auch noch kantonale oder kommunale Abstimmungen laufen.
Das Dilemma um die Super Sundays bleibt also unlösbar. Und so dürfte es auch in Zukunft nur sporadisch zu Demokratiefestivals wie im September kommen. Dafür bleiben gelegentliche Ausreisser nach unten wahrscheinlich.