Mit einem 3-D-Modell auf der Suche nach der Wahrheit: Forensic Architecture rekonstruiert den Bombenangriff auf Rafah im Gazastreifen im August 2014. Forensic Architecture, 2015

Blickwechsel

Wie Bilder Zeugen werden

Die Forschungsgruppe Forensic Architecture ermittelt den Wahrheitsgehalt von Fotos und Videos aus Kriegs- und Krisengebieten, nach Bombenanschlägen und Polizeiübergriffen.

Von Doris Gassert (Text) und Forensic Architecture (Bilder), 17.10.2020

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Können Fotos noch vertrauens­würdig Auskunft geben in Zeiten von Photoshop und Filtern, von gefälschten Instagram-Accounts und sogenannten Deep Fakes, also realistisch wirkenden, von künstlicher Intelligenz manipulierten Inhalten? Angesichts der wachsenden Sorge um die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen solch massiver Eingriffe ins Bild fragt die Forschungsgruppe Forensic Architecture nach dem Wahrheits­gehalt digital zirkulierender Bilder.

Ansässig am Goldsmiths an der University of London und inter­disziplinär aufgestellt, entwickelt die Forschungs­gruppe forensische Analyse­verfahren, mit denen sie Attentate und Anschläge in Konflikt­gebieten rekonstruiert. Bomben­anschläge und Chemie­waffen­angriffe im Syrien­krieg, tödliche Attacken auf flüchtende Menschen im Mittel­meer oder die Polizei­übergriffe während Black-Lives-Matter-Protesten in den USA: Auch wenn heute oft Fragmente des Geschehens mithilfe von Handy­kameras dokumentiert werden, bleibt oft umstritten, was wirklich passiert ist.

Zerstörung nachgebaut: Drohnenangriff der US-Streitkräfte in Miranshah, Pakistan, am 30. März 2012. Forensic Architecture, 2016
Puzzle mit Bildern aus Miranshah: Die Analyse von Schatten hilft beim Erarbeiten des Gesamtbildes. Forensic Architecture, 2016

Forensic Architecture sammelt Bilder, die auf sozialen Plattformen zirkulieren, dazu private Handy­aufnahmen, staatliche Über­wachungs­bilder oder auch journalistisches Bild­material. Sie lokalisieren Schau­plätze und beziehen sie aufeinander, um in einer zusammen­führenden Analyse aus der Vielzahl von Perspektiven ein umfassendes Bild des jeweiligen Geschehnisses zu rekonstruieren. Sei es in Form von 3-D-Modellen, video­basierten Animationen oder interaktiven Kartografien.

Die visuellen Rekonstruktionen werden von inter­nationalen Menschen­rechts­organisationen und Straf­verfolgerinnen als Beweis­material vor Gericht verwendet. An der Schnitt­stelle von Architektur- und Medien­forschung, von Design und Kunst, etabliert Forensic Architecture eine Form der verteilten Zeugenschaft, die ihre Glaub­würdigkeit aus der Masse von Bildern und deren Vielzahl von Perspektiven schöpft.

Dadurch gibt Forensic Architecture fotografischen Bildern eine Aussage­kraft zurück, die durch die oft unzuweisbare Autorenschaft von Fotos und die vielfältigen Möglichkeiten der Bild­manipulation gelitten hat.

Augenzeuge: Ein ehemaliger Häftling im syrischen Foltergefängnis Saidnaya unterstützt die Forscher­gruppe bei der Rekonstruktion der Anlage. Forensic Architecture, 2016
Wenn Drogenbanden und Polizei zusammen­spielen: Die Entführung und Ermordung von 43 Studenten in Ayotzinapa, Mexiko, im September 2014. Forensic Architecture, 2017
Der Kampf um Menschenleben: Die Besatzung der «Sea-Watch» will Geflüchtete vor der Küste Libyens retten (6. November 2017). Forensic Architecture, 2018

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