Wie Bilder Zeugen werden
Die Forschungsgruppe Forensic Architecture ermittelt den Wahrheitsgehalt von Fotos und Videos aus Kriegs- und Krisengebieten, nach Bombenanschlägen und Polizeiübergriffen.
Von Doris Gassert (Text) und Forensic Architecture (Bilder), 17.10.2020
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Können Fotos noch vertrauenswürdig Auskunft geben in Zeiten von Photoshop und Filtern, von gefälschten Instagram-Accounts und sogenannten Deep Fakes, also realistisch wirkenden, von künstlicher Intelligenz manipulierten Inhalten? Angesichts der wachsenden Sorge um die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen solch massiver Eingriffe ins Bild fragt die Forschungsgruppe Forensic Architecture nach dem Wahrheitsgehalt digital zirkulierender Bilder.
Ansässig am Goldsmiths an der University of London und interdisziplinär aufgestellt, entwickelt die Forschungsgruppe forensische Analyseverfahren, mit denen sie Attentate und Anschläge in Konfliktgebieten rekonstruiert. Bombenanschläge und Chemiewaffenangriffe im Syrienkrieg, tödliche Attacken auf flüchtende Menschen im Mittelmeer oder die Polizeiübergriffe während Black-Lives-Matter-Protesten in den USA: Auch wenn heute oft Fragmente des Geschehens mithilfe von Handykameras dokumentiert werden, bleibt oft umstritten, was wirklich passiert ist.
Forensic Architecture sammelt Bilder, die auf sozialen Plattformen zirkulieren, dazu private Handyaufnahmen, staatliche Überwachungsbilder oder auch journalistisches Bildmaterial. Sie lokalisieren Schauplätze und beziehen sie aufeinander, um in einer zusammenführenden Analyse aus der Vielzahl von Perspektiven ein umfassendes Bild des jeweiligen Geschehnisses zu rekonstruieren. Sei es in Form von 3-D-Modellen, videobasierten Animationen oder interaktiven Kartografien.
Die visuellen Rekonstruktionen werden von internationalen Menschenrechtsorganisationen und Strafverfolgerinnen als Beweismaterial vor Gericht verwendet. An der Schnittstelle von Architektur- und Medienforschung, von Design und Kunst, etabliert Forensic Architecture eine Form der verteilten Zeugenschaft, die ihre Glaubwürdigkeit aus der Masse von Bildern und deren Vielzahl von Perspektiven schöpft.
Dadurch gibt Forensic Architecture fotografischen Bildern eine Aussagekraft zurück, die durch die oft unzuweisbare Autorenschaft von Fotos und die vielfältigen Möglichkeiten der Bildmanipulation gelitten hat.