Und was ist heute? Gute Frage. Installation von Rirkrit Tiravanija am Club Berghain in Berlin. Noshe/Studio Berlin/Boros Foundation/Berghain

Es ist eine Kunst, mit der Kunst noch klarzukommen

Die Kunstwelt ist in einer tiefen Identitätskrise. Was sind die Gründe? Was muss geschehen? Ein Rundgang in Berlin und Blicke nach New York, Basel und Zürich.

Von Jörg Heiser, 09.10.2020

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Die Kunst und ich müssen in die Paartherapie. Unsere rund 25-jährige Beziehung hat in letzter Zeit gelitten. Okay, das Bild ist schief, denn die Kunstwelt ist nicht einfach mein Beziehungs­gegenüber, ich selbst bin Teil von ihr. In den Neunziger­jahren begann ich über zeitgenössische Kunst zu schreiben und war knapp zwanzig Jahre lang Redaktor der britischen Zeitschrift «Frieze», heute unterrichte ich in Berlin. Ich habe die Höhen und Tiefen mitgekriegt im Kunst­milieu, wo dem Klischee gemäss die super­reiche Sammlerin in Designer-Heels bei der Aftershow-Party mit dem jungen Hipster­brillen-Künstler plaudert. Und der sondert schon Erfolgssprech ab, während er sich seine WG-Miete noch mit Kellnern finanziert. Die Kunst war schon immer ein Ort, an dem die Wider­sprüche der Gesellschaft auf grelle Weise zugespitzt erscheinen.

Und jetzt? Ich habe um die Therapie­session gebeten, weil die Kunstwelt in letzter Zeit zunehmend unzuverlässig und gespalten ist. Wie in vielen anderen Bereichen wirkt die Corona-Pandemie dort, wo es bereits vorher brodelte, wie ein – hier das Wort Ihrer Wahl einsetzen: Brennglas, Lack­mustest, Katalysator, Brand­beschleuniger.

Als ich im September 2020 durch Berlin zog und die zahlreichen Ereignisse und Ausstellungen der Berlin Art Week besuchte – gemeinsam mit der simultan startenden Berlin-Biennale der weltweit grösste Kunst-Event seit Beginn der Covid-19-Pandemie –, fühlte sich alles fast normal an. Und doch sehe ich die Anzeichen für die Krise: Einerseits wird der Ruf nach Solidarität laut, andererseits stattet sich so manch einer mit dem Geschäfts­gebaren «disruptiver» Silicon-Valley-Unternehmer oder Wallstreet-Händler aus. Finanz­kapitalistisches Ratten­rennen? Oder das Heil in staatlicher Hilfe suchen? Beim gleichen Staat, dem man beispiels­weise vorwirft, seine Kolonial­vergangenheit zu ignorieren? Beziehungsstatus: Es ist kompliziert.

Ein Atlas für die Gegenwart

Man kann der zeitgenössischen Kunst auch den Puls fühlen, indem man erst einmal an einen ihrer Gründungs­momente zurückkehrt. Gemeint ist nicht Duchamp, Pollock oder Warhol. Sondern Aby Warburg.

Im Haus der Kulturen der Welt wird aktuell sein berühmter Bilderatlas «Mnemosyne» gezeigt. Benannt nach der griechischen Göttin der Erinnerung, war der Atlas das Manifest einer neuen Art, über Bilder nachzudenken, die der Hamburger Bankiers­sohn in den 1920er-Jahren entwickelt hatte. Er zeigte auf, wie visuelle Signaturen und Posen von der Antike über die Renaissance bis zur Gegenwarts­kultur nach­gezeichnet werden können, und zwar in den Bilder­kompositionen selbst.

Bislang war das Werk immer nur im Faksimile von alten Schwarz-Weiss-Fotos zu sehen. Doch jetzt hat das deutsche Forscherduo Roberto Ohrt und Axel Heil im Archiv des Londoner Warburg-Instituts aus einem Konvolut von über 300’000 nachgelassenen Bildern jene heraus­gefischt, die auf die 63 grossen «Mnemosyne»-Atlas-Tafeln gehören – eine gigantische Puzzlearbeit.

Nun sind die vergilbten Original-Zeitungs­ausschnitte und Paper-Clips ebenso zu sehen wie alte Bildtafeln aus edlen Kunst­bänden. Man hat den Flash des erstmals rekonstruierten Originals. Und wird neugierig auf die Details: die grandiose assoziative Konstellation etwa, die Warburg zwischen den Berechnungen Johannes Keplers zur elliptischen Mars-Umlaufbahn und dem Luftschiff «Graf Zeppelin» entstehen lässt, das als gebaute Ellipse 1929 die Erde umrundete, gesponsort vom Zeitungs­mogul William Randolph Hearst. Oder die Tafel­folge, auf der Warburg die Bedeutung der islamischen Gelehrten des Mittel­alters für die Entstehung der italienischen und nordeuropäischen Renaissance anschaulich und fassbar macht.

Gründungsmoment der zeitgenössischen Kunst. Aby Warburg: Bilderatlas «Mnemosyne», Tafel 77. Wotton/The Warburg Institute, London
Aby Warburg: «Mnemosyne», Tafel 47. Wotton/The Warburg Institute, London

Was hat das alles mit der heutigen Kunstwelt zu tun? Je länger man drüber nachdenkt, umso mehr. Erstens: Das Prinzip Bildatlas und Bilder-Gegen­überstellung ist eine wichtige Technik der zeitgenössischen Kunst geworden, von Gerhard Richters «Atlas» über den künstlerischen Essayfilm à la Harun Farocki und Hito Steyerl bis hin zur Post-Internet-Kunst der letzten Jahre.

Zweitens macht Warburg das Aufstöbern vergessener oder verdrängter Verbindungs­linien zum Zentrum seines Nach­denkens über Bilder. Man muss unmittelbar an die Debatten über Museums­sammlungen denken, an die Frage, ob Ausstellungs­institutionen mit ihrer Feier des Europäischen und der «Kulturen der Welt» nicht bis heute immer wieder – in uneingestanden imperialem, (neo-)kolonialem Geist – Hierarchien und Verengungen produzieren, wo Warburg längst Gleichwertigkeit und Erweiterung sah.

Ein dritter Grund für Warburgs anhaltende Bedeutung ist sein privates Engagement. Er wuchs in einem konservativen jüdischen Eltern­haus in Hamburg auf; er war das erste von sieben Kindern des Leiters der Warburg-Bank. Vier seiner Brüder wurden Bankiers – er nicht. Als dreizehn­jähriger Bücherwurm, so die berühmte Anekdote, bot er seinem ein Jahr jüngeren Bruder Max das Erstgeborenen­recht und die Nachfolge des Vaters an, wenn er ihm im Gegenzug ein Leben lang alle Bücher finanziere. In der Tat ermöglichte dieser Deal seine Forschung und war die materielle Basis der Kultur­wissenschaftlichen Bibliothek Warburg, die 1933, vier Jahre nach dem Tod ihres Gründers, eilig ins Londoner Exil geschafft werden musste. Heute ist das Warburg Institute der University of London angegliedert.

Warburg entwickelte beinahe im Allein­gang einen ganzen Strang der modernen Kunst­wissenschaft, die Ikonografie. Doch in Deutschland war er bis in die 1980er-Jahre hinein beinahe vergessen. Das zeigt die Schönheit und zugleich die Verletzlichkeit privaten kulturellen und wissenschaftlichen Engagements. Ohne das Geld der Bankiers­familie wäre diese Forschungs­arbeit eines Privat­gelehrten in ihrer Intensität und unorthodoxen Methodik nie denkbar gewesen; und ohne das Geld privater Londoner Spender hätte die Bibliothek nicht vor den Nazis gerettet werden können.

Aber dies darf eine Gesellschaft nicht aus der Verantwortung entlassen. Zwar kann sie nicht zulassen, dass privates Engagement abgewürgt wird; aber sie darf sich auch nicht auf ebendieses verlassen – weder finanziell noch kulturell.

Art Week in Berlin

Auch im Berlin des September 2020 spürt man, dass diese Balance immer wieder neu verhandelt werden muss. Private Sammlungen und Stiftungen spielen eine nicht unerhebliche Rolle.

Der Konzeptkünstler Christian Jankowski stellt im Videokunst-Museum Fluentum aus, der Gründung des Software-Unternehmers Markus Hannebauer, der seine Digital-Millionen­gewinne vornehmlich in Betongold investiert. Jankowski zeigt eine aktuelle Video­arbeit, in der Protagonistinnen im Corona-Schutzanzug in Fernseh-Livesendungen wie Gespenster hinter Moderatoren und Gästen auftauchen. Er brachte für die Arbeit unter anderem den deutschen Gesundheits­minister Jens Spahn dazu, den inneren Monolog einer Kranken­haus­pflegerin einzusprechen.

Die Pandemie ist allgegenwärtig. Christian Jankowski: «Sender and Receiver», Museum Fluentum. fluentum

In Berlin-Dahlem hat Hannebauer das dortige ehemalige Haupt­quartier der US-Armee – einen unter Denkmal­schutz stehenden, exzentrischen Nazi-Bau, 1936 bis 1938 für die Reichs­luftwaffe erbaut – von den Architekten Sauerbruch Hutton in den Sitz seiner Sammlung und zugleich sein privates Domizil verwandeln lassen. Im beschaulichen Dahlem kratzt das niemanden.

Die Berliner Sammler­familie Haubrok erlebte im Ostberliner Lichten­berg das Gegenteil. Dort hatte sie 2012 die ehemalige Fahr­bereitschaft der DDR – einst der streng geheime Sitz des Fuhrparks der SED-Elite – erworben und zeigte in dem Gebäude ihre zeitgenössische Sammlung. Doch 2018 kam eine SPD-Stadt­rätin und untersagte bei Straf­androhung die Ausstellungs­tätigkeit mit der Begründung, dies stelle eine «Zweck­entfremdung» der Immobilie dar – eine eigen­mächtige Auslegung eines Berliner Gesetzes, das die Stadt­bewohner eigentlich vor Spekulations­willkür und Wohnraum­verlust schützen sollte. Ziemlich klar, dass die Politikerin bei der alteingesessenen Ostberliner Wähler­klientel punkten wollte als Kämpferin gegen Wessi-Gentrifizierung – Axel Haubrok ist gebürtiger Düsseldorfer.

Zur Eröffnung der Art Week haben die Haubroks nun an anderer Stelle, im Vorzeige-DDR-Bau am Strausberger Platz, eine kleine, 50 Quadratmeter grosse Galerie eröffnet. Dort präsentieren sie knochen­trockene Konzept­kunst mit 70er-Jahre-Paraphernalien, die wie ein Kommentar zur heutigen Lage erscheint. Besonders passend ist die legendäre Arbeit des Amerikaners Robert Barry von 1969, die den Titel «Closed Gallery» trägt: Sie besteht aus Einladungs­karten zu drei Ausstellungen in Amsterdam, Turin und Los Angeles, darauf gedruckt der Satz «During the exhibition the gallery will be closed» (für die Dauer der Ausstellung bleibt die Galerie geschlossen). Als wärs ein guter Gegen­zauber gewesen: Wenige Tage nach der Eröffnung hob der Nachfolger besagter Stadträtin, ebenfalls SPD, das Ausstellungs­verbot wieder auf.

Historischer Ort als Ausweichstelle: Das Gelände der ehemaligen Fahrbereitschaft der DDR dient als Galerie … Ludger Paffrath, Berlin 2019
… inklusive Bar, in der sich einst SED-Grössen vergnügten. Ludger Paffrath, Berlin 2019

Das ist in diesen Tagen ein eher seltenes Happy End.

Die Video­sammlung der Düsseldorferin Julia Stoschek hat ihren Standort seit 2016 in Berlin; im Frühjahr 2020, während des Lockdowns, wurde ihr Rückzug angekündigt. Kurz vorher war bekannt geworden, dass Friedrich Christian Flick seine Sammlung aus dem Museum Hamburger Bahnhof abziehen wolle. Derweil verkündete der Wella-Erbe Thomas Olbricht, auch er werde sein Privat­museum in Berlin-Mitte dichtmachen.

Ist die Politik schuld an diesem Trend? Der Mietpreis für Stoscheks Ausstellungs­haus entpuppte sich als überraschend gering, offenbar fehlt es auch an gefühlter Würdigung durch die Stadt. Das Problem liegt allerdings weniger in fehlender Anerkennung als im Macht­gerangel der Behörden, das leider Anreize schafft, Klientel­politik nicht nach dem Prinzip Ermöglichung, sondern nach dem Prinzip Verhinderung zu betreiben. Egal ob das Motiv dazu in einer berechtigten Skepsis gegenüber Immobilien­haien oder schlicht in einer rustikalen Kunst­feindlichkeit gründet.

Kulturförderung im Berghain

Berlins Kultursenator Klaus Lederer von der Linken wiederum ist ganz bestimmt nicht kunst­feindlich. Er will ermöglichen. Unter seiner Ägide hat die Stadt schnell und unbürokratisch wie kaum eine andere den Kultur­schaffenden in der Corona-Krise finanziell geholfen. Natürlich geschahen dabei auch Fehler, aber im Grossen und Ganzen kann man zufrieden sein; weltweit wurde, verwundert bis neidisch, darüber berichtet. Auch Kultur­staats­ministerin Monika Grütters, von Amts wegen direkt im Kanzleramt unter Merkel angesiedelt, legte ein rund eine Milliarde Euro schweres Hilfs­programm für die Kultur auf. Das sind erfreuliche Signale.

Doch die Präferenz der Förderungen gilt tendenziell immer den sogenannten «Leucht­türmen», obwohl das Kultur­geschehen als Ganzes massgeblich von feingliedrigen, kleinen Initiativen und engagierten, oft sich selbst ausbeutenden Individuen getragen wird. Wenn dann ausgerechnet Lederer kurzfristig 250’000 Euro für ein Ausstellungs­projekt des Sammler­paars Karen und Christian Boros im Berghain locker­macht, weckt das zunächst Argwohn.

Warum geht das auf einmal so einfach und schnell, wenn bekannte Sammler und ein weltberühmter Club gemeinsame Sache machen? Zumal das Konzept sehr dünn klang: irgendwie Kunst und Berlin halt, ziemlich frühe 2000er-mässig, inklusive der Liste der beteiligten Künstler. Und dann kam auch noch die Botschaft, man habe die Ausstellenden mit einem Handgeld von je 150 Euro abgespeist – nicht so elegant.

Dennoch muss man sich nun davor hüten, eine Diskussion um Kultur­förderung aufzumachen, die dem Kultur­senator verbieten will, schnell etwas zuzuschiessen (er hat eigens einen gesonderten Haushalts­topf dafür); oder die fordert, einen solchen Entscheid abhängig zu machen von der öffentlichen Meinung darüber, was zu privat oder zu hoch bemessen sein könnte. Man sollte das eine – nämlich die sorgsam jurierte und abgewogene Förderung von radikalen, engagierten Produktionen – jedenfalls nicht ausspielen gegen das andere: Aktionen mit grosser Ausstrahlung. Beides gehört nun mal zum Stadt­gefüge von Berlin.

So leer kennen selbst langjährige Dauerbesucher den Berliner Kultclub Berghain nicht: Soundinstallation von Sam Auinger und Hannes Strobl. Stefanie Loos/afp/Getty Images

Bei aller Genervtheit über den touristischen Mythos Berlin und den Party­mythos Berghain, man sollte schon genauer hinschauen. Es ist bekannt, dass der Club vor Corona gross, dunkel, laut war – ein einziger Rausch exklusiver Top-DJs und queerer Darkrooms. Wie er aber in der leer gefegten, nur mit Kunst und nicht mit Club­besuchern gefüllten Tageslicht-Variante aussieht, offenbart die Industrie­architektur im ehemaligen Heiz­kraftwerk erst jetzt: brutal gross und brutal schön, in den Dimensionen – 20 Meter Deckenhöhe – erhaben und dennoch menschlich.

All das ist natürlich auf die Bedürfnisse einer lust- und rausch­freudigen Subkultur kalibriert, ablesbar in wunderbaren Details wie den zwar abgewetzten, aber robusten Tresen­oberflächen aus Gummi in der Panorama-Bar. 2018 liess sich die örtliche AfD-Fraktion schon mal zu missglückten parlamentarischen Anträgen hinreissen, in denen mit Zitaten wie «Sexuelle Handlungen sind durch entsprechende Beleuchtung und Personal zu unterbinden» der Entzug der Clublizenz gefordert wurde. Und welche nach allgemeinem Gelächter wieder zurück­gezogen wurden.

Die Ausstellung enthält jedenfalls neben einer Reihe von Werken, die eher zufällig hierher­geraten scheinen, auch einige, die sich kongenial auf den Ort einlassen. Simon Fujiwara hat die Bar neben der Haupt­tanzfläche in eine Art surreale Syphilis-Piratenbar verwandelt – und rekurriert damit auf eine aktuelle Entwicklung. Weil die neuen Möglichkeiten der Behandlung von Aids auch sogenannte Prep-Pillen umfassen, die gegen eine HIV-Ansteckung schützen, ist Safer Sex auf dem Rückzug und bringt alte Bekannte wie die Syphilis wieder nach Berlin zurück. Nach eigener Aussage erwischte es 2019 auch den Künstler, inklusive syphilis­bedingter Halluzinationen.

Diese Ruhe, diese Kultur: Das Berghain in Corona-Zeiten. Stefanie Loos/afp/Getty Images

Gleich hinter der Bar geht es in die Toiletten mit den robusten Stahl­türen. Dort hat Cyprien Gaillard an leicht zu übersehender Stelle von einem Graveur eine kleine Szene nach Bruegel einritzen lassen: das berühmte Schlaraffen­land der Völlenden. Im Englischen heisst es The Land of Cockaigne, ein Wort, das natürlich Assoziationen weckt, die wiederum zum Berghain-Klo passen. Schön, dass diese meisterliche Miniatur nun auch in Nach-Corona-Zeiten hier bleiben wird. Raphaela Vogel schliesslich hat beim Abverkauf eines Vergnügungs­parks die Miniatur­modelle berühmter Gebäude ergattert; von der Dresdner Frauenkirche über den Pariser Arc de Triomphe bis zur Londoner Tower Bridge bilden sie nun einen Kreis (etwas abseits: die Berliner Sieges­säule), inmitten dessen die Künstlerin im Fischaugen­video durch die Gegend stapft – und so herrlich die touristische Funktion des Ausstellungs­orts für die Stadt persifliert.

Letztlich lässt sich gegen das Berghain allgemein und das Boros-Projekt im Besonderen sagen, was man will: In jedem Fall ist es harmlos gegen das, was andernorts in der Welt an Schind­luder getrieben wird. Ein eindrückliches Beispiel: The Shed in New York.

New York: Es reicht!

Die im Frühjahr 2019 eröffnete Spielstätte für zeitgenössische Musik und Performance­kunst – Baukosten rund eine halbe Milliarde Dollar – ist Teil eines riesigen 25-Milliarden-Bauprojekts namens Hudson Yards. Nicht weniger als 6 Milliarden Dollar Steuer­vorteile und andere Hilfe­stellungen wie die Verlängerung einer U-Bahn-Linie waren den Investoren des Komplexes vonseiten der Stadtregierung zugute­gekommen – damit sie Penthouse-Apartments ab 32 Millionen Dollar aufwärts verkaufen und für eine kleine Single-Wohnung 5200 Dollar Monats­miete einstreichen können.

Die Befürworter des Ganzen argumentieren, dass so auch Jobs und Steuer­einnahmen entstehen. Die Gegnerinnen sagen, dass die Schere zwischen Arm und Reich nun noch weiter auseinander­gehe, weil ein ganzer Stadtteil zum segregierten – und viele sagen: hässlichen – Luxus­komplex wird. In der Tat kann man sich nur wünschen, dass «mehr Jobs» nicht ständig auf Kosten der Idee des städtischen Gemein­wohls geht.

Der «New Yorker» schrieb, Hudson Yards sei, «wie in New York zunehmend üblich, ein privater Raum, der sich als öffentlicher maskiert». Und diese Maske heisst The Shed, verziert und geschmückt mit einer Rhetorik von Diversität, Zugänglichkeit und sozialem Wandel. Doch während man Fassaden aufrecht­erhält, tut man de facto das Gegenteil: Privilegien zementieren, sich abschotten. Den Stadt­bewohnerinnen entgeht das natürlich nicht. Gerade unter Trump und nun den Bedingungen einer Pandemie, die allein New York City schon über 23’000 Tote gekostet hat, wächst die Wut über das Weiter-so an den Schalt­hebeln der Macht. Die Museen waren monatelang geschlossen, aber The Shed soll Mitte Oktober wieder eröffnen. Das hielt die kritischen Stimmen aus der Kunstwelt nicht davon ab, weiter Fragen zu stellen.

Maskierter Luxuskomplex: The Shed in New York. Am rechten Bildrand ist die begehbare Skulptur «Vessel» von Thomas Heatherwick zu sehen. David «Dee» Delgado/Bloomberg/Getty Images

Ein Shitstorm folgt auf den anderen, die Serie reisst nicht ab. Der erste Höhepunkt stammt noch vom Juli 2019, als eine Reihe von Protesten zum Rückzug von Warren Kanders führte, dem Vizevorsitzenden des Beirats des Whitney-Museums. Hauptgrund war, dass Kanders Eigner einer Firma mit dem abstossenden Namen «Safariland» ist, die Polizei­ausrüstung und beispielsweise auch Tränengas­kanister herstellt, mit denen Asylsuchende an der Grenze zu Mexiko beschossen wurden. Kanders trat zurück, nicht ohne sich als Opfer einer Schmutz­kampagne dargestellt zu haben. Ein knappes Jahr später allerdings, im Juni 2020, kündigte Kanders an, Safariland ziehe sich gänzlich aus dem Tränengas­geschäft zurück – Produkte der Waffen­schmiede wurden zu dem Zeitpunkt gerade fleissig gegen Black-Lives-Matter-Demonstrierende eingesetzt.

Nächster Shitstorm: das Guggenheim Museum. Chaédria LaBouvier war die erste afroamerikanische Kuratorin, die 2019 in dem weltberühmten Museum am Central Park eine viel beachtete Ausstellung mit Werken Jean-Michel Basquiats ausrichten konnte. Sie hatte jahrelang intensiv recherchiert und einen bis dahin ignorierten Strang im Werk des früh verstorbenen Malers heraus­gearbeitet, in dem er die Polizei­brutalität gegen junge Schwarze thematisiert.

Im November 2019 dann organisierte Chefkuratorin Nancy Spector eine Podiums­diskussion zur Ausstellung – und lud ausgerechnet LaBouvier nicht dazu ein. Aus geleakten internen Dokumenten ging später hervor, dass Spector LaBouvier für eine irrationale Person hält und ein Entgleisen der Veranstaltung fürchtete. Im Juni schrieb ein Viertel der Belegschaft sowie zahlreiche Ehemalige einen offenen Brief, in dem eine Kultur der Angst und des strukturellen Rassismus am Guggenheim beschrieben wird. Der Brief blieb unbeantwortet. Vor ein paar Wochen dann erneut ein offener Brief, in dem als Konsequenz der Rücktritt der Führungs­riege des Museums gefordert wird.

Alles nur Cancel-Culture im Zuge von Black Lives Matter? Ein Sturm, der vorübergeht? Eher ein Gefühl von: Es reicht. Genug mit einer Kultur, in der Macht am Arbeits­platz sich mit dem sozialen Status verknüpft.

Oder auch: Es reicht nicht. Es reicht nicht mehr, sich mit Lippen­bekenntnissen zu positionieren. Im Juni musste Max Hollein, der neue Direktor des gleich gegenüber vom Guggenheim gelegenen Metropolitan Museum, sich beim Maler Glenn Ligon entschuldigen. Das Museum hatte dessen Arbeiten in den Wochen nach dem Tod George Floyds ohne Absprache für wenig mehr als symbolische Bekenntnisse zu Black Lives Matter benutzt. Ligon schrieb daraufhin auf seinem Instagram-Profil: «I know it’s #nationalreachouttoblackfolksweek but could y’all just stop, or ask me first?» (Ich weiss ja, dass gerade #nationaleSympathiewochefürSchwarze ist, aber könnt ihr einfach damit aufhören, oder mich erst fragen?).

Aber nicht nur in den USA stellt man sich zunehmend die Frage nach dem Widerspruch zwischen Wasser predigen und Wein saufen. Die Tate Modern in London war ebenfalls munter dabei, sich als Institution in Solidarität mit Black Lives Matter zu sonnen – nur um dann im August anzukündigen, dass sie über 300 Jobs vor allem im Service­bereich abbauen will, wo der Anteil an BAME (Black, Asian and Minority Ethnic) – wie man in England sagt – besonders hoch ist. Jetzt wird gestreikt und protestiert. Bisher ohne Erfolg.

Corporate Culture im Kulturbetrieb

Und auch im deutsch­sprachigen Raum braucht man sich nicht bequem zurück­zulehnen. Auch hier hat sich in den letzten Jahren eine bestimmte Art von Corporate Culture etabliert, eine Korporatisierung kultureller Institutionen, die sich auf ungute Art mit Diskriminierung verknüpfen und potenzieren kann. Wenn ein business model dominiert, in dem das oberste Gebot die effiziente Steigerung von Zahlen beziehungs­weise die Härte gegenüber dem vermeintlich Ineffizienten ist, dann wird es sehr wahrscheinlich, dass sich gesellschaftliche Unrechts­verhältnisse beinahe zwangsläufig reproduzieren. Beispielsweise, dass zu einem Team nur Kinder aus wohlhabenden Familien stossen, weil das Praktikum schlecht oder gar nicht bezahlt ist. Oder dass Kultur­vermittler, die wie beispielsweise ich selber aus vergleichs­weise privilegierten Verhältnissen stammen, sich dennoch als Menschen sehen, die ihre Jobs ausschliesslich ihrer eigenen Leistung verdanken – die grosse Illusion der Meritokratie. Wenn dann noch der sogenannte credentialism überhandnimmt – übertriebene Bevorzugung aufgrund formaler Referenzen wie Abschlüssen von Eliteschulen –, wird der Laden endgültig zur selbst­reproduzierenden Blase.

Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um die persönliche Einstellung, auch wenn Alltags­diskriminierungen in Worten und Taten natürlich der Korporatisierung noch die Krone aufsetzen. Es geht darum, zu erkennen, dass nicht jedwede Form von Kultur­arbeit und Mäzenaten­tum unter allen Bedingungen gerechtfertigt ist.

Umso nachdenklicher stimmt es, wenn die Art Basel ausgerechnet den Spross des Rupert-Murdoch-Medienclans als Grossinvestor ins Boot holt. Gewiss, James Murdoch hat sich von Fox News verabschiedet, weil er die Pro-Trump-Linie des Senders nicht mehr mittragen wollte. Er gilt als Liberaler. Aber reicht das? Ist in die Kultur der Korporatisierung tendenziell nicht eingeschrieben, dass soziale Verantwortung als reine Imagefrage, als Signal nach aussen verstanden wird – nicht als ethische Grundhaltung?

Was am Beispiel Murdoch ebenfalls auffällt: Eigentlich eher kunstfremde Unternehmer – auch wenn sie hie und da ein wenig gesammelt haben – werden ins Boot, ja in den Steuerstand geholt. Die Art Basel folgt da exakt dem Beispiel der Kunst­messe Frieze in London, New York und Los Angeles, die anteilig vom Entertainment-Konzern Endeavour übernommen wurde und nun einen CEO hat, der – ähnlich wie Murdoch – als Verleger britischer Tabloids sein Geld verdient hat.

Die Zürcher Megagalerie Hauser & Wirth wiederum hat nun Ewan Venters abgeworben, den bisherigen Chef des Londoner Luxus-Kaufhauses Fortnum & Mason – bekannt für seine edlen Tees und traditionellen Accessoires. Venters wird der erste globale CEO der weltweit operierenden Galerie. Kunst-Corporations wie Hauser & Wirth, die jüngst in Los Angeles, in Schottland und im Engadin auch mit Edeladressen ins Restaurant- und Hotel­gewerbe eingestiegen sind, werden zu Merchandise- und Service-Dienstleistern im obersten Luxus­segment. Das «Handelsblatt» bezeichnet die Firma als «Lifestyle-Imperium».

Und die Kunst? Man hat das schleichende Gefühl, dass sie auf der Strecke bleibt, nur mehr eine Art Glanz­faktor in der Unter­nehmens­strategie darstellt, Teil eines Portfolios von hochpreisigen Wellnessangeboten.

Die Pandemie hat also auch die Korporatisierung der grossen, weltweit operierenden Kunst­messen und Galerien befeuert.

Unter Freunden?

Ein Zeichen dafür ist nicht zuletzt, dass die Galerien teilweise nun selbst die Funktion von Messen übernommen haben, da Letztere als Präsenz­veranstaltung ausfallen müssen. «Ich bin nicht so begeistert von vielen Initiativen der Gross­galerien wie Hauser & Wirth oder David Zwirner, die auf ihren Websites kleinere Messen oder Kollegen hosten, aber damit auch deren Daten einsammeln.» So liess sich kürzlich die Berliner Galeristin Esther Schipper in der «Süddeutschen Zeitung» vernehmen. Die Entwicklung, welche die Gross­galerien den Kleinen in den letzten Jahren zunehmend das Wasser abgraben liess – indem sie beispiels­weise erfolgreiche Künstler abwarben –, wird sich womöglich noch beschleunigen. Und zwar ausgerechnet mit Strategien, die man für grosszügige Gesten der Solidarität halten könnte.

Womit wir wieder in Berlin sind. Die Galerie Johann König hat ihr Domizil im imposanten brutalistischen Betonbau einer ehemaligen katholischen Kirche gefunden. Naheliegend also das schöne Wortspiel: «Messe in St. Agnes». Nicht online, sondern in den Räumen der Galerie wurden zum Berliner Kunst-September Werke in enger Hängung gezeigt, ähnlich, wie man es von Messe­ständen gewohnt ist. Genau genommen handelt es sich jedoch nicht um eine Messe, sondern um eine Verkaufs­ausstellung: hauptsächlich Malerei, über 300 Werke von rund 200 Künstlerinnen und Künstlern.

Unheilige Messe: Auch die ehemalige Kirche St. Agnes in Berlin … Roman März
… wird als Galerie genutzt. Staircase_König Galerie

Einer davon war nicht begeistert. Der in Berlin lebende französische Künstler Saâdane Afif hatte seinen Namen in der zur Ankündigung veröffentlichten Künstler­liste entdeckt. In einem offenen Brief fragte er darauf, warum denn König – man kenne sich ja seit den frühen 2000er-Jahren – ihn oder seinen ebenfalls in Berlin ansässigen Galeristen Mehdi Chouakri nicht einfach kontaktiert habe, anstatt die von Dritten gekauften Werke ohne Absprache zu präsentieren. In einem Antwort­brief verteidigte Johann König sein Vorgehen als Teil eines gewöhnlichen Vorgangs, bei dem nach einem open call an Galeristen, Sammler und Künstler eben unter anderem zwei Werke Afifs ausgewählt worden waren, die Privat­sammler angeboten hatten. Die Messe offeriere Werke sowohl vom primary market als auch vom secondary market.

Mit Erstmarkt ist gemeint, dass Galerien Künstler ähnlich repräsentieren und vermarkten wie Verlage ihre Autoren, während sie im Sekundärmarkt – ähnlich wie Auktionshäuser – als reine Zwischen­händler fungieren. Genau das war allerdings aus Afifs Sicht der Knackpunkt: Kein Künstler sieht es gerne, wenn er so demonstrativ in zweiter Hand gehandelt wird, weil er erstens daran nichts mehr mitverdient und weil zweitens der Eindruck entstehen könnte, die Sammler würden seine Werke abstossen. Entsprechend schreibt Afif, dass Königs Vorgehen ihm eher wie petty business (in etwa «kleinliche Geschäfte­macherei») denn wie ein «aufrichtiges Engagement für Künstler» vorkomme. Man kann es auch so beschreiben: Nichts an all dem ist illegal. Aber mit Solidarität mit den Kunst­schaffenden hat es wenig zu tun.

Es geht ums Geschäft: Verkaufsraum der Galerie Johann König in St. Agnes. Roman März

Vor dem Hintergrund der Korporatisierung der grossen Player im Kunst­geschäft könnte man meinen, Kunst müsse wieder mehr auf den Schutz durch die öffentliche Hand setzen, auf staatliche Museen oder städtische Förder­strukturen. Wenn es nur so einfach wäre. In vielen Ländern wie den USA oder Gross­britannien hat sich der Staat in den letzten Jahrzehnten weitgehend aus der Verantwortung zurück­gezogen, sodass die Ausstellungs­häuser massgeblich auf die Unter­stützung von Privat­leuten und Privat­unternehmen angewiesen sind – mit all den Fallstricken, die dies bereithält.

Aufmerken liess vor diesem Hinter­grund, dass Hans Ulrich Obrist – der Schweizer Chefkurator der Londoner Serpentine Galleries – bereits Ende März umfassende staatliche Förderung für die Kunst forderte, und zwar in der Grössen­ordnung des während der Grossen Depression der 1930er-Jahre von US-Präsident Roosevelt aufgelegten Künstler­programms. Über 15’000 Werke wurden damals in staatlichem Auftrag von 3700 Künstlern geschaffen, darunter von späteren Stars wie Mark Rothko oder Jackson Pollock.

Das Problem ist bloss, dass Institutionen wie Obrists Serpentine Galleries die Politik in den vermeintlichen Schön­wetter­zeiten allzu lange aus der Pflicht entlassen, ja geradezu entwöhnt haben. Man war eben zunehmend erfolgreich damit, privates Geld einzuwerben und Milliardäre in die Boards zu berufen – im Fall der Serpentine beispiels­weise hat kein Geringerer als Michael Bloomberg, der schwerreiche Unter­nehmer und ehemalige Bürger­meister von New York, den Vorsitz inne. Umso schwieriger wird es nun, das Ruder wieder herumzureissen.

Besser schrill

Aber machen wir uns keine Illusionen: Viel schlimmer als mangelnde staatliche Hilfe ist die staatliche Unter­drückung. So ist die Berlin-Biennale dieses Jahr nicht zuletzt ein Fanal gegen die politische Verfolgung, der Künstlerinnen weltweit ausgesetzt sind. Kuratiert von einem vierköpfigen latein­amerikanischen Team, lenkt sie den Blick beispiels­weise auf Brasilien. Eine auf Video aufgenommene Aktion des Kollektivs Teatro da Vertigem aus São Paulo zeigt auf eindrückliche Weise die Situation: Am 4. August fahren sie nachts, Schutz­masken tragend, in einer langen Autokolonne rückwärts, von der Avenida Paulista im Finanz­distrikt bis zum grossen Stadt­friedhof, während man über den Soundtrack die durch­geknallte Stimme von Jair Bolsonaro hört. Es ist eine symbolische Beerdigungs­prozession für die vielen Tausenden Toten, die der brasilianische Präsident durch seine rücksichts­lose, die Gefahr von Corona leugnende Politik verursacht hat.

Ebendieser Präsident drückt seine reaktionäre Haltung nicht zuletzt auch durch eine demonstrative Wissenschafts- und Kunst­feindlichkeit aus. Im Januar feuerte er beispiels­weise fünf Museums­direktoren in Rio und ersetzte sie durch politische Günstlinge ohne jede Museums­erfahrung. Förder­programme werden radikal gekürzt oder ganz eingestellt, während sich Bolsonaro-Anhänger ermutigt sehen, Kultur­schaffende herab­zuwürdigen und anzufeinden.

Vor diesem Hintergrund sollte man auch die hiesigen Klagen über die sogenannte linke Cancel-Culture etwas relativieren, bei der es beispiels­weise um ungeschickte Ausladungen von Kabarettistinnen oder Social-Media-Kampagnen gegen Ausstellungen geht, in denen mal wieder fast nur Männer vertreten sind. Ja, hin und wieder mag solche Kritik zu emotional oder schrill ausfallen (die Gegen­kritik übrigens oft auch). Aber wer sich über all dies beschwert und gleichzeitig schweigt zur Cancel-Culture als Privileg kunst­feindlicher Reaktionäre wie Bolsonaro, die die Kultur abwürgen oder wie Erdoğan gleich die Künstler ins Gefängnis stecken, hat vielleicht selbst etwas verschobene Massstäbe.

Das vermeintliche Canceln ist ja oft, wie im beschriebenen Fall des Guggenheim in New York, eine Reaktion darauf, dass jemand im Verborgenen gecancelt worden war. Man sollte es also lieber als das bezeichnen, was es meistens ist: Whistleblowing. Es werden Dinge ausgesprochen, die sonst unausgesprochen geblieben wären. Es werden Missstände als problematisch benannt, offengelegt, kritisiert. Und es werden Konsequenzen gefordert.

Das ist für die, die es betrifft, sehr unangenehm. Aber wir können nicht umhin, uns mit den Ergebnissen jahrelanger struktureller Fehl­entwicklungen auseinander­zusetzen. Die Corporate Culture muss wieder aus den kulturellen Institutionen verschwinden. Sie sind keine Wirtschafts­unternehmen, auch wenn sie die wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen nicht ignorieren können. Und sie haben genug damit zu tun, ihre eigenen Diskriminierungs­strukturen aufzuarbeiten.

Comeback der Kritik

Wer mit der gelegentlichen Schrillheit der Shitstorms ein Problem hat, der sollte auf die gute alte Kunst­kritik setzen. Diese verlor bekanntlich in den letzten Jahrzehnten ein Gutteil ihrer Macht. Zunächst schien es, als hätten die Kuratoren, Galeristinnen, Grosskünstler und Sammlerinnen diese Macht der Einordnung und Beurteilung einfach übernommen. Doch Social Media beendete auch diese Illusion.

Die Kunstkritik muss wieder gestärkt werden, weil ihre Rolle ja gerade darin bestehen könnte, die Shitstorms einzuordnen, die Balance zwischen privat und Staat zu skizzieren, die kritischen Impulse aufzunehmen und zu vertiefen. Kritik sollte kultiviert werden im Sinne einer offenen Debatte, an der alle Tangierten teilnehmen können, ohne ignoriert oder zum Schweigen gebracht zu werden. Eine gute Kunst­kritik macht sich die Mühe, Affekte und Befindlichkeiten nicht zu überhöhen, sondern mit Argumenten zu unter­mauern oder auch zu relativieren. Es sind gerade die Stimmen der vermeintlich immer nur empörten Whistle­blower, die sich der Kultur­technik des «zwanglosen Zwangs des besseren Arguments» wieder zunehmend bedienen, wie es der Philosoph Jürgen Habermas propagiert.

Sag ich das alles nur, weil ich selbst Kunst­kritiker bin? Das wäre dann blosse Lobbyarbeit. Auf der Therapeutencouch.

Aber so ist es nicht. Ich könnte mich als Ü-50-Kritiker, der ein Gehalt als Hochschul­lehrer bezieht, auch einfach in dem Gedanken einrichten, dass bei den Jüngeren eh nichts mehr nachwachse ausser Twitter-Kurzatmigkeit. Mein Eindruck ist jedoch eher, dass eine internationale und diverse Generation von jungen Leuten, ob in Berlin oder in Zürich, Kunst­kritik wieder kultivieren will. Die Kunst muss durch all die beschriebenen Krisen, von denen einige zugleich Identitäts­krisen sind, hindurch. Wir, das Publikum und die Kritik, dürfen sie dabei nicht sich selbst überlassen.

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Jörg Heiser ist Direktor des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste in Berlin. Er war knapp zwanzig Jahre Redaktor der britischen Kunst­zeitschrift «Frieze».

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