Binswanger

Schluss mit dem Corona-Nonsens!

Die Infektionszahlen explodieren, die Politik ist aufgewacht. Warum erst jetzt?

Von Daniel Binswanger, 17.10.2020

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Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga sagt, wir müssten uns einen Ruck geben, wir müssten uns ins Zeug legen, es sei jetzt kurz vor zwölf. Wer würde dem widersprechen? Weniger unproblematisch ist allerdings eine andere Ansage des Bundes­rats: Die jüngste Entwicklung sei eine «Überraschung».

Gesundheitsminister Alain Berset hat seiner Überraschung an der Presse­konferenz vom Donnerstag wortreich Ausdruck verliehen, die «Tagesschau» hat den Terminus brav übernommen.

Leider kann von Überraschung jedoch keine Rede sein. Könnten wir uns wenigstens auf ein Bullshit-Moratorium verständigen? Sprach­regelungen und Gesichts­wahrungs­aktionen werden aus der Situation, in welche die Behörden uns und sich gebracht haben, nicht heraushelfen. Schon gar nicht werden sie einen Beitrag dazu leisten, die Glaubwürdigkeit der Landes­regierung zu stützen – eine Glaubwürdigkeit, die in den nächsten Wochen entscheidender sein wird denn je.

Zitieren wir aus dem Lagebericht der vom Bundesrat selber eingesetzten wissenschaftlichen Covid-Taskforce: «Seit Anfang Juni 2020 hat die Zahl der positiv auf Sars-CoV-2 getesteten Personen stark zugenommen: von weniger als 20 pro Tag Anfang Juni auf über 700 pro Tag Anfang Oktober. (…) In der Zeit von Juni bis September haben sich die Fallzahlen im Schnitt etwa all 3 bis 4 Wochen verdoppelt. Im Moment, Anfang Oktober, schätzen wir, dass die Verdoppelungen schneller geschehen. Falls sich dieser Trend fortsetzt, müsste man noch im Oktober mit über 2000 Fällen pro Tag rechnen.»

Das ist eine perfekte Beschreibung der heutigen Situation. Sie wurde publiziert am 9. Oktober. Warum hat der Bundesrat nicht schon vor einer Woche eine Konferenz mit den Gesundheits­direktoren anberaumt – und schnell und stringent die nötigen Massnahmen entschieden? Warum zaudert man selbst noch in einer Situation, in der man weiss, dass es auf jeden Tag ankommt?

Diese Fragen geben umso grössere Rätsel auf, als die Covid-Taskforce den ganzen Sommer über immer wieder gewarnt hat, dass die Ansteckungen exponentiell zunehmen und dass alles getan werden muss, um die Infektionen auf einem Niveau zu stabilisieren, das niedrig genug ist, um eine wirkungs­volle Eindämmungs­strategie zu erlauben. Auch dass testing and tracing nur funktionieren kann, wenn die Fallzahlen massiv tiefer liegen, als es schon seit längerem der Fall ist (idealer­weise unter 100 pro Tag), ist alles andere als eine «überraschende» Erkenntnis.

Sicherlich: Bund und Kantone haben über die letzten Monate immer wieder neue Massnahmen ergriffen, um den kontinuierlichen Anstieg einzu­dämmen. Aber die Behörden sind der Kurve immer nur hinterher­gehinkt. Der politische Wille, die epidemiologische Situation zu stabilisieren, war schlicht nicht vorhanden. Solange die Hospitalisations- und Todes­zahlen tief blieben, schien es weder der Bevölkerung noch den Verantwortungs­trägerinnen vermittelbar, weshalb grosse Anstrengungen zur Eindämmung überhaupt notwendig sein sollen. Wo das enden musste, war von Anfang an relativ einfach zu extrapolieren: genau da, wo wir heute stehen.

Dass jetzt auch die Covid-Hospitalisationen wieder stark zunehmen, dass einzelne Kantone bereits wieder an ihre Kapazitäts­grenzen stossen, war ebenfalls voraus­zusehen. Schon lange hat die Wissenschaft mit allem erforderlichen Nachdruck gewarnt, die stark gesunkene Sterbe­rate sei hauptsächlich darauf zurück­zuführen, dass sich während des Sommers vorwiegend junge Menschen angesteckt hätten, und die vermehrte Kontamination älterer Alters­kohorten sowie die Zunahme schwerer Fälle seien lediglich eine Frage der Zeit. Auch hier gilt: Die Prognose hat sich vollauf bestätigt. Wir verfügen über hervorragende Wissenschafts­einrichtungen und über Forscherinnen, die zwar ganz bestimmt nicht allwissend sind, die aber ihre Erkenntnisse immer umsichtig und verant­wortungsvoll in die Debatte getragen haben. Warum werden sie nicht gehört?

Das Absurde ist: Im Grunde herrscht ein sehr breiter gesellschaftlicher Konsens. Lassen wir die Verschwörungs­theorien der Aluhüte und die unwissenschaftlichen Durch­seuchungs­fantasien von ein paar Irrläufern einmal beiseite, müsste die Notwendigkeit einer effizienten Anti-Covid-Strategie die unbestrittenste Sache der Welt sein. Einerseits will niemand einen zweiten Lockdown, absolut niemand bestreitet, dass alles getan werden muss, um den gravierenden wirtschaftlichen Schaden so klein wie möglich zu halten. Andererseits will niemand, dass das Gesundheits­system an seine Grenzen stösst, dass Covid-Patienten nicht mehr behandelt werden können und auf den Spital­fluren ersticken, dass die Todes­opfer in die Tausende gehen.

Um sowohl den Lockdown als auch die Überlastung des Gesundheits­systems zu vermeiden, gibt es nur eine Lösung: Die Entwicklung des Ansteckungs­geschehens muss antizipiert werden, und die Eindämmung muss frühzeitig erfolgen. Regieren heisst voraus­schauen: Nie ist dieser Leitspruch wahrer als in einer Pandemie.

Genau daran scheint unser politisches System jedoch immer wieder zu scheitern: an der Antizipation. Sei es, dass der Wissenschaft zu sehr miss­traut wird und man ihren Prognosen immer erst dann Glauben schenken will, wenn sie sich bestätigt haben und es eigentlich zu spät ist; sei es, dass eine Katastrophe, die sich noch nicht realisiert hat, für die Bevölkerung zu abstrakt bleibt, als dass sie präventive Massnahmen mittragen würde; sei es, dass es den Politikern ganz einfach an Verständnis für ein exponentielles Infektions­geschehen fehlt und dass sie sich lieber an die guten Zahlen von heute als an die Schreckens­szenarien von morgen halten – vorausschauendes Handeln scheint, um es freundlich zu sagen, eine Heraus­forderung zu sein.

Was muss jetzt geschehen? Über die exakte Ausgestaltung der Massnahmen kann diskutiert werden, eines steht jedoch nicht zur Debatte: Die Reproduktions­zahl muss wieder kleiner oder gleich 1 werden. Das ist alternativlos. Sonst gehen schon in kurzer Zeit die Hospitalisationen durch die Decke. Handlungs­spielraum gibt es bei der Masken­pflicht, bei den Teilnehmer­obergrenzen für Veranstaltungen, beim Homeoffice, in der Gastronomie.

Die schweizweite Masken­pflicht für alle öffentlich zugänglichen Räume ist das offen­sichtliche Gebot der Stunde – auch wenn man selbst in der heutigen Notlage nicht ausschliessen sollte, dass irgend­welche Land­kantone sich wieder Extra­würste ausbedingen werden. Auch an der Maske im Grossraum­büro führt kein Weg vorbei. Warum hört man dazu nichts von den Wirtschafts­verbänden? Wo sind die zivil­gesellschaftlichen Kräfte des Verbands­wesens? Wäre es nicht zuallererst im Interesse ihrer Mitglieder, dass der Betrieb aufrecht­erhalten und ein zweiter Lockdown vermieden werden kann?

Am delikatesten dürfte die Frage der Veranstaltungs­grösse sein. Es ist unbestritten, dass öffentliche Veranstaltungen – von Salsa-Tanzkursen bis zu Jodlerfesten – das Infektions­geschehen antreiben. Vielleicht sollten die Begrenzungs­feinde ihren Blick einfach einmal etwas genauer auf ihr vermeintliches Mekka richten: Schweden.

In Schweden herrscht seit dem Beginn der Pandemie ein Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 50 Teilnehmern. Das Land hat auf einen Lockdown verzichtet – und genau deshalb für den «offenen Betrieb» ein relativ striktes Regime adaptiert. Bei uns hingegen ist der Kanton Zürich schon einmal mit schlechtem Beispiel vorangegangen und hat statt einer Absenkung der extrem hohen Obergrenze von 300 Gästen für Partys und Clubs lediglich die Masken­pflicht ausgedehnt. Der Bundesrat wiederum will auf die Zulassung von Gross­veranstaltungen nicht zurück­kommen. Demnächst wird er wohl eine Homeoffice-Empfehlung erlassen, damit die Leute weniger mit dem ÖV fahren – und gleichzeitig Sport­grossanlässe erlauben, damit sie dann am Wochen­ende möglichst dicht in voll besetzten Zügen reisen. Auch wenn der Bundesrat nicht gut dasteht, wenn er seine eigene Grossanlass-Politik bereits wieder umstossen muss: Mit Nonsens muss jetzt Schluss sein.

Es ist sehr kurz vor zwölf, und die Frage, die sich uns heute stellt, ist denkbar simpel: Wollen wir den offenen Betrieb oder stolpern wir in den nächsten Lockdown? Wenn wir den Lockdown vermeiden wollen, muss jetzt schnell, stringent, kompromisslos gehandelt werden. Vorder­hand erscheint es mehr als zweifelhaft, ob unsere Verantwortungs­träger dazu imstande sind.

Illustration: Alex Solman

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