Handmade Tales
Die Kanadierinnen selbst fanden lange, ihr Land sei einfach zu langweilig für gute Literatur. An der Frankfurter Buchmesse beweisen sie jetzt gerade das Gegenteil. Vier Empfehlungen.
Von Christine Lötscher, 16.10.2020
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Als Margaret Atwood 1972 ihren viel diskutierten Essay über kanadische Literatur publizierte, galt die Ansicht, so etwas wie kanadische Literatur existiere gar nicht. Vor allem Kanadier selbst fanden, das Land sei einfach zu langweilig und unbedeutend, um einen eigenen literarischen Fussabdruck zu hinterlassen. Wenn ein Roman etwas tauge, dann sei er automatisch Teil der angelsächsischen oder, je nachdem, frankofonen Literatur.
Atwood dagegen belegte mit einer Mischung aus Verve, Pointenlust und Gelehrsamkeit das Gegenteil. In der kanadischen Literatur, argumentierte sie, drehe sich alles um ein Thema: das Überleben. «Survival. A Thematic Guide to Canadian Literature» ist der Text denn auch überschrieben. Er wird 2021 auf Deutsch erscheinen: zur zweiten Runde des kanadischen Gastlandauftritts an der Frankfurter Buchmesse, wenn sie dann hoffentlich mit physisch anwesenden Autorinnen und Autoren nachgeholt werden kann. Dieses Jahr war das der pandemiebedingten Planänderung zum Opfer gefallen.
Ohne Ängste vor provokativer Komplexitätsreduktion behauptet Atwood, jedes Land bringe durch seine spezifische politische und alltägliche Geschichte ein zentrales Symbol hervor. In der US-amerikanischen Literatur sei es die frontier, das Grenzterritorium im Westen: Daran werde die Kluft zwischen dem amerikanischen Traum und tatsächlicher Wirklichkeit verhandelt, die für die US-Gesellschaft prägend sei. Autorinnen aus Grossbritannien hingegen hätten sich auf das Symbol der Insel eingeschossen: nicht selten auch im übertragenen Sinn, wenn sich die Figuren in ihren Schlössern und Häusern so gemütlich wie möglich einrichten – Hogwarts lässt grüssen.
In der kanadischen Literatur nun, schreibt Atwood, gehe es im Kern immer um Figuren, die zwar lebendig, aber schwer gebeutelt aus einem Überlebenskampf zurückkehren. Das können Siedlerinnen sein, aber auch Tiere – im kanadischen Roman sind sie häufig die unschuldigen Opfer von aggressiven Jägern. Deshalb, folgert die Autorin, sei die kanadische Literatur auch eine düstere Angelegenheit – was zumindest für ihre eigenen Romane und ihren Hang zu dystopischen Szenarien zutrifft.
Unterdessen hat sich die Wahrnehmung der kanadischen Literatur massiv geändert. Nicht zuletzt dank Atwood selbst, die zu den international erfolgreichsten Autorinnen überhaupt gehört und mit «The Handmaid’s Tale» auch Stoff für eine preisgekrönte Quality-TV-Serie geliefert hat.
Atwood ist nicht die einzige Kanadierin, die es international auf die Bestsellerlisten geschafft hat: Michael Ondaatje ist spätestens seit der Filmadaption seines Romans «Der englische Patient» (1996) präsent. Alice Munro hat in ihren Short Storys eine neue Form für die Wahrnehmung von innerer und äusserer Realität gefunden, in der die Linearität der Zeit aufgehoben ist. Dafür wurde sie 2013 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Die Altphilologin und Lyrikerin Anne Carson schliesslich lässt ein mythisches Universum ganz aus Texten entstehen, in dem Figuren aus dem alten Griechenland mit Kafka, Gertrude Stein oder Sylvia Plath ins Gespräch kommen.
Mit dem Kernthema des Überlebens, könnte man vermuten, habe diese äusserst vielfältige Literatur nicht mehr viel zu tun. Wenn es überhaupt Verbindungen gibt zwischen den so unterschiedlichen stilistischen Formen, sind es die avancierten, zuweilen experimentellen literarischen Verfahren, sowohl in der Lyrik wie in der Prosa. Aber immer ist das bodenständige, sozusagen handgemachte Erzählen, das Erfolgsrezept der angelsächsischen Literaturen, ein Element davon – selbst bei der ätherisch wirkenden Carson. Es scheint, als hätten die kanadischen Autorinnen und Autoren den Freiraum im Schatten des mächtigen US-Buchmarkts genutzt, um einen eigenwilligen Stimmenchor zu bilden.
Das gilt auch für einige Bücher, die man zurzeit dank der kanadischen Gastlandpräsenz in Frankfurt auf dem hiesigen Buchmarkt entdecken kann. Vier Empfehlungen.
Bewusstseinsstrom im Kollektiv
Ein rauschhaftes Leseerlebnis beschert der Roman «Drei Nächte, drei Tage», den die 1939 in Québec geborene Autorin Marie-Claire Blais bereits 1995 im französischen Original veröffentlichte. Blais erzählt von einer Insel im Golf von Mexiko, wo Luxus und extreme Armut auf engstem Raum koexistieren; das Inselsetting rückt die postkolonialen ökonomischen Verstrickungen ins Licht. Atemlos, in einer fast nur durch Kommata rhythmisierten Sprache, wechselt die Perspektive zwischen den Figuren hin und her. Sie führen nur vordergründig ihre eigenen Leben: Ihre Bewegungen auf der Insel verflechten sich; in einer von Widersprüchen zerrissenen Gesellschaft.
Die Anwältin Renata hat sich auf die Insel zurückgezogen, um sich von einem Eingriff zu erholen, doch ihre Erinnerungen, Sorgen und Schuldgefühle verfolgen sie an den idyllischen Ort; Pastor Jeremy versucht, seine Kinderschar unter Kontrolle zu halten und sie vom Klauen abzuhalten; Jacques, ein erschöpfter Professor, denkt über den Essay nach, den er zu Kafkas «Brief an den Vater» schreiben sollte, doch seine Gedanken schweifen ab, zu plötzlich aufleuchtenden Bildern aus dem Alltag, die ihn gefangen nehmen, und zu Fantasien über den Tod:
In seinem Sterbebett brach Jacques erneut nach Asien auf, erklomm im Laufschritt das Trittbrett eines Zuges, hörte das Pfeifen der Lokomotiven, das Tal der Orchideen ist hier auf Erden, Pastor, schade, dass es ihm nicht mehr gestattet war, scharf gewürzte Speisen zu essen, dass er in der Kehle ein quälendes Brennen verspürte, selbst wenn er nur Wasser trank, die Langeweile, diese grässliche Langeweile war wohl christlichen Ursprungs, das war es, was er dem Pastor noch hätte sagen wollen auf dem struppigen Rasen, inmitten der Kinder und Hähne, vor dem Haus (…)
Gegenwart und Vergangenheit überlagern sich in Blais’ kunstvoller Montage, die Nicola Denis ebenso kunstvoll ins Deutsche gebracht hat. Aus den Perspektiven der Figuren entsteht ein kollektiver Bewusstseinsstrom, von dem selbst das Rauschen des Meeres und die Geräusche der startenden und landenden Flugzeuge noch Teil sind.
Wenn man wirklich darauf bestehen möchte, Gemeinsamkeiten in der kanadischen Gegenwartsliteratur auszumachen, dann wäre vielleicht eines als Besonderheit zu nennen: das Zusammenspiel zwischen menschlichem Denken, Handeln, Reden und Umweltphänomenen wie Wind, Kälte, Schnee, Feuer und natürlich den Tieren.
Das gilt auch für die nächste Autorin.
Die vielen Grade von Nacktheit
Während Marie-Claire Blais an die europäische Avantgarde, an Virginia Woolf und den Nouveau Roman anschliesst, lotet Lisa Moore, 1964 in Neufundland geboren, in ihrem Erzählband «Fremde Hochzeit» die Möglichkeiten der Short Story noch einmal neu aus. Auch bei ihr sind die Grenzen zwischen den Figuren fliessend.
Die Erzählung «Grade von Nacktheit» lässt der Reihe nach drei Frauen erscheinen, die in derselben Strasse leben. Sie beginnt mit einem gewaltigen Feuer – bei Joan, der über Nacht das Haus über dem Kopf abgebrannt ist, während sie wie durch ein Wunder überlebt hat. Plötzlich, wie aus einem Hinterhalt, taucht eine Icherzählerin auf, Joans Schwägerin, die sich durch den Brand zu einem Kunstprojekt zum Thema Nacktheit inspiriert fühlt:
Seit einer Weile interessiere ich mich für Nacktheit. In allen Spielarten. Besonders seitdem meine Schwägerin eingezogen ist. Es ist, als könnte sie sich nicht bedeckt halten. Alles scheint ihr zu entgleiten. Einmal kam ich versehentlich herein, als sie im Bad war. Ihr Körper war um den Umriss ihres Badeanzugs herum gebräunt. Am Rumpf war die Haut sehr weiss, wie ein entrindeter Baum.
Schliesslich ereignet sich eine weitere Katastrophe in der Strasse. In Maureens Haus findet eine Schiesserei statt, überall liegen Glasscherben, die Polizei rückt aus. Auch hier kümmert sich die Icherzählerin um die verzweifelte Überlebende, sammelt sie auf wie eine Schnecke, die ihr Haus verloren hat.
Moores Figuren sehnen sich danach, ihren Körpern, auch ihren Geschlechterrollen zu entkommen, sich anderen anzuverwandeln, um sich selbst zu verwandeln. Davon erzählt Lisa Moore mit harten Brüchen und scheinbar unvermittelten Gedankensprüngen, auf die man in jedem Satz gefasst sein muss.
Queer «Indian»
Gegen Genderstereotype, Rassismus und Diskriminierung schreibt Joshua Whitehead in dem Romandebüt «Jonny Appleseed» an.
Mit Witz und Drastik beschreibt Whitehead, wie Jonny, das Ich dieses Textes, zwischen den Welten eine eigene zu bauen versucht. Jonny gehört, wie Whitehead selbst, den Oji-Cree an, einer indigenen Ethnie, die in Kanada First Nations genannt werden. In einem Reservat in Manitoba aufgewachsen, zieht Jonny nach Winnipeg und bestreitet den eigenen Lebensunterhalt dort mit Sexarbeit.
Jonny nennt sich Glitzerfee und Prinzessin, geniesst die queere Identität, beschreibt die eigenen sexuellen Abenteuer mit viel Liebe zum Detail und zu diversen Körpersäften – die als Spielarten von Wasser hier auch eine spirituelle Dimension haben. Mit Charme und Humor erzählt Jonny vom Spiel mit den Projektionen der Freier, die es besonders aufregend finden, mit «einem Indianer» ins Bett zu gehen, der sich möglicherweise in einen Bären verwandeln könnte:
Bilder und Webcam-Shows sind das eine, aber ich kann ein Lied davon singen, wie anstrengend es ist, für Kunden eine ganze Welt zu erschaffen, die zu deinem Körper und zu ihrem passt, und zu keinem sonst. (…) Meistens (…) soll ich den NDN [«Indian»] spielen. Ich habe mir vor ein paar Jahren an Halloween einige Kostüme gekauft, die mir dabei helfen: Pocahontas und Häuptling Gefleckter Schweif. (…) Ich kann so viele verschiedene Persönlichkeiten sein, während der Kunde nur eine sein kann – das erregt mich. Ich habe so viel Macht, wenn ich mich verwandle – grosse Macht über Blut, Adern und Nervenenden.
Jonny berichtet auch, wie einst das Kind auf der Suche nach seiner queeren Identität in der Überlieferung der Oji-Cree fündig wurde. Dort gibt es einen Begriff für genderfluide Menschen, nämlich «Two Spirit».
Hinter Jonnys mal vergnügtem, mal melancholischem Ton steht Whiteheads fundierte Auseinandersetzung mit queerer und postkolonialer Theorie. Was diesen hemmungslosen, klugen und differenzierten Roman zu einem Lesevergnügen macht, ist Whiteheads fast schon musikalisches Erzähltalent.
Vor allem aber hat Whitehead mit Jonny Appleseed eine paradigmatische Figur geschaffen. Deren eigenwillige Welt, die eine globalisierte Popkultur mit den Geschichten von mythischen Wesen aus der Überlieferung der First Nations zusammenführt, ist ein Beispiel dafür, dass literarische Innovation oft von den sogenannten Rändern kommt. Auch das ist eine Form des – kulturellen – Überlebens.
And finally ... Auftritt der Dichterin
Die grösste Entdeckung dieses kanadischen Herbstes ist aber ein Band mit gesammelten Gedichten von Margaret Atwood. Zwanzig Gedichtbände hat sie bereits veröffentlicht, und doch war Atwood als Lyrikerin im deutschsprachigen Raum bisher praktisch unbekannt. «Die Füchsin» versammelt Gedichte aus dreissig Jahren zwischen 1965 und 1995 und zeigt, wie Michael Krüger im Vorwort schreibt, die streitbare Romancière als «sehr meditative, nachdenkliche, zu sich selbst gekommene Dichterin, die keine grossen Gesellschaftsentwürfe entwickelt, keine Szenarien der Angst und der Krise, sondern Augenblicke des Innehaltens …».
Atwood ist aber auch eine sehr verspielte, augenzwinkernde Dichterin, die sich am schieren Material der Sprache erfreut, wenn sie zum Beispiel das Gerümpel aufzählt, das sich in einem Haus so ansammelt über die Jahre. In ihrem Gedicht «Gestaltwandler im Winter» benennt Atwood die horizontalen Schichten, die sich mit der Zeit ablagern, und geht den vertikalen Verbindungen nach, Wurzeln etwa, die alles unsichtbar mit allem verbinden. Das Gedicht beginnt mit dem Schnee, der alles bedeckt und auslöscht, arbeitet sich durch die Ablagerungen der Jahre und folgt – in der deutschen Fassung von Jan Wagner – den Baumwurzeln,
(…) die sich langsam
in die Abflussrohre reinrüsseln;
weiter unten die Knochen
unserer Vorfahren, oder ansonsten irgendwelche,
mit der Biomasse von Nematoden vermengt (…)
Wäre es möglich, in die Haut eines Tieres zu schlüpfen, sagt das lyrische Ich, hätte es den Fuchs gewählt, den scherzhaften, schlauen, auch diebischen. Wer die Gedichte Atwoods liest, könnte auf die Idee kommen, dass es das Gestaltwandeln, das Fliessen zwischen den Formen und, auf die Kunst übertragen, das Aufschnappen von Wissen, Geschichten und Bildern und das wilde Verbinden von all dem sei, welches das Überleben in der kanadischen Literatur ausmacht. Oder, mit den lyrischen Worten von Atwood/Wagner:
Damals nahm ich vielerlei Formen an:
das Hinein- und Hinausgleiten
aus meiner eigenen glitschigen Aalhaut
und auch aus deiner, einer des anderen
schillernder Handschuh, ein einziger flinker Körper,
ganz Taschenspielertrick und Trugbild.
Einst waren wir geschmeidig wie Pythons, schnell
und silbrig wie Heringe, sind es manchmal noch immer,
nur dass die Knie weh tun.
Marie-Claire Blais: «Drei Nächte, drei Tage». Aus dem Französischen von Nicola Denis. Suhrkamp, Berlin 2020. 391 Seiten, ca. 34 Franken.
Lisa Moore: «Fremde Hochzeit». Erzählungen. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser, München 2020. 304 Seiten, ca. 32 Franken.
Joshua Whitehead: «Jonny Appleseed». Roman. Aus dem Englischen von Andreas Diesel. Albino, Berlin 2020. 256 Seiten, ca. 26 Franken.
Margaret Atwood: «Die Füchsin». Gedichte 1965–1995. Übertragen von Ann Cotten, Ulrike Draesner, Christian Filips, Dagmara Kraus, Kerstin Preiwuss, Elisabeth Plessen, Monika Rinck, Jan Wagner und Alissa Walser. Vorwort von Michael Krüger. Berlin-Verlag, Berlin 2020. 416 Seiten, ca. 52 Franken.